Das Nichts macht alles aus

Es scheint leicht zu sein, über die Kirche zu sprechen, denn viele gehören zu ihr. Sie alle könnten über sie etwas aussagen. Leichter fällt es wahrscheinlich denen, die sich am kirchlichen Leben beteiligen. Aber auch für sie ist es schwer, etwas zu sagen, denn es geht darum, etwas zu beschreiben, was letztlich gar nicht von ihnen kommt.

Fragen wir einmal nach dem Selbstverständnis der Kirche: Was ist die tiefste Schicht des Bewusstseins der Kirche? Jedenfalls ist die Kirche nicht zustande gekommen wie ein Verein, wie sich Rousseau den Zusammenschluss von Menschen zu einem Staat vorgestellt hat. Die Kirche ist auch nicht entstanden wie das Rote Kreuz. Hier stand am Anfang eine ganz bestimmte Not der Menschen im Krieg. Diese Not hat andere Menschen dazu gebracht, einen Verein, eine Organisation zu gründen – ganz für den Dienst an anderen Menschen. Aber auch so ist die Kirche nicht entstanden.

Ganz tief im Bewusstsein der Kirche steht: „Ich bin nicht von mir, ich bin von Gott. In mir lebt der Auferstandene, Jesus Christus. Von ihm bin ich, von ihm stamme ich. Er hat mich gerufen: Du bist mein.“ Jedes Jahr in der Osterzeit werden die ersten Seiten der Apostelgeschichte gelesen. Hier sieht man, dass die Begegnung mit Christus, dem Auferstandenen, die ersten Gemeinden hervorgerufen hat. Gemeinde und Ostererfahrung gehören zusammen. Nach dem Karfreitag, nach der absoluten Negativität dessen, was Jesus getan hat, bringt die Erfahrung des Auferstandenen die Gemeinde hervor. Diese Wirklichkeit hat die Kirche nicht in der Hand, sie wird ihr geschenkt. Das ist eine Realität und nicht ein Hirngespinst.

Das Konzept vom leeren Raum

Die Kirche als Gruppe von Menschen muss also so gelebt werden, dass diese tiefste Bewusstseinsschicht immer wieder sich zeigen darf, ja, dass Christus in dieser Gruppe von Menschen lebendig werden kann. Was das bedeutet, können wir mit einem Bildwort, das nicht aus unserer Kulturwelt stammt, sondern aus dem Osten, am besten verstehen. In seinem heiligen Buch „Vom Wissen um den Weg des Lebens“ bringt Laotse folgenden Spruch:

„Dreißig Speichen stehen auf einer Nabe,
doch dort, wo sie nicht sind,
ist des Rades Sinn.

Lehm knetet man zum Becher,
doch dort, wo der Becher nicht ist,
ist des Bechers Brauchbarkeit.

Man stemmt Tür und Fenster aus zur Wohnung,
doch dort, wo nichts ist,
ist der Wohnung Wesen.

Also gilt:
Erfasst du etwas in seiner Brauchbarkeit,
so erfasse: das Nichts macht alles aus.“

In diesem Spruch wird jedes Mal ein leerer Raum beschrieben. Dieser leere Raum steht nicht für sich, er steht in Beziehung zu etwas anderem, das nicht in diesem Raum von vornherein ist. Die Speichen stehen auf einer Nabe, aber sie sind dafür da, dass die Achse hineingelegt werden kann. Der Becher bildet einen Raum, aber er ist angewiesen auf den Wein. Tür und Fenster, zur Wohnung gestemmt, haben keinen Sinn in sich selber, sondern nur, wenn sie Wohnung für den Menschen sind.

Wenden wir dieses Bild auf die Kirche an : Die Kirche ist dazu da, dass sie dieser leere Raum ist. Wir, als die Glieder der Kirche, wir sollen dieser leere Raum sein, damit Christus da sein kann, damit das Geheimnis Christi, des Gekreuzigten und des Auferstandenen, des Verlassenen und von Gott Angenommenen unter uns wirksam und wirklich wird. Alles handeln, das in mir und in uns diese Offenheit für Christus hindert, hindert auch das Kirche – Sein. Alles, was dieses Offensein für Christus fördert, fördert auch das Kirche – Sein. Von daher versteht man, warum die Liebe, wie sie Jesus gelebt hat, die ja bis zur Hingabe des Lebens für die Brüder geht und die nichts vom anderen erwartet, warum diese Liebe wesentlich ist für das Kirche – Sein. Wenn wir nicht offen sind, füreinander, sind wir auch nicht Kirche.

Im Gespräch mit einigen Studenten kamen wir auf die Frage, welche Menschen uns etwas bedeuten. Wir gingen den Menschen nach, die wir in der letzten Zeit kennen gelernt hatten, und es wurde überlegt, mit wem man ein neues Verhältnis oder eine tiefere Beziehung eingehen konnte. Überraschenderweise ergab sich, dass keiner der Anwesenden wesentlich neue Freunde gewonnen hatte. Niemand hatte es geschafft, ein neues Konzept zu entwickeln oder in sein eigenes Konzept andere hineinkommen zu lassen. Als wir dieser eigenartigen Feststellung auf den Grund zu gehen suchten - denn es war wirklich eigenartig, weil jeder ja kontaktfreundlich. sein wollte -, erkannten wir, dass an der Wurzel eine bestimmte Verschlossenheit stand, eine "Ich-Verfallenheit".

Wir kamen darauf, dass jeder unbewusst den anderen für sich einplante und dass jeder den anderen nur als Verlängerung des eigenen Ich gesehen hatte. Wir waren unbewusst nicht bereit, andere Menschen sie selbst sein zu lassen und auch das Fremde an ihnen zu ertragen; denn dieses Fremde, das wir an ihnen nicht verstehen, kann ja für uns das Neue werden, die Erweiterung unserer Erfahrung. Gerade dort kann unser Ich durchbrochen, aufgebrochen und geöffnet werden. Oft ist es bei Menschen so, dass sie ihr Konzept nicht mehr aufbrechen können, und dann fehlt ihnen die Offenheit. Man spricht nur noch mit denen, die einem passen. Alles kreist dann um das liebe Ich. Menschen werden zur Funktion meines Ichs. Dann ist kein Platz mehr da für den anderen, auch nicht für Christus im anderen.

Ein Ausweg aus der "Ich-Verfallenheit"?

Wenn in uns diese Struktur der Ich-Verfallenheit bestehen bleibt, dann besteht keine Chance, dass wir Kirche werden. Dann ist sozusagen von Anfang an gar keine Möglichkeit da, dass wir Christus begegnen, dass wir einen Leerraum bilden, in dem Christus der Auferstandene uns begegnen kann. Wenn wir nur von uns selber ausgehen, dann können wir keinem Menschen begegnen, keinem Du. Alles wird auf uns bezogen, auf uns eingerichtet, und so werden wir erst recht nicht Kirche.

So ergibt sich die Frage, wie wir dahin kommen können, dass wir Kirche werden. Wie kommen wir aus unserer Ich-Verfallenheit heraus? Das geht nicht nach der Methode von Münchhausen, der sich selber an seinen Haaren aus dem Sumpf ziehen wollte. Wir brauchen dazu den anderen, der uns dies zeigt. Und im anderen ist es schließlich Gott selbst, der uns anredet. Er bricht uns auf durch Jesus Christus, durch ihn, der Mensch geworden ist. Christus kann uns durch Menschen begegnen, die selber schon auf Christus ausgerichtet sind, die selber glauben. Wir können aufgebrochen werden durch Menschen, die selbst leer sind, die eben aus ihrer Ich-Verfallenheit herausgerissen wurden und in denen uns nun dieser Leerraum begegnet.

Dieser Leerraum entsteht in uns und unter uns dadurch, dass wir eine Entscheidung treffen, von uns selber wegzugehen und alles das sehen zu wollen, was wirklich da ist. Wenn ein Mensch diese Entscheidung für die ganze Wirklichkeit trifft, gehört dazu auch die Wirklichkeit Gottes. Und in dem Maße, wie ein Mensch sich auf diese Wirklichkeit nicht nur einlässt, sondern sich mit seiner ganzen Existenz für Gott entscheidet, durchbricht er die Ich-Verfallenheit. Denn dann verlegt er den Schwerpunkt von sich selbst weg auf Gott hin und erwartet alles von ihm.

Dafür, dass unter uns dieser Leerraum entsteht, ist es ganz wesentlich, dass wir uns restlos für Gott entscheiden. Wir müssen den Versuch machen, ganz von ihm her zu denken, zu handeln und zu leben, so sehr, dass man sagen kann, dass er der Erste und Wichtigste in unserem Leben ist. Menschen, die in dieser Klarheit auf Gott hin ausgerichtet sind, haben in sich einen "Leerraum". Und wo zwei oder drei Menschen zusammenkommen mit dieser inneren "Leere" und Freiheit, dort ereignet sich das Versprechen, das Jesus uns gegeben hat: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich wirklich unter ihnen." Und wir verstehen auf diesem Hintergrund auch ein anderes Wort, das Jesus sagt: "Wer mir nachfolgen will, der verlasse Vater, Mutter, Bruder und Schwester, Acker und Hof, der verlasse alles und folge mir nach". Darin wird gerade von uns verlangt, dass wir der Ich-Verfallenheit entsagen und alles lassen, was nicht Gott ist.

Liebe ist möglich - das Programm der Kirche

Die-Kirche-Leben fängt also damit an, alles zu lassen, was nicht Gott ist. Die-Kirche-Leben fängt damit an, dass wir den "Leerraum" schaffen, damit Gott unter uns sein kann. Die-Kirche-Leben ist also nicht Anpassung an Gottes Willen, sondern sich für Gottes Willen entscheiden. Den Leerraum schaffen geschieht nicht aus Versehen, nebenbei, in bloßer Anpassung, sondern gerade indem das Ich aufgebrochen wird. Es ist eine Entscheidung, in der ich selbst etwas von mir preisgebe. Ich kann nur in der Kirche mitleben, wenn ich bereit bin, meine Vorstellungen und meine Pläne wirklich herzugeben, herzugeben im Blick auf Gott.

Wir können in der Kirche nicht weitergehen, wenn nicht alle diesen Schritt tun. Es geht wirklich darum, dass wir den Mut haben, auch in unserer heutigen Zeit auf Gott hin zu leben und daran zu glauben, dass es eine persönliche Beziehung zu ihm gibt. Die-Kirche-Leben fängt in einer Gemeinde damit an, aus der Entscheidung für Gott mit dem Pfarrer und den übrigen Gemeindemitgliedern zu leben, leer zu sein von eigenen Vorstellungen, eigenen Plänen, eigenen Idealen, damit Christus in unserer Mitte sein kann.

Wenn nicht nur einer, sondern mehrere das tun, dann wird die Kirche wirklich zu einem "leeren Raum", in dem Christus sein kann. Und dann ist die Art der Entscheidung für Gott die Art, wie Kirche verwirklicht wird. Die Entscheidung für Gott aber ist nichts anderes als die Entscheidung für den Bruder, für den Mitmenschen, für jeden Menschen, denn gerade Gott ist es, der uns diese Entscheidung vorlebt. Er hat sich für den Menschen entschieden. Gott liebt den Menschen. Die Liebe zu allen Menschen ist das Programm der Kirche. Liebe aber besteht darin, dass ich damit selber als erster anfange, so wie Gott, der Schöpfer, als erster angefangen hat, die Welt und die Menschen zu lieben, indem er sie ins Leben rief. Zur göttlichen Liebe gehört dieser göttliche Anfang. Christliche Liebe ist nur möglich, wo die Liebe wirklich zu allen gelebt wird und wo man selber mit der Liebe den Anfang macht.

In dieser Liebe aber kommt das Ich, das vorher in falscher Weise sich selbst verfallen war, doch zu sich selber, denn es wird sich seiner selbst bewusst. Und je mehr dieses Ich sich selbst überschreitet, selber leer wird auf den anderen und auf Gott hin, um so mehr kommt das Ich zu sich selbst und wird sich seiner eigenen Wirklichkeit, seines eigenen Daseins, seiner selbst bewusst. Christentum will also den Menschen nicht vernichten, will das Ich nicht einfach aufgeben, sondern will das Ich fruchtbar werden lassen, will das Ich wirklich zu sich selbst kommen lassen, aber nur in diesem Leerraum, in dem der andere sein darf und in dem Gott sein darf. Nur darin findet das Ich sein Wesen, seine Wirklichkeit.

Je mehr die Kirche zu einer Gruppe und Gemeinschaft von Menschen wird, die diesen Leerraum wollen, um so lebendiger und wirkmächtiger wird die Kirche in unserer Zeit, denn wenn sie Gefäß Gottes ist, dann ist die Kirche Liebe und Güte, dann ist die Kirche mächtig. In dieser Kirche aber fällt dann der Nationalismus weg und der Rassismus, und es spielt keine Rolle mehr, ob einer Sklave oder Freier, Grieche oder Jude, ob einer Angestellter oder Arbeitgeber, ob einer Professor oder Arbeiter ist. In der Liebe finden die Menschen sich, und in der Liebe haben sie die Fähigkeit, jenen Leerraum zu bilden, der Gott unter ihnen Raum gibt. Dann wird das Bewusstsein der Kirche wirklich wahr, dass Christus in ihr lebt.

Der Bruder ist kein Hindernis mehr zu Gott, sondern er ist der Weg zu Gott. Denn nur mit ihm zusammen habe ich ja jenen Leerraum, in dem Gott unter uns ist. Gott selbst aber ist nichts Statisches, er ist der Mächtige, der Vorwärtstreibende, der Dynamische. Wenn dieser Leerraum unter uns ist, scheinbare Passivität von Menschen, dann entsteht unter uns höchste Aktivität, denn Gott gebraucht uns und Gott sendet uns. Gott ist Dynamik. Gott ist wie eine Spirale, die sich ausdehnen will in der Welt. Wo er auf einen Leerraum trifft, verwandelt er die Menschen und schickt sie gleich einer Rakete hinaus in die Welt. So ist noch einmal dieses Leerwerden etwas außerordentlich Dynamisches. Die-Kirche-Leben ist nicht weltfremd, schränkt uns nicht ein auf den Raum eines Kirchengebäudes, sondern macht unser säkulares Leben zu einem Leben mit Jesus in unserer Mitte.

Aus: Monatsmagazin NEUE STADT, 1972

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