Editorial 1_2012

Sucht der Stadt Bestes (Jer 29,7)

Der Aufbruch vieler am Evangelium orientierten neuen geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften zueinander – inzwischen sind es über 300 aus dem Raum der evangelischen, orthodoxen, anglikanischen und katholischen Kirche – konkretisierte sich dieses Jahr in einer europaweiten Aktion unter dem Titel „Miteinander für Europa“. Per Internet-Schaltung waren über 150 Städte in Europa mit Brüssel verbunden. Hierbei gaben Christinnen und Christen vor Ort ihren Beitrag für das Wohl der Menschen in ihrer jeweiligen Stadt. Das vorliegende PRISMA-Heft inspiriert sich daran.

Ein Meditationstext von Chiara Lubich lässt erahnen, welche Kraft Menschen aus dem Evangelium schöpfen können, wenn sie ihrer Stadt bis auf den Grund dienen wollen. In diesem Text schimmert die bis heute bestehende Faszination der Urkirche für das Projekt Stadt durch. Dort bietet sich Christen die Chance, allen, besonders den Armen, nahe zu sein.

Von Anfang an hatte das Christentum eine besonders ausgeprägte Beziehung zur Stadt, wie Prof. Rolf Decot aufzeigt. Das Evangelium verbreitete sich über die Städte, die im römischen Reich durch gute Kommunikationsnetze reichsweit verbunden waren. Die Christen nahmen in der Stadt, gedrängt vom Evangelium, Aufgaben der Gemeinschaftsbildung, aber auch der Krankenhilfe und Armenbetreuung wahr.

Christian Hennecke zeigt in seinem Beitrag auf, wie eine Kirche, die sich der Realität heutiger Städte stellt, von diesen Städten lernen kann und dadurch über sich selbst hinaus wächst. In den Städten, gerade weil sie heute von einem Nebeneinander unterschiedlichster Kulturen und Religionen und Weltanschauungen geprägt sind, kann der Christ die Zeichen der Zeit erkennen und sie im Licht des Evangeliums deuten. Darum entdeckt eine Kirche, die sich auf die Stadt einlässt, wie von selbst die neue Bedeutung der Ökumene und kann mit Christen der anderen Konfessionen prophetischer Motor notwendiger Veränderung auf Einheit und Integration hin werden.

Der Kölner Architekt Markus Thiel beschreibt eindrücklich die Zukunft der Stadt. Weltweit wachsen Städte zu großen Metropolen an und bilden das, was sich heute als Megalopolis abzeichnet. Er zeigt, dass Stadtplaner echte Impulse für das soziale Zusammenleben der Menschen in der Stadt setzen können, wenn sie sich den spezifischen Herausforderungen einer wachsenden oder auch schrumpfenden Stadt stellen.

Interessant und vielfältig sind die Berichte über christliche Feldversuche in der Stadt. Juliane Bittner, die häufiger für das PRISMA geschrieben hat, nimmt den Leser mit auf einen Streifzug durch den Berliner Stadtteil Neukölln. Sie erzählt vom Ideenreichtum und der Freude, wenn eine ganze Gemeinde sich aufmacht, um Armen und Bedrängten beizustehen; in dem konkreten Fall geschieht dies aus dem Geist der Gemeinschaft von Vincenz Pallotti.

Im Interview, das Bernd Aretz mit dem Kölner Pfarrer Franz Meurer führt, wird beispielhaft erkennbar, welches Potential in einer Mittelschicht-Gemeinde steckt. Wenn es gelingt, die Milieuverengung aufzubrechen und eine Kultur der Solidarität zu entwickeln, kann sich ein ganzer Stadtteil verändern.

Andrea Fleming hat sich in einer Stadt auf Zeit umgeschaut. Sie berichtet von einer originellen Freizeit, die Menschen zusammen führt und sie einüben lässt, wie gemeinsam gelebter Glaube gehen kann. Auf dieses Experiment lassen sich jährlich 60.000 Menschen ein.

Diese am Evangelium orientierte Stadtkultur nimmt Maß an der Neuen Stadt, die in der Offenbarung des Johannes ihre biblischen Wurzeln hat. Wilfried Hagemann beschreibt die Kennzeichen dieser Stadt. Es sind die offenen Tore, die Internationalität der vielen Völker, die in ihr ein- und ausgehen, und die überall durchscheinende Nähe Gottes

Die Schmerztherapeutin Gabriele Müller berichtet über ihre Arbeit mitten im Zentrum der Großstadt Frankfurt. Fast wie bei Google-Earth schaut der Leser auf einen ganz kleinen Punkt in Frankfurt, der sich dann vergrößert und eine kleine Gruppe von Therapeutinnen und Assistentinnen zeigt, die sich den Schmerzen der Menschen von heute widmet. Hier gibt es Heilung, ganzheitliche Heilung. Ein scheinbar beiläufig erwähntes Detail fasziniert besonders: in diesem Zentrum werden die Mitarbeiterinnen am Gewinn beteiligt.

Es ist zu wünschen, dass von diesem Heft ebenso Impulse mit Langzeitwirkung ausgehen, wie wir es zurzeit bei dem Heft Abriss, Umnutzung, Neubau – vom sorgsamen Umgang mit Kirchen (2009/1) erleben. Seine Thematik ist bei der rasanten Entwicklung der Umnutzung von Kirchen gerade in diesen Monaten zu neuer Aktualität gekommen.

Wilfried Hagemann

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