Unterwegs zu einer Spiritualität der Gemeinschaft
Die Gegenwart des Auferstandenen als Lebensprinzip der Kirche
Der folgende Beitrag von Dr. Wilfried Hagemann, Priester der Diözese Münster und langjähriger Fokolar-Priester, zeigt aus seiner Erfahrung auf, wie die Gegenwart des auferstandenen Jesus Christus in den kleinen Gemeinschaften der entstehenden Fokolar-Bewegung entdeckt wurde, wie diese Erfahrung zunächst auf Katholiken, dann auf Christen verschiedener Konfessionen und Angehörige anderer Religionen übergriff und wie sich daraus eine neue, ekklesial bestimmte Spiritualität entwickelte.
Einer kleinen Gruppe von jungen Frauen, die aus der franziskanischen Bewegung stammt, wird von 1943 an in Trient mitten im monatelangen Bombardement ihrer Heimatstadt eine Gotteserfahrung zuteil, die ihrem Leben eine völlig neue und das ganze weitere Leben prägende Ausrichtung gibt: „Angesichts der Zerstörungen und Trümmer" – so Chiara Lubich, die Leiterin dieser Gruppe – „fragten wir uns : Gibt es ein Ideal, das nicht vergeht, das durch keine Bombe vernichtet werden kann? Eine innere Stimme schien uns die Antwort zu geben: Ja, Gott ist ein solches Ideal, er vergeht nie. Mit seiner Hilfe haben wir uns für ihn, als das einzige Ideal unseres Lebens entschieden“. (1)
Die jungen Frauen waren erst zwischen 16 und 23 Jahre alt und sie wussten, dass jeder Augenblick der letzte ihres Leben sein konnte. Selbst der Luftschutzraum, in den sie flüchteten, konnte keinen sicheren Schutz bieten. Da sie jeden Augenblick damit rechnen mussten, zu sterben und vor Gott gerufen zu werden, wurde ein Wunsch immer stärker in ihnen: einen Weg zu finden, dass Gott den ersten Platz in ihrem Leben einnimmt. Manchmal mussten sie den Bunker, bis zu elf Mal am Tag aufsuchen. Sie nahmen das Neue Testament mit und lasen darin, bewegt von der Frage: Was liegt Gott, was liegt Jesus besonders am Herzen? Sie stießen auf das Jesuswort: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,34). Dieses Wort traf sie tief. Chiara Lubich berichtet: „Wir schauten uns gegenseitig an und fassten den Entschluss, in unserer kleinen Gruppe, die Verwirklichung dieses Gebotes zu sein, das Jesus das „seine“ genannt hat.“ (2)
Sie verstanden: Wie er uns geliebt hat – das ist etwas Radikales, etwas Absolutes. Jesus hat sein Leben gegeben. Die Liebe, von der Jesus spricht, schließt eine Liebe ein, die alles gibt, die auch das eigene Leben für den anderen einsetzt, wenn die Situation es erfordert. Sie entschieden sich gemeinsam für diese gegenseitige Liebe, weil sie in der Bibel die radikale Liebe Jesu des Gekreuzigten kennen gelernt hatten. Dazu bemerkt Chiara Lubich: „Wir wussten, dass Jesus in seiner Liebe für uns gestorben war, deshalb mussten auch wir bereit sein, füreinander das Leben zu geben. Das war für uns wie eine echte Bekehrung. Denn wir hatten die Entscheidung getroffen, die gegenseitige und beständige Liebe zur Grundlage unseres Lebens zu machen, ganz gleich, wie es ausgehen würde. Morgens, bevor wir zur Eucharistiefeier gingen, fragten wir uns: Sind wir bereit, füreinander das Leben zu geben?“ (3) .
Angesichts der Verwüstungen des Krieges und unter ständiger Lebensgefahr, erkannte diese Gruppe: Nur Gott hat Bestand. Er allein bleibt. Diese Erkenntnis führte sie dazu, sich ohne Bedingung für diesen Gott zu entscheiden, sich ganz in seine Hände zu geben und nach seinem Willen zu fragen. Die Wahl Gottes und die Frage nach seinem Willen führte sie zur Bibel, zum Neuen Testament, zu den Evangelien und damit zu Jesus selbst. Es entwickelte sich die Praxis, die Worte Jesu sozusagen eins zu eins in den Kriegsalltag mitzunehmen und konkret umzusetzen. Die Überraschung war groß. Es kam zu einer nicht enden wollenden Kette von Taten und Aktionen zugunsten der Armen, der Obdachlosen und Verwundeten. Zugleich entdeckten sie, dass dieser Jesus lebt und sie durch sein Wort begleitet und führt. Das gelebte Wort Gottes öffnete ihnen die Augen für die Verheißung: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“. Je mehr sie sich auf dieses in Mt 18,20 überlieferte Wort einließen, desto mehr erkannten sie: Der Auferstandene Christus ist wirklich unter uns gegenwärtig. Er schenkt seine besondere Gegenwart, wenn wir gemäß seinem Willen in der gegenseitigen Liebe vereint sind. Das Bemühen um die gegenseitige Liebe formte die kleine Schar zu einem ekklesialen Raum, in dem Gott zu wirken begann.
Dazu schreibt Chiara Lubich: „Wie zwei Pole einer elektrischen Leitung Licht hervorbringen, wenn sie miteinander in Kontakt kommen, so brachte die gegenseitige Liebe unter uns etwas Neues hervor, als sie uns miteinander vereinte: Wir erlebten, was das Wort des Evangeliums bedeutet: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Jesus war wie ein Bruder geistiger Weise in unserer Mitte. Er allein war das Fundament unserer neuen geschwisterlichen Gemeinschaft… Seine Gegenwart unter uns half uns, die tiefe Bedeutung der Worte Jesu im hohenpriesterlichen Gebet zu verstehen: „Alle sollen eins sein“ (Joh 17,21). Wir glaubten, dass nur Jesus in der Mitte die Einheit hervorbringt, um die er vor seinem Tod gebetet hat. Jesus mitten unter uns – eine großartige Erfahrung! Vielleicht wird man nie genau sagen können, wann er unter uns ist. Seine Gegenwart setzt voraus, dass seine Gnade in uns lebendig ist, und dessen kann niemand ganz sicher sein. Doch wenn unser gemeinsames Leben auf der ehrlichen Bereitschaft gründete, füreinander da zu sein, auch das Leben zu geben, wie Jesus es uns aufgetragen hat, und wenn unser Handeln dem Wort nicht widersprach: „Vor allem haltet fest an der Liebe zueinander“ (1 Petr 4,8), dann glaubten wir oft seine Gegenwart in aller Schlichtheit wahrzunehmen.“ (4)
In dieser Gruppe ereignete sich eine radikale Wende in der Gotteserfahrung. Während die Jugendlichen vorher die Gegenwart Gottes hauptsächlich in der Mitfeier der hl. Messe und im Empfang der konsekrierten Hostie der Eucharistie erlebt hatten, ging ihnen jetzt die Gegenwart auf eine unmittelbare Weise neu auf. Nie hatten sie zuvor damit gerechnet: Jesus, der Auferstandene, lebt. Er erweist sich als eine lebendige Person. Er legt ihnen die Schrift aus. Er führt sie in eine bisher so nicht gekannte Einheit und schenkt ihnen eine fast unerschöpfliche Kraft, sich den Armen, Obdachlosen und allen Menschen zuzuwenden.
Wie Ignatius von Loyola in der Erfahrung von Trost (consolatio) und Misstrost (desolatio) in seiner Seele unterscheiden lernte, was Gottes Geist von ihm wollte, so erkannte Chiara Lubich und mit ihr die ersten Fokolarinnen, wie sie später in Trient genannt wurden, was die Gegenwart Jesu unter ihnen fördert und was sie hindert oder sogar unmöglich macht. Die gegenseitige Liebe und die damit implizit gegebene Bereitschaft, mit der Schwester bzw. mit dem Bruder alles zu teilen und für diese auch das eigene Leben einzusetzen, öffnete den Raum für die Gegenwart des Auferstandenen. Menschliche Grundhaltungen bekamen in diesem Kontext eine spirituelle Dimension: aufeinander hören, miteinander teilen, den anderen ernst nehmen, sich zurücknehmen, ein klares Wort sagen, verzeihen, nicht nachtragend sein, Fehler sehen und doch nicht verurteilen, die anderen aushalten, sich selber nicht zu wichtig nehmen.
Sehr schnell wurde die Erfahrung der Gegenwart des Auferstandenen Christus zur Leitidee der Fokolarinnen. Aus einer spirituellen Gruppe wuchs eine Lebensgemeinschaft auf Jesus in der Mitte hin. Der Ortsbischof, dem sich die jungen Frauen mit ihrer Erfahrung und Entdeckung anvertrauten, riet ihnen zunächst, den Ausdruck „Jesus in der Mitte“ nicht mehr zu gebrauchen, weil er völlig neu und somit gefährlich sei. Als er aber erkannte, dass mit einer solchen Anordnung der Gruppe das Herz genommen würde, machte er den Weg frei, ganz gezielt dieses Leben mit Jesus in der Mitte weiterzuführen. Die Verheißung Jesu „Wo zwei oder drei“ wurde so zu einer neuen Grundformel für das Christ- und Kirchesein.
Diese Idee und die damit verbundene konkrete Gemeinschaft breiteten sich fast wie von selbst über Italien und weit darüber hinaus aus. Das Leben mit Jesus in der Mitte hatte die Kraft, vom Evangelium her, eine neue Dynamik in das Leben der Gemeinden und der Kirche und später auch in die Ökumene zu bringen.
Als etwa 20 Jahre später das II. Vatikanische Konzil in der Kirchenkonstitution und in der Liturgiekonstitution die lebendige Gegenwart Jesu in der Kirche neu entdeckte und herausstellte, wurde das Wort Jesu „Wo zwei oder drei…“ von Mt 18,20 zu einem geflügelten Wort und fehlte tatsächlich in keinem Dokument, welches vom Konzil verabschiedet wurde. Diese Tatsache war faktisch eine Bestätigung des Weges mit Jesus in der Mitte, den die Fokolar-Bewegung eingeschlagen hatte, und öffnete kirchenrechtlich den Weg für die Anerkennung der Fokolar-Bewegung.
Die Fokussierung auf das Leben mit Jesus in der Mitte führte zu neuen Formen geistlichen Lebens.
a. Pakt der gegenseitigen Liebe
Weil die gegenseitige Liebe im Sinn des Neuen Gebotes Jesu die Grundvoraussetzung für ein solches Leben ist, brauchte es eine feste Vereinbarung, in diesem Geist miteinander zu leben. Es entwickelte sich der Pakt der gegenseitigen Liebe. Es ist das persönliche Versprechen voreinander und miteinander, im Vertrauen auf die Gnade Gottes, für den anderen zu leben bin hin zur Hingabe des eigenen Lebens für den anderen. Ein solcher Pakt ist etwas Außergewöhnliches und bedarf der Vorbereitung und Einübung und auch der wiederholten Erneuerung. Die Eucharistiefeier wurde fast wie von selbst der Ort der täglichen stillen Erneuerung dieses Paktes. Begleitet wird dieser Pakt durch das Leben der Einheit, die sich aus der gegenseitigen Liebe und aus Joh 17,21 ergibt. Um diese Einheit hat Jesus ganz konkret gebetet: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“
b. Austausch über das Leben nach dem Wort
Der regelmäßige Austausch über das Leben gemäß dem monatlich neu vereinbarten Wort des Evangeliums erwies sich als unkompliziertes, Gemeinschaft stiftendes Element im Leben dieser jungen Gemeinschaft. Der regelmäßige Austausch über das Leben nach dem Wort erweiterte nicht nur den Horizont der Teilnehmenden, sondern führte geradewegs auf eine vertiefte Gemeinschaft mit dem Auferstandenen Christus hin. Dieser regelmäßige Austausch wurde zu einer grundlegenden Form dieses gemeinschaftlich orientierten geistlichen Lebens.
c. Austausch über das Leben mit Gott
Eine weitere, zentrale neue Form kam hinzu: Der Austausch in der Gruppe über das Leben mit Gott, auch über das Leben des Einzelnen mit Gott, italienisch „comunione d´anima“ genannt. Diskretion und Reife der Personen sind die nötige Voraussetzung, an der immer auch gearbeitet werden muss. Wo diese „comunione d’anima“ gelingt, entwickelt sich ein sehr tiefes geistliches Klima, das die Nähe des Auferstandenen Christus erahnen lässt und Freude, Friede, Kraft und neue Ideen freisetzt. Dieser Austausch ist mit das Schönste am Leben in einer kleinen Fokolargruppe.
d. Stunde der Wahrheit
Störungen des gemeinsamen Lebens bleiben nicht aus. Es kommt auch zu Blockaden in der Gruppe oder zu Krisen des Einzelnen. Ein spiritueller Ort, damit umzugehen, ist gewiss die Beratung, die geistliche Begleitung und auch das Sakrament der Versöhnung.
Zur Entdeckung der Gegenwart des Auferstandenen Christus gesellte sich sozusagen als die andere Seite derselben Medaille die Entdeckung der absoluten Liebe des Gekreuzigten und verlassenen Christus. Weil Jesus am Kreuz in seinem Verlassenheitsschrei die tiefste Einsamkeit und das bis in tiefste persönliche Abgründe reichende Verkanntsein in seiner Beziehung zu Gott seinem Vater erfahren hat und angenommen hat, ist er jener, der die Verlassenheit der Menschen auf sich genommen hat, aushält und in Liebe verwandelt. Wer dem eigenen Schatten im Blick auf den Gekreuzigten nicht ausweicht, sondern gerade in solchen Situationen ihn, den Gekreuzigten und Verlassenen, in dessen absoluter Liebe glaubend erkennt, kann genau dort, wo sich Konflikte in der Gemeinschaft auftun, die Gegenwart dieses lebendigen Christus erfahren. Er wird dadurch in eine Dynamik hineingenommen, die das Negative aufnimmt, ja verwandelt. (6)
So wird im Leben mit Jesus in der Mitte Negatives in der Regel nicht zugekleistert, sondern um einer echten Harmonie willen wird das Leben in der Gemeinschaft und beim einzelnen angeschaut. Dies geschieht in der „Stunde der Wahrheit“. Unter kundiger Leitung und in freiwilliger Absprache werden die geistlichen Stärken und auch die persönlichen Schwachpunkte des Einzelnen angeschaut, um einander auf dem Weg des Christseins zu helfen. Viele finden so neuen Mut und Zutrauen zur Eigenverantwortung. Die „Stunde der Wahrheit“ vertieft die Erfahrung der Gegenwart Jesu in einer Gruppe und bringt diese neu zum Leuchten. Dies ist oft auch die Gelegenheit, den Pakt der gegenseitigen Liebe zu erneuern.
Diese vier näher beschriebenen Strukturen eines Lebens mit Jesus in der Mitte, die sich im Fokolar herausbildeten, werden von Chiara Lubich auch treffend „Hilfsmittel einer gemeinschaftlichen Spiritualität“ genannt. (7)
Das Leben nach dem Wort des Evangeliums mit dem Blick auf die ständige Gegenwart des Auferstandenen Christus in der kleinen Gemeinschaft breitete sich nach dem Krieg in ganz Italien aus. Schnell auch wurden Priester, Kapläne und Pfarrer, aber auch Ordenspriester auf dieses einfache gemeinschaftliche Leben nach dem Evangelium aufmerksam und suchten ihrerseits ganz bewusst Kontakt. Die Ferien, die die entstehende Bewegung ohne große Organisation, aber im Geist der gegenseitigen Liebe in den Dolomiten über die Sommermonate hin verlebte, war für viele Priester ein tiefes und prägendes Erlebnis. Die Fokolarinnen nannten diese Tage Mariapoli, Stadt Mariens, weil sie wie Maria heute Menschen mit der Gegenwart des Auferstandenen Christus in Berührung bringt. Gerade deswegen war ein solches Leben, wie es diese jungen Frauen und mit ihnen so viele Laien lebten, auch für Priester anziehend. Begegneten Priester hier nicht einer Erfahrung mit biblischen Wurzeln, die mitten in der Welt, sozusagen vor Ort im säkularen Bereich, eine Gegenwart Gottes ermöglichte, die offenbar für jeden zugänglich ist und zugleich dynamisch neue Formen der Gemeinschaft freisetzt?
Auch mir persönlich ist es so ergangen. Ich lernte bei einem solchen Treffen Diözesanpriester kennen, die eine einfache Form, die gegenseitige Liebe zu leben, gefunden hatten. Sie trafen sich wöchentlich oder monatlich, oft für einen ganzen Tag, und hielten auch zwischendurch miteinander Kontakt, einzig mit dem Ziel, diesem Jesus in der Mitte auf der Spur zu bleiben. Mich hat von Anfang an die klare christologische Ausrichtung auf Jesus in der Mitte angesprochen - mit der Fokussierung auf das Leben nach dem Wort des Evangeliums, auf die radikale Wahl Gottes und die konkrete, in einer Gruppe verbindlich gelebte gegenseitige Liebe.
Ich entdeckte bei diesen Priestern einen geistlichen Ort, den Ort der Freundesgemeinschaft Jesu, nicht ein festes Haus, auch nicht einen Verein, sondern eine Gruppe, die sich jeweils neu im Namen Jesu versammelte. Sie glaubten daran, dass die Gegenwart des Auferstandenen Christus in der brüderlichen bzw. geschwisterlichen Liebe erfahrbar wird, wenn diese sich von den Worten Jesu im Evangelium inspirieren lässt. Aus der gegenseitigen Liebe heraus entwickelten sie Formen des Gebens und Teilens bis hin zur Gütergemeinschaft. Sie waren bereit, den anderen in seinem Sosein zu erfahren, gerade auch dort, wo es weh tut bzw. wo der andere einem nicht liegt. Das Jesuswort: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13) war für sie zunächst einmal der Anlass, im Alltag den anderen anzuhören, auszuhalten, zu verstehen und für ihn da zu sein. Ich erlebte, dass diese Grundhaltung zu einer verlässlichen und verbindlichen Gemeinschaft unter Priestern führte. Dass die Kraft für ein solches Leben aus dem Gebet, aus der gemeinsamen Meditation und auch aus der Begegnung mit dem gekreuzigten Jesus kommt, verwunderte mich nicht.
Diese Priester hatten Formen der gemeinschaftlichen Spiritualität, wie sie im Fokolar entwickelt worden sind, in ihr Leben übernommen: Den Austausch über das Wort, die „comunione d’anima“, die Stunde der Wahrheit und allem voran der Pakt der gegenseitigen Liebe. Ich habe erfahren, dass Priester sich auf diese Weise näher kommen und dass man doch man selbst bleibt, so dass die persönliche Identität vertieft wird.
Diese Erfahrung in der Priestergruppe und die darin erlebte Freude, Dynamik und Kraft, wirkten sich für mich und meinen Dienst in der Kirche positiv aus. Mich beeindruckte auch, dass sich aus diesem Ansatz heraus unterschiedliche Formen gemeinsamen Lebens unter Priestern entwickelten. Formen, die vom wöchentlichen oder monatlichen Treffen bis hin zu einer verbindlich gelebten Vita communis im Pfarrhaus gingen. Die Neu-Entdeckung des Pfarrhauses als einem Ort für das gemeinsame Leben und als einem Ort der erfahrbaren Nähe des Auferstandenen Christus für die Gemeinde zeigte mir, dass das von mehreren Priestern „besiedelte“ Pfarrhaus auch heute für die Gemeinde von hoher Aktualität ist.
Es zeigten sich an einer solchen kleinen geistlichen Gemeinschaft weit reichende Auswirkungen bis in den pastoralen Dienst hinein. Es kann sich eine neue Art der Verkündigung entwickeln, die beim Austausch über die Erfahrung mit dem gelebten Bibelwort ansetzt und ihrerseits in den Gemeinden neue Formen, etwa auch des Bibelteilens freisetzt. In dieser kleinen Gemeinschaft ist es möglich, der aktuellen Situation einer sich auflösenden Volkskirche kreativ zu begegnen. Fragen wie: „Ist Gott in unseren Gemeinden und Gemeinschaften anwesend? Können wir Menschen, die auf der Suche nach Gott sind, in unsere Gemeinden führen, damit sie dort Christus finden?“ (9) lähmen nicht, sondern verweisen auf einen Weg, den zu gehen es sich lohnt.
Für mich selbst war es ein großer Glücksfall, dass ich diese Spiritualität von Jesus in der Mitte kennen gelernt habe. Mein pastorales Tun in der Gemeinde und auf so unterschiedlichen Ebenen von Bildungsarbeit, Priestererziehung und Mitarbeit in Räten und Gremien bekam von daher eine Prägung, die auf die Formung des Einzelnen und den immer neuen Versuch, in den Gruppen und Gremien für die Gegenwart des Auferstandenen Christus da zu sein, ausgerichtet war. Die Verbindung mit jenen, die an anderer Stelle als Laien aus dem gleichen Charisma heraus ihr Leben gestalten, ist für mich sehr hilfreich, weil so am leichtesten eine gewisse Neigung zu klerikalem Trott oder zu institutioneller Routine aufgefangen werden kann. So wird auch die vom II. Vatikanischen Konzil geforderte Eingliederung des Priesters in das Volk Gottes lebensmäßig ermöglicht.
Die Spiritualität der Gemeinschaft passt gut in unsere heutige Gesellschaft hinein, in der viele Menschen drastisch erleben, wie Nachbarn und Freunde sich fast wie von selbst von der Kirche und vom Christsein verabschieden. Wer seinen Glauben für sich allein lebt, droht zu vereinsamen und hat dann weniger Ressourcen zur notwendigen immer neuen Vertiefung des Glaubens und des Gehens an die Quelle, die Christus ist.
Ein gemeinschaftlicher Weg mit dem lebendigen Christus in der Mitte gibt dem Christsein in unserer Kultur neuen Schwung. Hier ist ein Paradigmenwechsel angezeigt – vom individuellen zum gemeinschaftlichen Christsein. Das Ziel einer lebendigen spirituellen Verbindung unter Menschen macht den Weg frei zu einer Gemeinschaft, die unsere Gesellschaft von Grund auf erneuern kann. Hier ergeben sich Möglichkeiten, die eine neue Dynamik in so unterschiedlichen Bereichen wie Theologie oder Ökonomie, Medizin, den Medien oder der Politik frei setzt.
Die Väter des II. Vatikanischen Konzils haben wie schon erwähnt die Gegenwart des auferstandenen Christus in der Versammlung und in der Gemeinschaft der Christen herausgestellt. In beeindruckender Klarheit weisen sie im Dekret „Über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae caritatis“ den Ordensgemeinschaften diesen Weg.
„Das Leben in Gemeinschaft nach dem Beispiel der Urkirche, in der die Menge der Gläubigen ein Herz und eine Seele war, soll, genährt durch die Lehre des Evangeliums, durch die Heilige Liturgie, vor allem die Eucharistie, in Gebet und Gemeinsamkeit des Geistes beharrlich gepflegt werden. Die Ordensleute sollen als Glieder Christi im brüderlichen Umgang einander mit Achtung zuvorkommen; einer trage des anderen Last. Denn durch die Liebe Gottes, die durch den Heiligen Geist in den Herzen ausgegossen ist, erfreut sich eine Gemeinschaft, die wie eine wahre Familie im Namen des Herrn beisammen ist, seiner Gegenwart. Die Liebe aber ist die Erfüllung des Gesetzes und das Band der Vollkommenheit; in ihr wissen wir, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergeschritten sind. Ja, die Einheit der Brüder macht das Kommen Christi offenbar, und es geht von ihr eine große apostolische Kraft aus“. (10)
Papst Paul VI. hatte schon vorher bei seinem Pastoralbesuch in der römischen Pfarrei S. Maria Consolatrice am 1. März 1964 die Frage gestellt: „Sind die Gläubigen in der Liebe, in der Liebe Christi vereint? Dann ist dies sicher eine lebendige Pfarrei. Dann ist hier die wahre Kirche. Denn hier ist das göttlich-menschliche Phänomen voll entfaltet, das die Gegenwart Christi unter uns fortwähren lässt. Sind die Gläubigen nur zusammen, weil sie beim Einwohnermeldeamt oder im Taufregister eingetragen sind? Sind sie nur versammelt, wenn sie am Sonntag gemeinsam die Messe feiern, ohne einander zu kennen, wobei sie vielleicht sogar miteinander im Streit liegen? Wenn es so ist, ist die Kirche nicht fest gefügt. Der Zement, der aus allen eine reale, organische Einheit formen muss, hat noch nicht seine Wirkung getan. … Erinnert euch an das feierliche Wort Christi: Sie werden euch als meine Jünger erkennen, wenn ihr einander liebt. Wenn diese Wärme des Mitfühlens der Liebe da ist, wenn die mehr gewollte als empfundene, die mehr bewusst aufgebaute als spontane Sympathie unter euch ist, verbunden mit der Weite des Herzens und der Fähigkeit, Jesus in unserer Mitte zu zeugen (weil wir uns wahrhaft eins fühlen in ihm und durch ihn), erst dann werdet ihr wirklich als seine Jünger erkannt, als echte Jünger Christi und Gläubige“.(11)
Es kann deswegen nicht verwundern, dass Papst Johannes Paul II. in seinem Schreiben „Novo millenio ineunte“ die Kirche als Ganze auf die communio verweist und vorschlägt, aus der Kirche und aus den Gemeinden „eine Schule und ein Haus der Gemeinschaft zu machen“ . Die Realität einer geisterfüllten, christusbestimmten Gemeinschaft ist ein Angebot, auf das unsere Welt heute mehr denn je wartet. Mir scheint, ja ich bin gewiss, dass die Entdeckung des Lebens mit Jesus in der Mitte ein echter Beitrag ist zur Ermöglichung dieser von Johannes Paul II. so eindringlich vorgestellten Spiritualität einer Gemeinschaft.
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(1) vgl. Chiara Lubich, Einheit als Lebensstil, München, 3. Auflagen, 1989, S. 8
(2) vgl. Chiara Lubich, a.a.O. S. 8
(3) vgl. Chiara Lubich, a.a.O. S. 9
(4) vgl. Chiara Lubich, a.a.O. S. 10
(5) vgl. Chiara Lubich, Una via nuova – la spiritualità dell`unità, Rom 2002 (deutsch: Ein Weg in Gemeinschaft. Vorträge über die Fokolar-Spiritualität. Für den privaten Gebrauch. Friedberg 2003)
(6) vgl. Chiara Lubich, Der Schrei der Gottverlassenheit. Der gekreuzigte und verlassene Jesus in Geschichte und Erfahrung der Fokolar-Bewegung, München 2001
(7) vgl. Chiara Lubich, Strumenti di una spiritualità collettiva, Rom 1999
(8) vgl. Klaus Hemmerle, Unser Lebensraum – der Dreifaltige Gott. Die Gotteserfahrung von Chiara Lubich, in: DAS PRISMA, 6. Jahrgang, 1994/1, S. 17–23
(9) vgl. Klaus Hemmerle, Gott zwischen uns. Gemeinschaftsbezug christlicher Glaubenserfahrung, München 1976
(10) Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens, 15
(11) vgl. Insegnamenti di Paulo VI., Rom 1965, II 1072-1074
(12) Novo millenio ineunte, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 150, Bonn, 6.1.2001, S. 39–40
Wilfried Hagemann
Aus: PRISMA, 2005