Die unerschütterliche Gewissheit des Geliebtseins

Paulus und seine Theologie als Inspiration meiner pastoralen Erfahrung

Ein Mann, der Jesus vor Damaskus ‚nur’ als Auferstandenen kennen lernte, hat eine Beziehung zum Mensch gewordenen Sohn Gottes gefunden, die ihn im tiefsten Sein und Denken so berührte, dass er zu einer durch nichts zu erschütternden Freiheit gefunden hat. Er hat in Jesus eine Zuwendung erfahren, die ihm in jeder Situation echte Handlungsfreiheit schenkte.

Freiheit des Denkens und Handelns

Bis heute faszinieren mich theologische Formulierungen von Paulus, die dieser in eigener Denkverantwortung entwickelt hat. Diese ganz besonderen Worte konnten nur von jemand formuliert werden, der das, was in Jesus Christus gesehen war, zutiefst theologisch verarbeitet und in tiefste persönliche Spiritualität umgesetzt hatte. Ich denke etwa an das Wort: „Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt“ (Röm 8,28). Wer in der Liebe Gottes steht, wer von Gott geliebt ist und umgekehrt Gott ebenfalls von ganzen Herzen liebt, dem gereicht alles zum Guten – auch Gefängnis und Schiffsbruch, auch Verrat durch Freunde, wie ihn Paulus selbst erlebt hat. Alles wird durch den Glauben an Christus positiv gewendet und trägt den Glaubenden über alle Abgründe hinweg. Dahinter steht die erschütternde Gewissheit: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder der Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8, 38-39)

Überwindung der Angst

Dieses Wort hat mich persönlich durch ungeahnte Schwierigkeiten in der Seelsorge und im eigenen Leben geführt und macht es mir möglich, andere Menschen in deren Nöten zu begleiten. Aus diesem Gleichgang im Glauben mit dem Apostel Paulus konnte ich tatsächlich erfahren, wie Menschen in aussichtslosen Situationen - sei es in der Familie, sei es durch eine Krankheit oder den bevorstehenden Tod, sei es in Situationen von Konkurs und Mobbing - durch eine langsam sich entwickelnde Gemeinschaft mit Jesus Christus Kraft schöpften, Angst überwinden konnten und ein neues Standing im Leben gefunden haben.

Allein diese beiden Paulusworte gaben mir soviel Licht in der Einzelseelsorge, wie ich es nie erwartet hätte. Darum war es für mich selbstverständlich, diese Worte auf Griechisch auswendig zu lernen.

Angelpunkt im Kreuz

Paulus wusste so gut wie nichts vom auferstandenen Christus, der ihn vor Damaskus mit der Frage: „Saul, Saul, warum verfolgst Du mich?“ (vgl. Apg 9,4; 22,7; 26,14-16) angesprochen hatte. Blitzartig erkennt er, dass die von ihm als Ketzer verfolgten Christen unmittelbar zu Jesus gehörten, ja dass Jesus sich mit ihnen eins weiß und sich in diesen Christen selbst verfolgt erfährt. Die Christen als Leib Christi – das ging ihm in dieser einen Frage des Herrn unmittelbar auf. Dass Gott Mensch wird und in Jesus Christus die Güte und Menschlichkeit Gottes erschienen sind (Titus 3,4), wurde Paulus im Kreuzestod Jesu in so augenscheinlicher Weise klar, dass er im Kreuz selbst den Angelpunkt der ganzen Offenbarung erkannte. Darum konnte er im Galaterbrief formulieren: „Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; Nicht nur ich lebe, sondern Christus lebt in mir. So weit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und der sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,19-20).

Verkündigung der Gnade

Diesen ‚Sachverhalt’, nämlich dass der Mensch mit Christus selbst gekreuzigt und dadurch von Christus geliebt ist, nennt Paulus schlechthin Gnade, reine Gnade, reines Angesehenwerden von Gott. Es gab für mich in der Seelsorge nichts Schöneres, als Menschen zu dieser Gnade zu führen, in diese Tiefe und in die damit gegebene Freude. Auf diese Weise habe ich auch einen neuen Zugang zum Sakrament der Beichte gefunden. Dieses Sakrament ist nicht nur ein Sakrament der Vergebung, der Erlösung von den Sünden und der Versöhnung mit Gott. Es ist für mich in erster Linie ein Ort, wo sich der Mensch ganz in die Gnade Gottes, die in Jesus Christus erschienen ist, fallenlassen und dann die Erfahrung machen darf, dass dieser Christus ihn annimmt. Gerade durch die Theologie des Paulus ist mir das Bußsakrament als Sakrament der Annahme ganz neu aufgegangen. Sehr dankbar bin ich, dass ich vielen Menschen unter dem Vorzeichen der Annahme durch Gott dieses Sakrament spenden durfte. Dann wird auch der Enthusiasmus verständlich, mit dem Paulus das Kreuz Jesu Christi preist und rühmt: „Ich aber will mich allein des Kreuzes Jesu Christi, unseres Herrn rühmen, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt. Denn es kommt nicht darauf an, ob einer beschnitten oder unbeschnitten ist, sondern darauf, dass er neue Schöpfung ist“ (Gal 6,14-15).

Raum der Barmherzigkeit

Wer in seinem eigenen Leid und im Leiden anderer Jesus den Gekreuzigten erkennen kann und lieben lernt, tritt in einer neuen Freiheit ein in den Raum der Barmherzigkeit und Kraft Gottes. Er wird berührt von diesem Gott, der ihn quasi Neues schafft und aufleben lässt.

In vielen geistlichen Einzel- oder Gruppengesprächen, in denen wir uns um das Wort Gottes versammelt haben, durfte ich persönlich und mit anderen diesen Durchbruch zur Freiheit Gottes erleben. Wo Menschen in dieser Weise von der Gnade Gottes berührt worden sind, waren sie auch bereit, in der Gemeinde oder an anderen Orten der Kirche mitzuarbeiten und Verantwortung zu übernehmen. Ich durfte erleben, wie das in den Worten des Paulus gespeicherte Wort des ewigen Gottes Menschen berührt, fasziniert und zu neuem Tun anleitet.

Wer diese Worte verinnerlicht, wird frei, unabhängig von Erfolg oder Misserfolg, unabhängig auch von der jeweiligen Situation, in der sich die Kirchen gerade befinden. Er kann sich einlassen auf die Menschen, wie sie gerade sind, seien es wie bei Paulus Juden oder Heiden, oder wie bei uns Juden, Muslime, Katholiken, Protestanten, Nichtglaubende, seien es Suchende oder auch im Glauben Gescheiterte.

Quelle der christlichen Gemeinschaft

Der Blick auf Paulus ermutigt, Beziehung zu leben. Wo das Evangelium verkündet wird, entsteht Gemeinschaft, eine Art neue Familie und tiefe Beziehungen, die im Glauben gründen. So berichtet es uns Paulus selbst aus den Anfängen seines pastoralen Dienstes in Philippi, Saloniki, Korinth, Ephesus und später auch in Rom. Die gleiche Erfahrung zeigt sich auch heute. Ich denke hier besonders an die kleinen christlichen Gemeinschaften, die sich als echte Chance für die pastoralen Großräume von Heute erweisen, weil sie ein effektives, kleinmaschiges Netzwerk von Männern und Frauen, von Jugendlichen und Senioren bilden. Wo in dieser Weise, sozusagen auf den Spuren des Apostels Paulus, das Evangelium erschlossen und gelebt wird, werden Menschen in Freiheit zu Christus geführt und die Priester können Aufgaben an aktive Christen delegieren. Die Gegenwart des Herrn in der Mitte derer, die sich in seinem Namen versammelt haben (Mt 18, 20), eröffnet dann einen Weg mitten in die Gesellschaft hinein und damit mitten in die Zukunft von Kirche.

Mit-Heiligung des Ehepartners

Von Paulus durfte ich lernen, dass Ehepartner, die trotz innerer Offenheit keinen Zugang zum Glauben finden, vom eigenen Ehepartner mitgeheiligt werden: „Wenn ein Bruder eine ungläubige Frau hat und sie willigt ein, weiter mit ihm zusammenzuleben, soll er sie nicht verstoßen. Auch eine Frau soll ihren ungläubigen Mann nicht verstoßen, wenn er einwilligt weiter mit ihr zusammen zu leben. Denn der ungläubige Mann ist durch die Frau geheiligt und die ungläubige Frau ist durch ihren gläubigen Mann geheiligt. Sonst wären eure Kinder unrein; sie sind aber heilig.“ (1 Kor 7,12-14)

Paulus zeigt uns auch, wie wir mit Menschen umgehen sollen, die einmal zur Kirche gehörten und diese verlassen haben. Was er über die Juden seiner Zeit geschrieben hat, gilt auch heute: „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt… Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen.“ (Röm 11,29 -32)

Offenheit für alle Menschen

Auf dem Hintergrund solcher Worte ist es möglich, ganz offen und frei auf Menschen zuzugehen. Dann kann es sich ereignen, dass sich der Kreis derer, die die Kirche und Gemeinde unterstützen, weit größer ist als die aktiven Kirchgänger und dass sich beide einander verpflichtet wissen in ihrem jeweiligen Dienst, sei es in karitativen Werken, sei es im gottesdienstlichen oder katechetischen Tun. Auch Menschen, die sich durch depressive Veranlagungen immer neu in Frage stellen und nicht selten das Gefühl haben, nicht dazuzugehören, konnte ich im Rückgriff auf die paulinische Theologie einen Zugang zur Gnade erschließen. Diese führt, genau wie in Röm 5,5 beschrieben, von der Bedrängnis über die Geduld und Bewährung zur - manchmal nur punktuellen - Erfahrung des Geliebtseins durch Gott, was zu neuem inneren Aufatmen führt (Röm 5,1-5).

Mich fasziniert an Paulus, dass ihn seine Beziehung zu Christus derart frei gemacht hat, dass er in einem freien Zugang zum dreifaltigen Gott und zu jedem Menschen gelebt hat. Paulus ist leidenschaftlich Mensch, leidenschaftlich Missionar und Kirchengründer. Sein Schatz ist das Evangelium, die Botschaft des guten Gottes, in dessen Dienst er sein ganzes Leben und Sterben stellte.

Aus: Charismen, 3/2009

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