Predigtkunst

Einige können sehr gut predigen, andere quälen sich und ihre Zuhörer. Viele Christen, auch viele Katholiken, suchen heute den Gottesdienst, den sie mitfeiern, nach der Qualität der Predigt aus; gar nicht so wenige, die keine Alternative haben, trainieren die Kunst des Weghörens, um geistig zu überleben.

Keine Frage: Die Predigt ist wichtiger geworden. Die Ansprüche steigen. Wie kann man ihnen gerecht werden? Die exegetischen Kommentare, lautet immer wieder die Klage, sind steril. Die Pastoraltheologie ist zu theoretisch. Muss jeder selbst sehen, wie er zurechtkommt?

Genau für diese Aufgabe, Gott ans Licht zu heben in unserer Gesellschaft und in unserer Welt kann meines Erachtens der Ökumenische Kirchentag von Berlin einen wichtigen Beitrag leisten.

An Predigthilfen fehlt es nicht. Zeitschriften liefern die passende Ansprache frei Haus. Wer im Internet die richtige Adresse gefunden hat, kann sich im Stress der Alltagsarbeit schnell bedienen. Reicht das aus? Viele Angebote sind gar nicht so schlecht. Aber was von fremder Feder vorgelesen wird, wirkt meistens seltsam unbeteiligt. Die Hinweise zur Schriftauslegung sind oft auf dem Stand der 70er Jahre. Die Geschichtchen, die zur Aktualisierung dienen, sind meistens verkrampft. Die einen wollen, dass die Prediger mehr von sich selbst zu erkennen geben; die anderen nervt das ständige „Ich“ von der Kanzel. Was macht eine gute Predigt aus? Das spirituelle Erlebnis? Die theologische Richtigkeit? Die persönliche Glaubwürdigkeit? Wie können die guten Prediger besser werden? Und wo können die nicht ganz so guten angstfrei und effektiv an ihren Schwächen arbeiten?

Manchmal hilft ein Blick über den eigenen Gartenzaun. In den meisten katholischen Fakultäten führen die Sparmaßnahmen heute dazu, dass Homiletik (die Predigtlehre) nur durch Lehraufträge unterrichtet wird; dann ist es schwer, Kontinuität zu garantieren. In den Theologenkonvikten und Priesterseminaren hat die Predigtausbildung einen hohen Stellenwert – theoretisch und vor allem auch praktisch. Darauf verweisen der ästhetische Ansatz von Erich Garhammer oder die theologische Grundlegung von Klaus Müller.

Wie sieht es eigentlich auf evangelischer Seite aus? Die Kirchen der Reformation sind doch Kirchen des Wortes. Lehrstühle für Homiletik sind keine Seltenheit. Der Sonntagsgottesdienst in der Evangelischen Kirche ist vielerorts – leider – nur ein Wortgottesdienst ohne Abendmahl (wie in immer mehr priesterlosen Gottesdiensten der katholischen Kirche allerdings auch). Was bedeutet die Predigt heute im evangelischen Gottesdienst? Was geht?

Der Blick in die Literatur zeigt unterschiedliche Trends. Ein Karl Barth setzte – angeblich – ganz auf die Überzeugungskraft des Wortes Gottes, das vom Prediger aus der Schrift aufzuweisen sei, dass es Glaube wecke. Ein Paul Tillich dachte nicht von der Kirche und der Liturgie her, sondern vom einzelnen Menschen, seinem Alltag und seinem Gewissem, den genau kennen muss, wer darauf baut, das rechte Wort am rechten Ort zu finden. Andere setzten ganz auf die Didaktik: Wie können die Hörer abgeholt werden, wo sie sind? Wie können die Schwellen niedriger gelegt, die Tore weiter geöffnet werden, um die Menschen zu erreichen? Heute zeigt die evangelische Homiletik viel mehr Interesse als früher für die Liturgie, für den Gottesdienst-Raum, damit auch für die Rolle, aber auch für die Spiritualität des Predigers bzw. der Predigerin.

Es gibt verschiedene Orte, an denen eine neue Predigtkunst eingeübt wird. Einer der größten findet sich in einer der kleinsten evangelischen Landeskirchen. Das Predigerseminar in Braunschweig (www.predigerseminar-braunschweig.de) leistet sich ein „Atelier Sprache“ (www.atelier-sprache.de). In ihm arbeiten Theologen und Sprecherzieher, Theoretiker und Praktiker, Pfarrer und Schauspieler zusammen. Es wendet sich nicht nur an diejenigen, die dringend Nachhilfe benötigen, sondern auch an die guten, die besser werden wollen. Es bietet workshops für Prediger an, Lesekurs für Pfarrer, Werkstattgespräche mit Künstlern, Politikern, Unternehmern. Es scheut sich nicht, eine „Meisterklasse“ aufzumachen. Es arbeitet eng mit Martin Nicol zusammen, einem Homiletiker aus Erlangen, der in den USA nicht nur neue Methoden zeitgemäßen, bibelnahen, menschenfreundlichen Predigens studiert, sondern auch neue Perspektiven erschlossen hat (Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2002). Eine charakteristische heißt: „von innen predigen“. Das heißt: nicht über den Glauben, sondern im Glauben, nicht über die Kirche, sondern in der Kirche, nicht über das Evangelium, sondern im Evangelium – und nicht in distanzierter Sprechhaltung, sondern mit Leib und Seele. Die Predigt ist keine Zugabe zur Liturgie, sie ist ein Teil von ihr. Was bedeutet das für die Themen und die Einstellungen, die Sprache und die Gestik? Welche Freiheit ist es, frei zu predigen? Muss das ein Wunschtraum bleiben? Oder kann man an dem Ziel arbeiten?

Das „Atelier“ hat internationale Aufmerksamkeit gefunden – und auch eine ganze Reihe von Katholiken sind neugierig geworden. Die Zeit, ein ökumenisches Netzwerk zu knüpfen, ist da. Wer große katholische Prediger gehört hat, Pater Leppich oder Klaus Hemmerle früher oder auch Franz Kamphaus heute, ahnt, dass die Predigtkunst ein Charisma ist, aber auch eine Kunst, die man trainieren und verbessern kann. Ist es nicht Zeit für eine konzertierte Aktion der Homiletiker, der evangelischen und der katholischen, der Theoretiker und der Praktiker? Predigten können gar nicht gut genug sein.

Wilfried Hagemann und Thomas Söding

Aus: Christ in der Gegenwart, 2004

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