Das Priesterjahr wird zum Gericht

Das vom Papst initiierte Priesterjahr 2009/2010 findet wenig Interesse, weder in den Diözesen noch bei den Priestern. Durch die furchtbaren Skandale wegen sexuellen Missbrauchs ist das Jahr 2010 in einer ganz anderen Weise zum Priesterjahr geworden. Es würde mich nicht überraschen, wenn das Wort Missbrauch zum Un-Wort des Jahres würde.

Weil die katholische Kirche in Deutschland, Irland, den USA und in anderen Ländern lange Jahre Unrecht zugedeckt und vertuscht hat, fällt es ihr heute so schwer, sich der Realität des Missbrauchs öffentlich zu stellen.

Dass Priester junge Leute missbraucht haben, sogar in Sakristeien, erschüttert unsere Gemeinden zutiefst. Wenn in einer großen deutschen Sonntagszeitung zu lesen ist, dass in Los Angeles sieben Kapläne nacheinander monatelang dieselbe junge Frau missbraucht und in Räumen der Kirche vergewaltigt haben und dass sie die Frau zwingen wollten, die eingetretene Schwangerschaft abbrechen zu lassen: Wer kann den Gläubigen da noch die Wut gegen ihre eigene Kirche verdenken. Die Medien haben erzwungen, dass endlich Null-Toleranz auf der Tagesordnung steht und ebenso Transparenz und Zusammenarbeit mit der Justiz von Anfang an.

Ich habe den Eindruck, dass Gott an der Kirche und an den Priestern arbeitet - mit schmerzlichen Werkzeugen. Er möchte die Priester anders, er möchte die Kirche anders. Das Leben der Priester ist auf den Prüfstand zu stellen und muss neu angeschaut werden. Hören ist angesagt: hören auf den Ruf Gottes, hören auf die Stimme des Volkes Gottes.

Viele Gläubige sind verwirrt und wenden sich ab. „Ich freue mich, dass die Priester herunter kommen von ihrem Thron“, so sagte mir eine engagierte katholische Frau. Viel Unmut kommt jetzt hoch und Ärger darüber, wie in den kirchlichen Behörden mit Anfragen aus den Gemeinden umgegangen wird.

Manche beklagen, dass Briefe an den Bischof oder an den Papst ohne Antwort bleiben. Laienvertreter finden kein Gehör, wenn sie sich an Themen wagen, die für alle Christen wichtig sind. Zu wenige Gespräche finden statt. Es ist offensichtlich: Wir brauchen eine neue „Kultur des Hörens“ in der Kirche, damit Priester und Laien wieder neu zueinander finden. Um wie viel reicher könnte kirchliches Leben sein, wenn den Frauen Wege geöffnet würden, um kirchliches Leben aktiv und verantwortlich mitzugestalten!

Es gibt nicht nur sexuellen Missbrauch. Es gibt auch den Missbrauch der geistlichen Macht. Ein Blick ins Evangelium führt fast wie von selbst auf die richtige Spur: Es geht darum, demütig zu sein, klein zu sein, neu zu buchstabieren, wie Dienen geht, und sich an der Fußwaschung zu orientieren. Eine solche Haltung wird der Kirche helfen, den Opfern in offenster Weise beizustehen und ihnen alle Unterstützung zu geben. Dies wird ebenso dazu beitragen, den Tätern als Menschen gerecht zu werden.

Das Neue Testament als Urkunde des Glaubens und des Kirche-Seins ist neu zu entdecken. Dann wird man aufhören, einer hohlen Kirchenräson zu folgen und die „Scheinheiligkeit“ der Kirche zu verteidigen.

Über die katholische Kirche ist ein Gericht hereingebrochen. Wir können es vergleichen mit dem Zorn Gottes, von dem das Alte Testament immer wieder berichtet. Dieser Zorn ist das leidenschaftliche Nein Gottes zum Unrecht, das sich mitten im Gottesvolk breit gemacht und eingenistet hat. Durch das Gericht will Gott sein Volk neu aufrichten. Es geht dem Gott Israels nicht um Bestrafung, sondern um Erneuerung und Vertiefung des Bundes. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott der Kirche beisteht und sie zu neuer Reife führt. Geben wir IHM eine Chance.

Aus: NEUE STADT, Juni 2010

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