Wie können die Gaben des Geistes in den Einzelnen entdeckt, gefördert und begleitet werden?
Für mich war es ein echtes Erlebnis, am nationalen Kongress der Geistlichen Gemeinschaften in Holland teilzunehmen. Die Größe des Landes hat den Vorteil, dass es zu einem gemeinsamen Hinhören kommt, dass Gemeinden und Bewegungen aufeinander achten und sich fragen, wie sie sich gegenseitig befruchten können. Dies ist mir bei der Themenstellung aufgefallen, die mir aufgegeben wurde: Wie kann ich den Gemeindemitgliedern bewusst machen, dass sie Gaben, eine Berufung und eine Sendung empfangen haben? Wie kann ich sie anregen, ihre Gaben zu entwickeln und ihre Charismen und ihre Spiritualität in den Dienst der Gemeinde zu stellen?
Da wir uns weg entwickeln von den klassischen volkskirchlichen Strukturen und uns zunehmend umgeben sehen von Menschen ohne die bisherige kirchliche Sozialisation – Elternhaus und Schule haben früher den Glauben vermittelt – kommt zu den bisherigen Grunddiensten des Priesters Liturgie, Katechese, Diakonie/Caritas ein vierter hinzu. Er heißt Gemeindeaufbau. Wie kann ich Menschen, die sich von Gott und einem christlichen Lebensstil ansprechen lassen, sammeln zu einer Gemeinde. In diesem Sinne habe ich als Regens „meine“ Seminaristen ausgebildet.
Als Priester müssen wir Gemeinde nicht „machen“. Ich habe im Laufe der letzten Jahre eine neue Gewissheit gewonnen. Gott steht zu seiner Schöpfung und zu den Menschen. Er ergreift immer wieder die Initiative, um mit uns zu sein und uns nicht allein zu lassen mit unserer Not. Ist es nicht sein Geist, der die Menschen weltweit bewogen hat, den Erdbebenopfern von Haiti in so umwerfender Weise beizustehen? Haben nicht die Kumpel in Chile, die über 70 Tage unter Tage eingeschlossen waren, auf Gott ihr Vertrauen gesetzt und wurden nicht enttäuscht? War dies nicht die erstaunlichste Mediengeschichte, die um den Globus ging?
Ich kenne Menschen, die sich auch heute rufen lassen. Ich denke an die vielen Menschen, die sich für ein Volontariat zur Verfügung stellen, als Ärzte ohne Grenzen, als Mitarbeiter im Katastrophenschutz oder im Hospiz.
Und es gibt auch immer mehr Personen, die lebendige Kirche vor Ort sind.
Ich kenne eine Krankenschwester, die spürte, dass sie den Sterbenden nur wirklich helfen kann, wenn sie mit ihnen betet, wie dies eine ihrer Kolleginnen tat. Da sie selbst nicht religiös erzogen worden war, hat sie sich taufen lassen.
Ich erinnere mich an den Tod einer krebskranken Frau, die keine „offizielle Verbindung“ zur Kirche hatte, aber in ihrem Leidens- und Sterbensprozess einen großartigen Glauben bewiesen hat.
Ich denke mit Bewunderung an die Menschen, voran die Frauen, die sich nicht schämen, von Haus zu Haus zu gehen und Geld für die Caritas zu sammeln. Dabei scheuen sie sich nicht Ablehnung zu erfahren oder auch von ihrem Glauben Zeugnis zu geben, wenn sie darauf angesprochen werden.
Pfingsten 1998 wurden zum ersten Mal die Mitglieder der Geistlichen Gemeinschaften nach Rom eingeladen. Unvergesslich ist die Begegnung am Vorabend von Pfingsten auf dem Petersplatz, bei der der Papst den Geistlichen Gemeinschaften und den Orden ihren Platz in der Kirche gezeigt hat. Er unterschied den petrinischen amtlichen und den marianischen charismatischen Aspekt der Kirche, beide unverzichtbar und unableitbar voneinander. Das war ein ganz großer Schritt, der bis heute nachwirkt.
Da helfen die Charismen, also Neuaufbrüche, die der Kirche geschenkt sind. In unserer Zeit sind unerwartet viele neue Gemeinschaften entstanden. Ich darf einige aus meinem deutschen Kontext nennen: Fokolar, Charismatische Erneuerung, Gemeinschaft Emmanuel, Schönstatt, die Schwestern vom Lamm, Katholische Integrierte Gemeinde, die Gemeinschaft von Jerusalem, die Gemeinschaft Jesus Caritas, Sant’Egidio, Fazenda-Gruppen. In Holland kennen Sie sicherlich noch viele andere, die hier ergänzt werden könnten.
Nicht vergessen möchte ich an dieser Stelle die Aufbrüche geistlicher Art in der evangelischen und reformierten Kirche, die im Prozess „Miteinander für Europa“ mit den katholischen Gemeinschaften zusammen arbeiten. Ich denke besonders an die Bruderschaft des Gemeinsamen Lebens in Ottmaring/Augsburg, die zusammen mit dem Fokolar seit 1968 in einer ökumenischen Siedlung einen Raum anbieten, wo Gemeinden und Einzelne sich erneuern können. Ähnliche Impulse gehen weltweit von der Comunauté Taizé aus, die in vielen Gemeinden eine ökumenische Offenheit und Spiritualität bewirken.
Die Charismen stehen im Dienst der Kirche und helfen der Kirche, mehr sie selbst zu werden. So hat es Johannes Paul II. verstanden. So sagt es auch Benedikt XVI.
Mir wird immer klarer: Die Gemeinde kommt von Gott. Er entwickelt sie. Er beruft die Christen. Er weckt die Charismen. Er leitet die Gemeinde. Gott ist ein Gott des Anfangs. Er gewährt immer neue Anfänge. „Im Anfang war das Wort…“ (Joh 1; vgl. Gen 1). Die Begegnung mit dem Gott, der spricht (durch die Bibel, durch die Ereignisse, durch die Schöpfung), legt etwas Neues frei. Die folgenden Beispiele zeigen solche Anfänge.
Ich denke an Frau R. aus Zürich, die auf ihr unerklärliche Weise in ihrem Herzen spürte, dass Gott sie ruft. So ging sie zum Pfarrer ihrer Gemeinde und stellte sich ihm zur Verfügung. So entstand die erste Zelle einer kleinen christlichen Gemeinschaft. Mittlerweile gibt es 6 Gruppen mit 80 Teilnehmern.
Das Ehepaar Z. wurde zum natürlichen Mittelpunkt einer kleinen Gemeinde, die sich spontan an meinem Kurtort im Allgäu gebildet hatte. Immer mehr Menschen waren regelmäßig zum Gottesdienst gekommen, den ich in einer kleinen Schwesterngemeinschaft feierte. Nach meiner Abreise kümmerte sich das Ehepaar um die „neue“ Gemeinde.
Frau W. wollte aus Enttäuschung aus der Kirche austreten. Sie hörte in ihrer Seele jemand sagen: „Geh nicht weg, weine mit mir an meiner Kirche!“ Daraufhin hat diese Ehefrau und Mutter zweier Kinder sich zur Gemeindereferentin ausbilden lassen und „baut“ selbst in vorbildlicher Kooperation mit Pfarrer und Kaplan Gemeinde.
In bestimmten Notsituationen verstehen Menschen wie von selbst, dass sie eine Aufgabe haben und erkennen ihre Sendung. Sie sind keine heroischen Einzelkämpfer, sondern wünschen sich eine tragfähige Beziehung untereinander. Sie suchen im Alltag, ganz nahe an ihrem normalen Leben, einen Raum, in dem sie auftanken und Orientierung finden können. Fast von selbst entwickeln sich „Hauskirchen“, die zunächst keinen Priester brauchen, sondern nur die Bibel. Die Bibel, in der Gottes Wort gespeichert ist, wird ihnen zum „Handbuch“.
Die Kirche hält mit gutem Grund, weil sie eine Verantwortung für alle Menschen spürt, denen sie das Evangelium bringen soll, fest an der parrochialen Struktur. Weil Kirche sich immer dadurch an einem bestimmten Territorium fest macht, ergibt sich, dass die Christen eine Berufung vor Ort, für den Wohnbezirk haben. Es kommt darauf an, Christen zu finden, die bereit sind, sich lokal zu engagieren. Dafür müssen im Bezirk kleine Gemeinschaften gebildet werden, in denen die gemeinsame Berufung zum Christsein gelebt wird und Gaben, die Einzelne einbringen, gepflegt und begleitet werden können.
Diese Urerfahrung von Kirche, der gemäß Mt 18,20 die immer neue Gegenwart des auferstandenen Christus versprochen ist, fängt bei zwei oder drei Menschen an, die sich auf das Abenteuer Gott einlassen.
Chiara Lubich hat schon 1975 von „beweglichen“ Kirchen gesprochen, die sich überall zum Wohl der Menschen „einnisten“ können:
Was mich am meisten beeindruckt hat, wenn ich an Christi Gegenwart denke, ist, dass es für diese nur wenig braucht, es genügen zwei oder drei … und wo Er ist, formt er die Kirche, jenes Werk, für das Er auf die Erde gekommen ist. Und damit hat Er in mir eine unglaubliche Leidenschaft geweckt, Ihm weltweit Tausende, ja Millionen Kirchen zu bauen, die nicht aus Stein gemauert sind, sondern aus zwei oder drei Personen bestehen, die in Seinem Namen geeint sind!(…) Und wird so nicht Jesus inmitten dieser beweglichen Kirchen, die in die ganze Welt gehen können, die Seele der Welt von morgen sein? (Loppiano, 27.11.1975)
Kardinal Stanislav Rylko, verantwortlich für den Päpstlichen Laienrat, hat im Januar 2010 in Rom treffend bemerkt, dass die Kirche einen „neuen Stil der Zusammenarbeit zwischen Priestern und Laien aus den Geistlichen Gemeinschaften“ brauche. Wörtlich sagte er:
Der Priester muss als erster in der Lage sein, die Neuheit dieser „charismatischen Gaben“ zu erkennen und zu interpretieren. Er soll sein Ohr dem leihen, was der Geist heute der Kirche sagt (vgl. Offb 2,8). Auf die Bewegungen soll man nicht schauen wie auf ein „pastorales Problem“, sondern sie als eine große Chance begreifen und als eine wertvolle Quelle der Erneuerung unserer Gemeinden.
Von ihren Dienern erwartet die Kirche Sensibilität, Offenheit und herzliche Zuwendung diesen neuen Realitäten gegenüber, die im Leben so vieler Gemeinden echte Früchte der Umkehr, der Heiligkeit und des missionarischen Geistes getragen haben.
Die Kirche sieht in den Gemeinden einen Schatz, der nicht aufgegeben werden darf. Manchmal erscheinen unsere Gemeinden leblos und passiv. Ich sehe aber in ihnen schlafendes Leben, das geweckt werden will. In ihnen schlummert ein Same, der ein lebendiges Erdreich braucht, um zu keimen und zu blühen.
Warum ist an dieser Stelle die verstärkte Kooperation zwischen Gemeinden und Geistlichen Gemeinschaften so wichtig? Ich habe miterlebt, dass Besuche von Gemeindenmitgliedern auf Veranstaltungen Geistlicher Gemeinschaften große Rückwirkung auf das Gemeindeleben selbst hatten.
Pfarrer G. fuhr regelmäßig mit einem ganzen Bus voller Gemeindemitglieder auf die so genannte Mariapoli, dem Sommertreffen der Fokolare. Dabei entdeckte er, wie „seine Leute“ sich ansprechen ließen und welche Gaben ihnen geschenkt waren. Die Atmosphäre eines solchen Treffens hatte dann die Kraft, die Gemeindemitglieder zu motivieren, sich mehr und mehr in den Dienst des Evangeliums zu stellen und an unterschiedlichen Stellen sich einzubringen.
Pfarrer W. ermöglichte jungen Leuten seiner Gemeinde einen Besuch auf der Fazenda Gut Neuhof bei Berlin. Der Kontakt mit den Rekuperanten aus der Drogenszene und mit deren geistlichem Leben machte die Jugendlichen wach und weckte Sehnsucht nach Kontakt zu Gott und einem Weg mit ihm.
Pfarrer S. lud Jugendliche der Gemeinschaft Emmanuel in seine Pfarrei zu einer Gemeindemission ein. Daraus entwickelten sich Hauskreise von Jugendlichen und Erwachsenen.
Pfarrer L. führte seine Gemeinde auf einer Romfahrt nach Trastevere zum Abendgebet der Gemeinschaft Sant’Egidio. Aus diesem Erstkontakt entwickelten sich einfache soziale Aktivitäten im Umfeld der Pfarrei. Diese waren mit einem regelmäßigen Abendgebet verbunden, das nur von Laien gestaltet wurde.
Schon vor 35 Jahren habe ich mit meiner damaligen Gemeinde, in der ich erst seit sechs Monate tätig war, eine Busfahrt in die 120 Kilometer entfernte Großstadt unternommen, um am Frühjahrstreffen der Fokolar-Bewegung teilzunehmen. Manche Gemeindemitglieder waren noch nie so weit weg gefahren. Mobilität gehörte nicht zu ihrem Lebensstil. Danach entwickelte sich spontan ein Kreis von jungen Familien, die miteinander Kirche leben wollten und sich zu regelmäßigen Bibelgesprächen trafen. Aus diesem Kreis kamen die Katecheten, die Mitglieder des Besuchskreises für die Kranken und die Jugendlichen, die in Eigenregie Kindergruppen entwickelten.
Wenn Pfarrer und Geistliche Gemeinschaften zusammen arbeiten, kommt es zu einer neuen Sammlung der Glaubenden und Suchenden. Dann werden die Gaben der einzelnen Gläubigen in Blick genommen und Ernst genommen. Die Pfarrei entdeckt Personen, die etwas wollen, die sich einbringen und nicht darauf warten, geführt zu werden. Sie sind selbst aktiv. Hier begegnen wir dem Phänomen von Berufung mit ihrer besonderen Dynamik.
Wenn ich als Pfarrer Gaben entdecken will, muss ich ganz bei mir sein und ganz beim andern sein. Es ist wichtig, die andere Person zu lieben und zwar so, dass diese Person zu sich selber findet und spürt, was sie geben möchte und was sie geben kann. Hier ist es wichtig, die Freiheit der andern Person zu achten, ihr nichts vorzuschreiben. Es kann manchmal auch nötig sein, eine hilfsbereite Person vor übertriebener Guthaftigkeit zu schützen.
Wenn jemand „leer“ ist, dann kann die Gabe des anderen zum Vorschein kommen. Leer heißt offen sein, den andern nicht bevormunden, erst recht nicht ihn vereinnahmen oder eigenen Zielen unterordnen. Leer sein kann auch bedeuten, den andern voller Wohlwollen anzuschauen oder zu begleiten und so mitzubekommen, wo die Stärken des andern liegen.
Es kann sein, dass jemand richtig zornig ist, wenn Unrecht geschieht, wenn die Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Ein solcher Zorn macht deutlich, dass die betreffende Person begabt ist mit einem Sinn für Gerechtigkeit, Menschenwürde, Menschenrechte. Dahinter kann ein politisches Charisma stecken. Es kann sein, dass jemand wach ist, wenn Streit entsteht, wenn Zerwürfnisse sich entwickeln, vielleicht sogar eskalieren und dass der Betreffende dann eingreift.
Mein Freund Z. war Lehrer, der spürte, dass es ihm nicht gleichgültig sein kann, wenn die Polizei regelmäßig auf dem Schulhof vorfahren musste, um Streithähne zu trennen und zu bestrafen. Er traf ein Abkommen mit einer evangelischen Kollegin. Ihr Miteinander sollte nur dazu dienen, Jesus in ihrer Mitte präsent zu machen. Den Rest überließen sie IHM. Die beiden „patrouillierten“ auf dem Schulhof mit einem unsichtbaren Dritten. In dem Jahr hatte die Polizei wenig zu tun.
Es kann sein, dass jemand wach reagiert, wenn er Armut sieht, Bedürftigkeit, Krankheit. Hier kann sich das Charisma verbergen, der Not anderer nachzugehen in Form eines Sozialdienstes oder diakonisch-karitativer Gruppen.
Es kann sein, dass jemand ein Gespür entwickelt, was anderen eventuell fehlt, wo sie nach Sinn suchen und Erfüllung. Vielleicht verbirgt sich dahinter das Charisma zur Glaubenshilfe, zur Lebenshilfe.
Gott will nicht den schweren Weg, sondern den echten Weg. Woran kann man diesen erkennen? Eine Wegmarke ist die Einheit, und zwar unter denen, die ihn gehen, und mit denen, die eine übergeordnete Verantwortung tragen. Hier gilt die alte Regel: besser das weniger Vollkommene in Einheit als das Vollkommene ohne Einheit. Alles kann auch danach beurteilt werden, ob es der Gegenwart des Herrn förderlich ist. Dies hängt davon ab, ob die Entscheidung für einen bestimmten Weg die Liebe fördert, die Freiheit achtet und die Gemeinschaft vertieft. Gemeinden sollten sich zusätzlich fragen, ob der einzuschlagende Weg zum Nächsten, zu den Notleidenden und Armen führt.
Einer Frau, die eine Apotheke leitete und die ihre Arbeitskraft manchmal lieber in den Dienst einer Gemeinde gestellt hätte, konnte ich verstehen helfen, dass ihre Apotheke eine Seelsorgestation geworden war. Die Kunden erlebten dort nicht nur fachkundige Beratung zu den Medikamenten, sondern auch ein offenes Ohr und ein mitfühlendes Herz.
Eine Ärztin, die von ihrer Arbeit in der Praxis aufgefressen werden drohte, konnte erkennen, dass sie in jedem Patienten Christus begegnen kann und sie somit immer Gottesdienst tut. Mit dieser inneren Einstellung hat sie vielen Patienten geholfen, ihre Suchtprobleme zu meistern, weil sie eine Kraft hatte, die nicht von ihr kam.
In meiner Gemeinde durfte ich viel Eigeninitiative erleben und begleiten. Zwei Mädchen waren auf mich zugekommen, mit dem konkreten Wunsch, sich für andere einzusetzen. Sie hatten die Idee, Kinderbetreuung anzubieten in der Zeit, wenn die Mütter Einkäufe erledigen müssen. Ein Mann hatte den Wunsch, etwas für Ältere und Kranke zu tun. Auf seine Initiativen entstand ein Besuchsdienst, in dem viele andere Helfer mittaten. Eine Lehrerin aus der Gemeinde hatte die Frage, wie Glauben an die Schule kommt. Sie suchte mich auf und trug ihr Anliegen vor. Ich spürte, dass sie selber tiefer zum Glauben und zum persönlichen Gebet kommen wollte. Ich machte ihr das Angebot, persönlich bei mir beten zu lernen. Sie wurde eine großartige Katechetin für Erwachsene, nicht nur für die Schule.
Es gibt unterschiedliche Gaben. Sie sind nicht nur geistlicher Natur. Solche Gaben sind zum Beispiel: Auto/Fahrdienste anbieten, das eigene Haus für andere öffnen, berufliche Kompetenz (Kochfrau) teilen, freie Zeit zur Verfügung stellen, Sensibilität für Arme haben, sich für die Integration ausländischer Mitmenschen einsetzen, Kranke besuchen.
Es gibt geistliche Gaben, die bisher in den Gemeinden nicht sehr ausgeprägt sind und die der Pfarrer zur Entwicklung der eigenen Gemeinde einsetzen kann. So zum Beispiel der Sinn für Gebet, die Leitung von Bibelkreisen, der Fürbitt-Dienst (besondere Möglichkeit für Langzeitkranke), die Unterscheidung der Geister, die Tröstung, die geistliche Begleitung, der prophetische Sinn für die Zeichen der Zeit.
Wenn ein Pfarrer sich eingesteht, dass er mit den Aufgaben in und für die Gemeinde überfordert ist, könnte dies der innere Impuls sein, nach Mitarbeitern Ausschau zu halten und Aufgaben zu delegieren. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen.
a) Der Pfarrer erkennt bestimmte Nöte und sucht Menschen, um Abhilfe zu schaffen.
b) Der Pfarrer nimmt in Gemeindemitgliedern besondere Gaben wahr und macht sie darauf aufmerksam.
c) Der Pfarrer erlebt, dass sich Menschen mit ihren Fähigkeiten zum Dienst anbieten.
Der Pfarrer versteht sich in diesem Prozess als Mitarbeiter Gottes. Er hilft, die Charismen zu entdecken und zu fördern. Er schenkt Vertrauen und lässt die Charismen kommen. Er schenkt Freiheit, damit jeder seine Gabe einbringen kann. Geschichten meiner Mitarbeiter sind bunt und vielfältig.
Als ich mit der Betreuung der ausländischen Priester überfordert war, weil diese nicht nur gemeinsame Zusammenkünfte und Weiterbildungen brauchten, sondern konkrete Betreuung in Alltagssituationen, habe ich Frau P. gewinnen können, eine Pastoralreferentin mit Auslandserfahrung, die in diesem Ehrenamt über sich selbst hinausgewachsen ist und sich selbst neu entdeckte.
Als mich nachts die Polizei aus dem Bett klingelte, weil sie einen Jungen aufgegriffen hatten, der ohne Familie und Unterstützung da stand, konnte ich trotz nachtschlafender Zeit eine Familie mit Kindern finden, die ihn aufnahm und über Jahre Heimat bot.
Die wichtigste Aufgabe des Pfarrers, noch vor der Spendung der Sakramente, ist die Erkennung und Weckung von Charismen und deren Begleitung.
Der Pfarrer wird um diese Gaben beten, weil er weiß, dass die Gemeinde sie braucht. Es ist seine dringlichste Aufgabe, die Personen mit geistlichen Gaben zu begleiten. Dabei kommt es darauf an, dass die gemeinsame Berufung von Priestern und Laien zum Christsein an erster Stelle steht. Die Menschen dürfen nicht vereinnahmt werden. Alles muss in Freiheit geschehen.
Oftmals waren die Mitbrüder, mit denen es mir als Verantwortlichem der Gruppe am schwersten gefallen ist, diejenigen, die besondere Talente und Gaben hatten. Nicht immer scheinen sie in die Gemeinschaft zu passen oder sich ihr unterordnen zu wollen. Etwas drängt sie, eigene Wege zu gehen. Meist habe ich erleben dürfen, dass, wenn ich sie stützte und förderte, sie ihre eigene Begabung für die Kirche und die Menschen fruchtbar machen konnten.
In vielfältigen Gesprächen mit anderen Priestern, die mich um geistliche Begleitung gebeten hatte, konnte ich Berufungen leben helfen, weil ich spezifische Begabungen als ein von Gott kommendes persönliches Charisma erkennen und fördern half.
So ging ein Priester nach Paris und lebte dort ohne priesterliches Einkommen von der Arbeit seiner Hände, weil er spürte, dass er wie alle sein wollte. Er tut gerade so einen unschätzbaren seelsorgerlichen Dienst. So ging ein anderer Priester nach Ausschwitz und widmete dort sein Leben dem Gebet und der Versöhnung.
Ein anderer entfaltete sich in der Jugend- und Stadtteilarbeit, weil er Fähigkeiten hatte, Netzwerke zu bilden und zu beseelen zwischen Menschen guten Willens. Seine Projektarbeit für Sarajevo mit Hunderten von freiwilligen Jugendlichen in Deutschland und Bosnien-Herzegowina hat viele begeistert.
Ein anderer Priester ließ seine Gemeinde und sein geregeltes Einkommen, um im Projekt der Drogenfarmen „Fazenda da Esperanza“ von der Vorsehung Gottes zu leben und ein Armer unter Armen zu sein.
Ein Priester, der so für die Gemeinde oder für die Mitbrüder da sein will, braucht selbst Gemeinschaft und Begleitung. Denn wie schwer diese Begleitung der Gaben und das immer neue Freilassen sind, habe ich selbst in meinem Priesterfokolar erlebt. Ähnlich wie die Gemeinschaft Jesus Caritas treffen wir uns regelmäßig in einer festen kleinen Gruppe von Priestern und teilen miteinander das Gebet, unsere geistlichen Erfahrungen, Erholung und auch die theologische Fortbildung.
Aus dem Wissen und der Erfahrung der immer noch zunehmenden Überlastung von Priestern in der Seelsorge entstand 2008 die Idee, ein Zentrum der Spiritualität für Priester, Seminaristen und Diakone in der ökumenischen Siedlung Ottmaring bei Augsburg zu gründen. Wir wollten Heimat anbieten, geistliche Heimat, genau, wie es dem Charisma der Fokolare entspricht. Mittlerweile kommen Priester, Seminaristen und Diakone, auch evangelische Mitbrüder zu uns, zu Exerzitien, zu Gemeindeaufbau-Seminaren und zur Einübung einer zeitgemäßen priesterlichen Lebenskultur. Im Grunde geschieht hier etwas ganz Einfaches: Sie leben mit uns, wir leben mit ihnen - das Leben kreist. Charismen entfalten Leben und werden durch das Leben vertieft.
Aus: Dokumentation des Pastoralkongresses in Helvoirt (NL), März 2010