Jahresrundbrief 2001

Münster, 1. Februar 2002

Liebe Freunde, Verwandte und Bekannte!

in seinem Beitrag „Das Heilige und das Denken“ (1966) unterscheidet der verstorbene Klaus Hemmerle das fassende vom lassenden Denken. Das fassende Denken greift nach allem, was geschehen ist, und bemächtigt sich seiner, macht es sich sozusagen zu Nutze. Das lassende Denken schaut alles an, was geschehen ist, und lässt es los, gibt es frei an sich selbst und an den Ursprung und freut sich einfach mit. Aus dem lassenden Denken kann sich durch die Begegnung mit dem Ursprung, der ja Gott selber ist, dann das verdankende Denken entwickeln. Dieses nimmt wahr, was Personen und Geschehnisse einem geben, und kommt wie von selbst zum Dank und somit auch zur Begegnung mit dem Heiligen schlechthin, also mit Gott, und mündet ein in die Anrede des Ursprungs, ins Gebet.

So geht es mir am Beginn des neuen Jahres 2002, wenn ich Rückblick halte auf das Jahr 2001. Es meldet sich in mir eine tiefe, ruhige und gelassene Dankbarkeit.

Vor allem möchte ich danken für die ungemein zahlreichen Briefe, ideenreichen Mails und Faxe, die ich speziell zu Weihnachten, aber auch eigentlich das ganze Jahr über lesen durfte. Trotz meiner Aufgabe hier im Priesterseminar und in der Priesterfortbildung, die mich manchmal auch über meine Kräfte einfordert und mir wenig Zeit für familiäre und freundschaftliche Kontakte lässt, ja mir auch eine dieser Aufgabe zugehörige entsprechende Distanz und manchmal auch Einsamkeit abverlangt, haben viele mir Nähe gezeigt und geschenkt. Das tut einfach gut und dafür möchte ich auf diesem Wege ganz herzlich Dank sagen.

Wenn ich auf die Monate des vergangenen Jahres schaue, steht mir vieles vor Augen. Einiges möchte ich besonders erwähnen.

Ein besonderes Erlebnis war für mich die Bischofsweihe von Heinrich Timmerevers im Dom zu Münster am 2. September letzten Jahres. Der 49-jährige bisherige Pfarrer von Visbek im Oldenburger Land wurde am 6. Juli von Papst Johannes Paul II. zum Weihbischof in Münster und von unserem Bischof Dr. Reinhard Lettmann zum Bischöflichen Offizial in Vechta ernannt. Die tiefe, geistliche Atmosphäre im Dom, die besondere Freude, die über diesem Tag lag und die Einfachheit von Heinrich Timmerevers sind mir in tiefer Erinnerung geblieben, auch deswegen, weil Heinrich mir durch unsere 20-jährige Gemeinschaft im Fokolar wirklich ein Bruder geworden ist. Seitdem ich wieder in Münster lebe, haben wir uns Woche um Woche mittwochs in unserem Priesterfokolar getroffen und untereinander immer neu in Christus unsere Mitte gesucht und gefunden. Als er sich langsam als möglicher und wirklicher Kandidat für das Bischofsamt herausstellte und gleichzeitig auch mein Name in der Öffentlichkeit gehandelt wurde, haben wir beide in aller Schlichtheit miteinander im Fokolar gelebt, unsere Sorgen und Nöte, unsere Freude und Erfahrungen ausgetauscht; dabei habe ich eine besonders intensive Nähe Gottes erfahren dürfen, wie sie mir nicht immer geschenkt ist. Es war für mich ganz wichtig, Heinrich Timmerevers in all den neuen Schritten in diese zentrale Verantwortung für die Kirche hinein zu unterstützen und dafür auch Zeit zu investieren.

Im Priesterseminar von Münster durfte ich eine ganze Reihe von Ereignissen und Begegnungen erleben, die mich Gott gegenüber einfach dankbar sein lassen. Ich durfte Menschen begegnen, die trotz allen säkularen Gegenwinds, den die Kirche heute erfährt, sich gerade dieser Kirche und dem Dienst in ihr verschreiben wollen. Es ist für mich ergreifend, wenn ich Einblick nehmen darf, wie Menschen auch heute geführt werden und sich von Jesus Christus ansprechen lassen. Es ist für sie trotzdem nicht immer leicht, den richtigen Ort für einen Dienst in der Kirche zu finden. Einigen habe ich vom Priestertum abgeraten, anderen geholfen, den Weg in einen Orden zu finden – auch das ist heute noch attraktiv.

Aber, dass ich am 13. Januar diesen Jahres am Fest der Taufe des Herrn 21 Kandidaten dem Bischof zur Diakonenweihe und zur späteren Priesterweihe vorstellen durfte, hätte ich mir vor 6 Jahren, als ich im Priesterseminar meinen Dienst begann, nicht träumen lassen.

Jetzt begleite ich 10 Kandidaten zur Priesterweihe am Pfingstfest dieses Jahres; im letzten Jahr waren es 13, die an Pfingsten geweiht wurden. Es wäre ein abendfüllendes Thema, über die praktischen Erfahrungen und vielen neuen Ideen und Ansätze dieser Diakone und jungen Kapläne zu berichten, die bei allen Belastungen dieses Berufes den Mut haben, gerade heute Menschen zum Glauben zu führen und zum Christsein zu motivieren.

Das erlebe ich bei intensiven Abschlussgesprächen oder Halbzeitgesprächen vor Ort und auch bei der Sichtung der zum Pfarrexamen vorzulegenden Berichte über deren pastorale Projekte. Einige dieser Projekte habe ich ins Internet stellen lassen (www.priesterseminar-muenster.de).

Kirche im Werden, Kirche zum Anfassen, Kirche, die ausstrahlt – das bekam ich hautnah am 8. Dezember im Dom zu München mit. In der Frauenkirche versammelten sich im Beisein von Kardinal Wetter (katholisch) und Landesbischof Friedrich (evangelisch-lutherisch) über 5 000 Christinnen und Christen aus 45 evangelischen und katholischen geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften. Ich traf dort auf Menschen, die auf der Suche nach ökumenischer Gemeinschaft waren und diese gleichzeitig bezeugten. Der Vater, der mit seiner Frau und seinen vier Kindern aufzeigte, wie sie als Familie den Alltag leben und dafür aus dem Lesen der Bibel Orientierung bekommen, gehörte zu den Equipes Notre Dame, einer katholischen aus Frankreich kommenden geistlichen Gemeinschaft für Familien. Eine evangelische Kinderärztin berichtete über den Versöhnungsdienst ihrer in der charismatischen Erneuerung verwurzelten Gruppe in Auschwitz mit Juden und in Oradour-sur-Glane mit Franzosen. Die Hauptrednerin Chiara Lubich, Gründerin und Präsidentin der Fokolarbewegung, entwickelte in 10 Punkten das zentrale Anliegen der Neuevangelisierung von Johannes Paul II. – was gerade die Evangelischen unter den Teilnehmern zu einem langanhaltenden Beifall veranlasste (vgl. auch im Internet: www.miteinander-wie-sonst.de).

Chiara Lubich begegnete ich zu meiner Freude ganz persönlich am 4. Juli 2001 im Wallis/Schweiz. Im Zusammenhang mit ihrem Projekt, die verschiedenen geistlichen Gemeinschaften der katholischen Kirche zusammenzuführen, um gemeinsam die Botschaft Christi den Menschen von heute zu bringen, hatte sie je 10 verantwortliche Priester der Schönstattbewegung und der Fokolarbewegung aus sieben Ländern und drei Kontinenten, darunter auch mich, zu einem Austausch und zu einer Begegnung in die Schweiz eingeladen. Es waren für mich die bewegendsten Tage des vergangenen Jahres, weil ein Einblick möglich wurde in ein für die heutige Kirche noch nicht adäquat erschlossenes Reformpotential.

In ähnlicher Weise berührte mich drei Monate später in Rom die Seligsprechung der aus dem Bistum Münster stammenden und 1955 im Alter von 41 Jahren verstorbenen Clemensschwester Maria Euthymia, an der ich mit über 3 000 Pilgern aus unserem Bistum teilnehmen durfte. Das Leben dieser einfachen Schwester unter französischen Kriegsgefangenen, die sie gepflegt hatte, und im Waschhaus der Raphaelsklinik zeigt mir, welche Kraft und welches Zeugnis für das Evangelium das Ordensleben auch heute hat. Die Feier auf dem Petersplatz, unter einer unglaublich kräftigen Oktobersonne, hat mich einfach mitgerissen. Dazu trug auch der Papst bei, der trotz seiner körperlichen Gebrechlichkeit in großer geistiger Frische der Liturgie vorstand und das Herz aller tief berührte.

Als ich dann hörte, dass unser Bischof Reinhard kurz nach Neujahr den Papst besuchen sollte, fragte ich den Bischof, ob er nicht mein Buch über Klaus Hemmerle dem Papst mitbringen könne. Tatsächlich, Bischof Reinhard überreichte die italienische Version der von Wolfgang Bader und mir erstellten Biografie über Klaus Hemmerle dem Papst und brachte mir persönliche Grüße des Papstes mit. Er berichtete mir auch, wie sehr der Papst Klaus Hemmerle, dessen allzu frühen Tod er bedauerte, und dessen geistliche Verbindung mit Chiara Lubich schätzte.

Einen besonderen Charakter hatte der Jahresurlaub im August. Mit 6 Fokolarfreunden, darunter Bischof Dr. Reinhard Pünder aus Coroata/Brasilien machte ich eine Fastenkur nach Mayr in Hindelang in der Allgäu-Clinik. Wir hatten jeder einen unterschiedlichen Kur-Rhythmus, aber wir kamen abends nach dem Tee zu einer kleinen Meditation mit anschließender Eucharistiefeier zusammen und konnten erleben, wie dieses einfache Miteinander in die Klinik ausstrahlte und gerade auch bei Personen aus den neuen Bundesländern echtes religiöses Interesse weckte.

Im Oktober konnte ich meinen Weihejahrgang 1963 im Rahmen der Priesterfortbildung unseres Bistums zu einer Studienwoche nach Erfurt begleiten. Fünf Professoren der dortigen Theologischen Fakultät redeten von ihrer jeweiligen Disziplin her (Philosophie, Kirchengeschichte, Fundamentaltheologie, Pastoraltheologie, Dogmatik) zum gleichen Thema: „Wie kann im Kontext einer religiös indifferenten Gesellschaft die Kirche heute das Evangelium Christi verkündigen?“ Den tiefsten Eindruck machte auf uns die Begegnung mit der 77-jährigen Äbtissin des Zisterzienserinnenklosters Helfta bei Eisleben, Schwester Assumpta Schenkel O.Cist. Hier in Helfta führen inzwischen 14 Ordensschwestern die Tradition einer Gertrud von Helfta, Mechthild von Magdeburg und Gertrud von Hackeborn (alle drei lebten in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts) fort.

Von Erfurt fuhr ich weiter nach Schönstatt bei Koblenz, wo ich etwa 700 Delegierten der Schönstattbewegung aus Deutschland in deren „Oktoberwoche“ über wichtige aktuelle Schwerpunkte der Fokolarbewegung im Rahmen einer Eucharistiefeier berichten durfte. Die Fröhlichkeit, Einfachheit und Tiefe dieser international gemischten Teilnehmerinnen und Teilnehmer hat mich sehr bereichert. Ein Bericht darüber ist auch im Internet erschienen: www.kath.de/Schoenstatt; wer auf dieser Seite das Archiv 2001 aufschlägt, auf den 20. Oktober 2001 geht, kann dort unter dem Stichwort Begegnung der Bewegungen meinen Beitrag anklicken.

Der 60. Geburtstag meiner Schwester Hildegard, den sie Anfang Januar feierte, war ein besonderes Fest. Ins „Hotel Am Meer“ in Bad Zwischenahn, wo unser Vater gern mal ein Wochenende verbrachte, hatte Hildegard alle Geschwister und deren Kinder samt „Anhang“ sowie die noch lebenden Onkel und Tanten, die Angestellten der Engel-Apotheke sowie den Pfarrer Franz-Josef Hachmöller, die Pastoralreferentin Christa Enk und die Ordensschwestern und auch einige Jugendfreunde eingeladen. Nach der Eucharistiefeier in der benachbarten katholischen Diasporakirche St. Marien feierten wir bei gutem Essen und genossen auch den Zauberer und die Flamenco-Tanzgruppe einer Wilhelmshavener Grundschule. Es war schön zu sehen, mit wie vielen Menschen Hildegard als alleinstehende Frau beruflich, privat und kirchlich in Verbindung steht.

Kehren wir zurück ins Priesterseminar. Gerade haben wir die Ausstellung „Stufen – Wege – Labyrinthe“ mit Egbert Verbeek/Bonn eröffnet. Ölgemälde, Lithographien und Bronzeplastiken schmücken das Erdgeschoss. Wer Zeit hat, kann bis zum 12. März einen Blick in diese Ausstellung wagen. Mich freute besonders, dass ich Egbert Verbeek, dem ich vor 25 Jahren zum ersten Mal in Stapelfeld/Cloppenburg begegnete, als wir ihm in der Kardinal-von-Galen-Akademie für ein Jahr ein Atelier für das von ihm zu malende fünfteilige Altarbild der Hauskapelle einrichteten, jetzt mit einer Ausstellung bei uns im Priesterseminar aufnehmen durfte.

Noch ist es möglich, Ausstellungen durchzuführen. Denn der schon wesentlich früher geplante Umzug des Priesterseminars ins Collegium Borromaeum auf der anderen Seite der Aa am Domplatz verzögert sich und ist nun auf den 1. September 2003, also später, terminiert. Wir proben jetzt schon die Zusammenarbeit in der gemeinsamen Hausmeisterei und Hauswirtschaftsleitung. Auch wenn es zur Zeit einen Wechsel beim Subregens gibt – der jetzige, Dr. Stefan Rau, ist gerade Pfarrer in Münster St. Joseph, Hammer Straße, geworden, der neue Subregens kommt erst im Herbst – bleibt es doch bei der Drei-Zahl der verantwortlichen Priester: Spiritual Dr. Paul Deselaers, Subregens Rafael van Straelen, Regens.

Wir leben als Kirche und Gesellschaft in einer sehr bewegten Zeit. Es ist heute sehr wichtig, sich weiterzubilden, um am Puls der Zeit zu sein. Darum stelle ich in den Anhang dieses Briefes einige Bücher, die mich in letzter Zeit besonders angesprochen haben. Wem es eine Hilfe ist, biete ich an, die Bücher zu bestellen und zuzuschicken. Dann soll man einfach auf der Seite des Anhangs das entsprechende Buch ankreuzen. Einige Bücher kann ich auch als Autor kostengünstiger vermitteln.

Ich wünsche allen, die diesen Brief lesen von Herzen Gottes Segen und gute Gesundheit. Bleiben wir weiter miteinander verbunden.

Wilfried Hagemann

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