Editorial 2_2016

Barmherzigkeit und Versöhnung

Reicht ein Jahr der BARMHERZIGKEIT aus, wie es Papst Franziskus unter dem Leitwort "Barmherzig wie der Vater" ausgerufen hatte, um die Öffentlichkeit der Welt und auch unserer Gesellschaft aufzurütteln und eine kaum noch erträgliche weltweit zu spürende Haltung ungebremster UNBARMHERZIGKEIT aufzubrechen? Da tut es gut, dass jetzt am Ende des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit ein neues Heft von DAS PRISMA genau unter diesem Thema erscheint. Gerade weil sich das, was Barmherzigkeit meint, bei vielen Zeitgenossen es so schwer hat - man denke nur an die so heftigen Debatten um die Aufnahme der Flüchtlinge -, lohnt es sich, diesem Thema eine neue Aufmerksamkeit zu schenken.

Fundamental ist diesem Zusammenhang das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Vater und seinen beiden Söhnen. Der Exeget Dr. Dr. Philippe Van den Heede arbeitet in seiner exegetischen Studie heraus, wie Jesus Barmherzigkeit, Liebe Gerechtigkeit zusammen sieht. Die verschiedenen Dimensionen des Gleichnisses verweisen auf eine Logik der Barmherzigkeit, die jeden Menschen in seiner „wahren Identität und Würde“ erkennt. Vom ersten Tag seines Pontifikates an hatte das Wort Barmherzigkeit - Misericordia bei Papst Franziskus einen besonderen unverwechselbaren Klang und entwickelte sich sehr schnell zum zentralen Stichwort seines Dienstes als Papst und Seelsorger.

Es ist beeindruckend, wie der Jesuit und Pastoraltheologe Dr. Michael Sievernich/Frankfurt St. Georgen in seinem Beitrag aufzeigt, dass in der „Logik der pastoralen Barmherzigkeit“, wie sie Franziskus denkt und praktiziert, die Kirche zum „Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit“ wird, an dem alle Menschen Verzeihung und Ermutigung erfahren sollten.

Welche Wachstumsstufen ein Mensch durchlaufen kann, wenn er sich in seinem Innern der Haltung der Barmherzigkeit öffnet, beschreibt die Vorsehungsschwester Imelda/Münster im Interview "Heilsame Stille". Die in der Stille der Kontemplation erfahrene heilsame Gegenwart Gottes erschließt einen Weg nach innen zur Versöhnung mit sich selbst und gibt den Raum frei zur Barmherzigkeit. Dass der sakramentale Raum der Barmherzigkeit, das Sakrament der Versöhnung, in den heutigen Gemeinden vielerorts nicht mehr genutzt wird, ja fast unbekannt ist, hängt - so die Studie des Herausgebers zum Thema Beichte - mit einem verschatteten Gottesbild zusammen. Statt die Barmherzigkeit des guten Vaters zu bezeugen und dessen unbegrenzte Liebe, stand die Sorge um zudem sehr eng ausgelegte Gebote Gottes im Vordergrund.

Pater Ludger Schulte, Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte und Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Münster, stellt in seinem Beitrag lapidar fest: „Christentum ist Barmherzigkeit“. Gottes Barmherzigkeit setze den Menschen wieder in die eigene Würde ein, die er von Gott her nie verloren hat, weil Gott treu sei. Schulte bringt Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zusammen. Barmherzigkeit werde dann zu einer Pseudobarmherzigkeit, wenn in ihr nichts mehr zu spüren ist von der Erschütterung vor dem heiligen und gerechten Gott. Bemerkenswert ist sein "Gottesfragebogen".

Es tut dem Heft und dem Thema gut, dass in Dr. Konrad Stauss ein Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie zu Wort kommt. Es gelingt ihm, den psychologischen und theologischen Zusammenhang von Schuld, Vergebung und Barmherzigkeit herauszuarbeiten. Auch er stellt fest, dass Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist Schwäche und Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit ist. Für ihn ist Barmherzigkeit das Göttlichste an Gott und das Vollkommenste des Menschen. Die jesuanische Spielregel der Vergebung und Barmherzigkeit führe zu einer Deeskalation von Konflikten und habe das Potenzial zur Heilung der Verwundungen, die sich Menschen gegenseitig antun.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen jene lebensnahen Beiträge, die aufzeigen, in welche Felder heute Menschen geführt werden, wenn sie die Barmherzigkeit zum Thema ihres Lebens machen. In der konfessionsverbindenden Jesusbruderschaft haben sich Rituale der Versöhnung entwickelt, wie der frühere Leiter Franziskus Joest und sein Nachfolger Michael Lambeck berichten. Das Spektrum reicht vom Miteinander der Lebensstände bis zur Friedensarbeit zwischen Israelis und Palästinensern. Ein Franziskaner, dessen Namen wir nicht veröffentlichen, gibt einen bewegenden Einblick in seine Suche nach Echtheit und Klarheit, die sich erst einstellt, als er sich zur eigenen Schwäche bekennt und von seinen Mitbrüdern barmherzig angenommen wird. Besonders beeindruckend sind die drei Berichte "gelebte Versöhnung".

Ein "Missionar der Barmherzigkeit" erlebt in einem Beichtraum, in dem er regelmäßig Dienst tut, beim Pfortendienst wie er schreibt, dass die "Sünder" seine Lehrmeister der Barmherzigkeit werden. Ein evangelischer Pfarrer beschreibt, was es ihn, auch unterstützt durch seine Frau, kostet, ein barmherziger Vater sein und wie er dies nur werden kann, weil er Gottes Barmherzigkeit kennt. Ein katholischer Pfarrer hingegen wagt sich vor in einen Streit, in den Gemeindemitglieder und Politiker verwickelt sind.

Zum ersten Mal haben wir uns entschieden, drei Buchbesprechungen aufzunehmen, weil diese Werke ihrerseits aufzeigen, wie gelebte Barmherzigkeit neue Lebensräume öffnet.

Barmherzigkeit muss auf der Tagesordnung einer Gesellschaft bleiben, die bisweilen in einem unbarmherzigen Kampf um Gerechtigkeit das wichtigste Ziel verfehlt, die Würde des Menschen zu erhalten und zu stärken, ob er straffällig ist oder nicht, ob Staatsbürger oder "nur" Asylant, ob Politiker oder Banker, ob klein oder groß.

Wilfried Hagemann

zurück