Zweifel als Geburtsstunde des Glaubens
Dass er als Priester echte Glaubenszweifel bekommen könnte und ihnen so lange ausgesetzt sein sollte, hatte er sich in seinen Studienjahren nie vorstellen können. Aber es ist so gekommen. In einem Rückblick auf seine frühen Priesterjahre, erzählt Wilfried Hagemann, Leiter des Zentrums für Spiritualität in Ottmaring bei Augsburg, wie er die Zeit des Zweifelns ausgehalten hat.
Ich begann meinen priesterlichen Dienst in Deutschland im Jahr 1968 nach zehn Jahren Studium in Rom. Die revolutionäre Stimmung an den Universitäten griff damals auch auf die Kirche über, vor allem auf die Studierenden und auch die Theologiestudenten. Dass mich die Fragen der jungen Leute nach Glaubwürdigkeit und Echtheit des Lebens auch innerlich erreichten und in Frage stellten, damit hatte ich gerechnet, aber nicht mit der Wucht, mit der schon bald alle innere Glaubensgewissheit einfach wegbrach. Auch Gott selbst, der feste Anker meines Lebens, löste sich – so fühlte ich es – in Nichts auf. Alles Beten und Meditieren konnte die inneren immer mächtiger werdenden Fragen nicht überwinden oder zurückdrängen oder gar beantworten.
Und auch mein Freund Jesus, der mir in den Jahren des Studiums so ans Herz gewachsen war, wurde für mich unerreichbar. Die unterschiedlichen Schichten des Neuen Testamentes verwirrten mein Jesusbild. Dadurch wurden mir die exegetisch ausgeloteten Gewissheiten brüchig und gaben keinen Halt. Hat Jesus wirklich gelebt? Wie viel wissen wir von ihm? Sind die Evangelien nicht Tendenzschriften von unterschiedlichen Gemeinden oder Zielgruppen? Kann ich mich auf die Bibel verlassen?
Dieses Fragen endete in einer Kapitulation. Ich erlebte eine tiefe Krise, die mir mein Priestersein als unehrlich und hohl und damit unverantwortbar erscheinen ließ. Mit solchen Fragen – so meinte ich immer mehr zu verstehen – darf ich keine Messe feiern, keine Sakramente spenden, den Verkündigungsdienst nicht mehr ausüben. Es war eine furchtbare innere Zerreißprobe. Sie wurde verstärkt, weil damals viele Priester, auch einer aus meinem römischen Weihejahrgang, ihr Amt aufgaben. Mir stellte sich ganz existenziell die Frage: Muss ich nicht gehen, um ehrlich zu bleiben?
In diesem Zustand nahm ich 1970 in Fulda an der Mariapoli teil, dem Sommertreffen der Fokolare des westdeutschen Sprachraums. Die Mariapoli mit ihrer tiefen Gemeinschaft und den Gebetszeiten brachte alles an die Oberfläche meiner Seele, was ich verdrängen wollte. Immer mehr wurde mir klar: Ich kann diese Fragen und diese Not, die an meine innere Substanz geht, nicht allein bewältigen. Ich beschloss: Ich werde mich stellen und mich den Mitbrüdern vom Fokolar offenbaren. Eine Gelegenheit bot sich bei einer Autofahrt von Fulda nach Würzburg. Wir waren zu viert im Auto, ich war am Steuer. Da fasste ich den Mut, ihnen alles zu sagen, die Fragen, die Zweifel und meine Überlegung, erst einmal meinen Dienst als Priester ruhen zu lassen. Weil wir alle nach vorn schauten und ich niemand ansehen musste, fiel es mir viel leichter zu sprechen und den Mitbrüdern ungeschönt meine innere Zerrissenheit zu zeigen.
Meine Mitbrüder waren erschrocken und hielten inne. Sie hörten zu. Sie tadelten nicht, redeten nicht auf mich ein. Sie hielten diese Aporie mit mir aus. Einer bemerkte schließlich, dass er mitbekommen habe, dass mir dies alles sehr wehtäte. Ein anderer meinte, es sei wichtig, den Schmerz des Nicht-glauben-Könnens auszuhalten, ja ihn anzunehmen, ohne mir durch eine schnelle Entscheidung eine Entlastung zu suchen.
Ich sagte mit klaren Worten, dass ich es nicht verantworten könne, in dieser Fragesituation noch die Hl. Messe zu feiern. Da griff der Dritte ein und sagte: "Du feierst die Hl. Messe als Glied der Kirche, nicht aufgrund einer Glaubensleistung von Dir. Lass Dich los und lass Dich ein und tu Deinen Dienst, den Dir Dein Bischof aufgetragen hat. Ich trage dies mit, ich verantworte es mit Dir. Ich bete für Dich."
Das überraschte mich sehr. Ich schwieg. Aber langsam fasste ich Hoffnung. Da konnte ich zustimmen. Denn ich lehnte den Glauben nicht ab, Jesus faszinierte mich weiterhin, aber mir war der innere Zugang verschlossen.
Es begann eine Zeit des Dunkels und Zweifelns, eine Zeit, die etwa drei Jahre dauerte. Oft fand ich mich mit leeren Händen in einer Kapelle wieder und hielt dem fernen Gott, "wenn es Dich denn gibt", meine Zweifel, meine Glaubenstrauer, mein Nichtkönnen hin. Eigenes Denken vermochte eine Glaubensgewissheit nicht zu erbringen. So feierte ich weiter die Sakramente im Vertrauen auf die Kirche und darauf, dass meine Freunde für mich glaubten und mich stützten. Es stellte sich aber keine Sicherheit ein. Ich las die Bibel, tapfer, täglich konsequent. Je mehr ich sie las, desto mehr berührte mich eine innere Dynamik auf die Liebe hin, die mich in so vielen Versen ansprach. Eines guten Tages löste sich in mir die Spannung des unruhigen Fragens. Ich hatte mir vorgenommen, die im ersten Johannesbrief empfohlene Liebe zu leben, auf jeden Menschen hin, gerade auch auf die hin, mit denen es mir schwer war (1 Joh 4, 16). Ich ging aus mir heraus, auf den anderen zu, immer wieder, immer neu.
Und dann die erste Entdeckung: Wenn ich nicht auf mich fixiert war und auf meine Fragen, wenn ich also nicht bei mir war, sondern beim anderen, kam Freude in mir auf, stellte sich ein inneres Licht ein. Ich entdeckte das Wort Jesu: "Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren (Joh 14,21)". Ich entdeckte, dass ich im Modus des Zugewandt-seins dem anderen gegenüber genau das erlebe, was die Bibel von Gott aussagt. ER ist da, ER ist zugewandt, ER ist die Liebe. Mir legte sich ein Gedanke nahe, der wie ein Licht war: Wer liebt, ist nahe bei Gott, er ist in Gott. Als dieses innere Licht anfing sich zu zeigen, kam ich fast von selbst dazu, mit diesem Licht in mir ins Gespräch zu kommen und den unbekannten Gott in mir zu entdecken. Und dann: Ich konnte die Spuren dieses Lichtes auch im Gegenüber erkennen und ausmachen und begann langsam, mich darauf einzustellen.
Im Nachhinein konnte ich erkennen, dass mir die Realität Gottes zuerst beim Gegenüber aufging und dann auch in mir. Es war die Entdeckung, dass das Licht genau so zwischen mir und dem anderen ist. Ich wurde hellwach und aufmerksam, wenn mir im Miteinander die Wirklichkeit aus Mt 18, 20 begegnete, die von der Gegenwart Jesu spricht, wenn zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Ich wurde von diesem Jesuswort geradezu elektrisiert.
Von dieser Wahrnehmung her lösten sich für mich viele exegetischen Fragen. Mir erschloss sich neu und klar, dass die Evangelien aus der konkreten Erfahrung der Auferstehung Jesu geschrieben sind, aus der österlichen Perspektive. Den Jüngern wurde das Leben Jesu von Ostern her verständlich. Die Evangelien waren also keineswegs verfälschte zurechtgestutzte ideologische Propagandatexte, sondern Ausdruck des Glaubens von Menschen, die dem Auferstandenen begegnet waren. Der Raum des Zwischen, des Miteinander, in dem sich das Licht des HERRN erschloss, wurde für mich der Ort, an dem die Evangelien ihre Kraft und Wahrheit entfalteten. Diese Gegenwart des HERRN unter den Seinen wurde für mich der neue Zugang zur Gegenwart des HERRN in mir. Langsam wurde mir die Wende in meinem Leben und in meinem Glauben bewusst. Die Zweifel lösten sich in mir auf, ebenso die Verkrampfung und die depressive Stimmung.
Die drei Jahre des Dunkels waren nicht umsonst. Eine immer noch wachsende Glaubensgewissheit stellte sich ein. Ich erinnerte mich an meinen theologischen Lehrer Professor P. Juan Alfaro SJ. Dieser hatte in seiner zweistündigen Vorlesung über den Glauben gelehrt, dass das Dunkel, der Zweifel, das Nichtwissen die kreatürliche Voraussetzung für den Glauben sind. Wie er in seinem Artikel zum Stichwort Glauben im Lexikon für Theologie und Kirche darlegt, ist für ihn der Glaube eine theologische Tugend, eine vom Hl. Geist dem Menschen gegebene Gnade und Kraft, ein Geschenk. Der Glaube ist ein Geschenk, das Gott uns macht, indem er sein Licht dem Suchenden schenkt und in dessen Seele "einzieht". Das Wort Gottes ist SEIN Verbindungskanal zu uns, das uns in der Bibel geschenkt ist. Darum heißt es in Joh 6, 68f: "Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes".
Im Lauf der folgenden Jahre wurde mir klar, dass das durchgetragene Dunkel für mich einen Reifungsprozess im Glauben in Gang setzte, für den ich sehr dankbar bin. Heute weiß ich aus der Theologie der Mystik, dass diese meine Erfahrung erste Anfänge einer dunklen Nacht, wie Johannes vom Kreuz es nennt, gewesen sind. In vielen Gesprächen der geistlichen Begleitung und in Exerzitien-Vorträgen hat mir das eigene durchlebte Dunkel des Glaubens immer wieder Geduld und Gelassenheit ermöglicht, anderen auf ihrem je eigenen Weg zum Glauben nahe zu sein. Es ist wichtig, dem anderen oder der anderen Zeit zu lassen, für die Entdeckung der Gegenwart Gottes – in allen Menschen und in der Gemeinschaft derer, die sich in seinem Namen sammeln, in der Kirche. Ich bin heute noch sehr dankbar, dass die Mitbrüder damals meine Situation richtig einschätzten und mir den Rückhalt gaben, so dass ich mich auf den Prozess einlassen und mich selbst und meine Sicherheit loslassen konnte.
Aus: PRISMA, 01/2015