Es geht um eine Kirche, die Raum des Trostes wird
Dr. Wilfried Hagemann hält die Strukturdebatte der katholischen Kirche für notwendig, aber nicht entscheidend. Vor 50 Jahren wurde der katholische Theologe zum Priester geweiht. Er hat zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils in Rom studiert.
WZ: Herr Dr. Hagemann, Sie haben nur eine vergleichsweise kurze Zeit Ihres Lebens in Wilhelmshaven verbracht. Welche Rolle spielt diese Zeit in Ihrem Leben?
Hagemann: Meine Jugend-Jahre in Wilhelmshaven (1952 bis 1957) haben mein Leben entscheidend geprägt. Hier hat sich meine Berufung zum Priestertum entwickelt. Hier lernte ich, obwohl in der religiösen Minderheit, in der Stadt und auch in meiner Schulklasse als freier, selbstbestimmter Mensch zu leben. Ich habe eine sehr gute Erinnerung an meine Schulklasse. Am Anfang musste ich mich jedoch erst durchsetzen. Auch meine Lehrer an der Humboldschule haben mich in meinem Glauben unterstützt, obwohl sie anderen Glaubensrichtungen anhingen, aber ich profitierte von einer Pädagogik, die wirklich die Persönlichkeit des einzelnen Schülers fördern wollte.
WZ: Waren Sie kirchlich engagiert?
Hagemann: Ich habe in dieser Zeit eine der Kirche verbundene Jugendgruppe gegründet und mich um jüngere Schüler gekümmert. Ich habe dabei gelernt, meinen Glauben selbst zu verantworten, auch in den spezifischen Krisen, die eine Diaspora-Situation mit sich bringt. Meine Kirchengemeinde St. Marien hat mich dabei sehr unterstützt. Dort traf ich Priester, mit denen ich reden konnte und die mich weiter geführt haben. Ich wurde von meiner Familie unterstützt, von meinen Eltern und Geschwistern, wir durften eine sehr glückliche und auch vom christlichen Glauben getragene Jugend erleben.
WZ: Haben Sie heute noch Beziehungen nach Wilhelmshaven?
Hagemann: Wilhelmshaven wurde meine Heimat und ist es bis heute geblieben. Dazu tragen auch das gastfreundliche Wesen meiner Schwester bei, die in dieser Stadt lebt, und die vielen Verwandten.
WZ: Sie haben in einer Zeit in Rom Theologie studiert, in der die katholische Kirche im Umbruch war. Welche Bedeutung hatte diese Zeit für Sie?
Hagemann: Die Zeit meines Theologiestudiums in Rom fiel in die Zeit eines enormen kirchlichen Aufbruchs. Wider Erwarten hat Papst Johannes XXIII. ein Konzil ausgerufen. Dieses Konzil brachte die Kirche in eine ganz neue geistliche Tiefe, leider ist die mystische Seite des Konzils bei vielen nicht mehr im Blick. Mich freute es besonders, dass eine neue völlig veränderte Beziehung zur evangelischen Kirche und zum evangelischen Glaubensverständnis erarbeitet wurde. Es bewegte mich sehr, dass der Dialog mit den Juden begann und dass ein neuer Blick auf den Koran und auf die Muslime geworfen wurde. Besonders freute mich auch, dass das Konzil Anleitung gab, auch Nichtglaubende als wertvolle Gesprächspartner zu sehen. Diese Impulse des Konzils leben heute in mir und haben mein priesterliches Tun sehr geprägt. An der internationalen Universität Gregoriana, an der ich mit 3000 Studenten aus 60 Nationen katholische Theologie studieren durfte, verstand ich fast von selbst, dass Kirche immer mit allen Menschen zu tun hat.
WZ: Zuletzt war die katholische Kirche gerade auch in Deutschland in schwieriges Fahrwasser geraten. Nicht nur die Missbrauchsdebatte hat ihre Glaubwürdigkeit beschädigt. Priestermangel und abnehmende Finanzkraft führen – wie auch in Wilhelmshaven – dazu, dass Kirchen geschlossen und Seelsorgeeinheiten immer größer werden. Ist das aus Ihrer Sicht der Weg, der aus der Krise herausführt?
Hagemann: Wir können nicht in so vielen kleinen Einheiten weiter arbeiten. Es braucht eine starke Mitte und eine Zusammenführung der Kräfte. Gleichzeitig braucht es unterhalb der Organisationsebene von Kirchengemeinden kleinere Gemeinschaften. Wir sollten alles tun, dass sich solche kleinere Gemeinschaften entwickeln können. Sie entwickeln sich aus Eigeninitiativen und zwar vor Ort, in den Stadtvierteln. Heute geht es um eine Kirche, die in den Häusern, mit den Nachbarn in einer Straße konfessionsübergreifend eine geistliche Mitte sucht und zum Raum des Trostes wird für viele. Wir könnten auch anknüpfen an bestehende Verbände oder Familienkreise, aber dieser Aufgabe müssen wir uns stellen. Nicht umsonst betont unser Papst Franziskus immer wieder, ihr müsst an die Ränder gehen. Zur Entwicklung eines solchen werteverantworteten Christseins braucht es Zeit, braucht es Geduld und Kreativität. Durch kleinere Gemeinschaften kann die Kirche gerade heute den Menschen Hoffnung geben und Lebensfreude und konkrete Gemeinschaft vor Ort, auch solchen, die keinen Draht mehr zur Kirche haben. Die Kirche, ist mehr als ein Ort, an den ich mich zurückziehe, um Trost zu finden, sondern sie soll hineinwirken in die Gesellschaft mit ihrer Hoffnung und Lebensfreude, die heute alle brauchen.
WZ: In der öffentlichen Debatte um die Zukunft der Kirche geht es eher um Strukturen, um Mitwirkungsmöglichkeiten von Laien, um die Zulassung von Frauen zu Ämtern in der Kirche oder auch um den Umgang mit Minderheiten. Sind das nach Ihrer Meinung die zukunftsweisenden Fragen?
Hagemann: Die öffentliche Debatte ist notwendig und darf nicht verteufelt werden. Die Themen, die öffentlich verhandelt werden, sind es wert, dass alle mitreden. Es braucht dennoch mehr, es braucht mehr denn je ein neues Hören, nicht nur ein Mitreden. Es braucht ein neues Hören auf den Geist Gottes, auf die Bibel als Wort Gottes und auf den anderen, den Nächsten. Die Zukunft sind jedoch nicht die Strukturen, sondern sind Fragen etwa wie diese: Wie kann den Menschen in unserer westlichen Gesellschaft neu ein echter vertrauenswürdiger Weg zu Gott vermittelt werden? Wie können wir vermitteln, dass Gott gut ist, reine Liebe, Licht, das auch die tiefste Dunkelheit hell macht, ja dass er auch echte Freude unter den Menschen ermöglicht. Wie können wir Christen, katholische, evangelische und orthodoxe Christen, wie können wir die Realität Gottes in aller Freiheit, ohne Zwang, den Menschen von heute vermitteln?
WZ: Seit dem Amtsantritt von Papst Franziskus sind aus Rom ungewohnte Töne zu hören. Wie bewerten Sie den neuen Papst?
Hagemann: Seit dem Amtsantritt von Papst Franziskus kommen aus Rom tatsächlich neue Töne. Fast wie Schockwellen gehen manchmal die Interviews von Papst Franziskus um die Welt. Und sie treffen immer auf offene Ohren. Jetzt sind auch Menschen zu Gesprächspartnern des Papstes geworden, die sich bewusst nicht zur Kirche rechnen. Der neue Papst ist wirklich jemand, der an die Ränder geht, der das Leben in Armut ernst nimmt und sich um jede Form von Bedrängnis unter den Menschen kümmert, sei es in Syrien, sei es bei den furchtbaren Flüchtlingsunglücken vor der italienischen Küste und sei es auch bei internen Fragen der Kirche. Er macht Mut zur Barmherzigkeit. Für ihn sind Menschen, die geschieden sind, zunächst einmal Menschen, die Gott in seine Kirche berufen hat. Auch Menschen mit einer anderen Lebensform werden von ihm nicht ausgeschlossen. Viele müssen sich erst daran gewöhnen, mit einem solchen Papst zu leben. Er ist eine Herausforderung, er ist eine Verheißung, er öffnet Türen, die den Menschen den Weg zueinander und zu Gott öffnen.
Aus: Wilhelmshavener Zeitung, Freitagsgespräch, 11.10.2013