Jahresrundbrief 2007

Münster, im Mai 2008

Liebe Verwandte, Freunde und Bekannte!

Dieses Jahr kommt mein Jahresrundschreiben ziemlich spät, aber es drängt mich durch diesen Brief den Kontakt zu den vielen Menschen zu halten, denen ich mich persönlich verbunden wissen darf.

Ganz lebendig steht die Begegnung mit meinem Abiturjahrgang 1957 in meiner Erinnerung. Nach dem silbernen Jubiläum trafen wir uns zum zweiten Mal in Wilhelmshaven. Wir waren sofort im Gespräch und konnten uns viel besser verstehen als damals. Da ich erst später in diese Schule gekommen war, bedingt durch den Umzug meiner Familie von Duderstadt 1952 nach Wilhelmshaven, hatte ich es zunächst sehr schwer in dieser Klasse 9. Die Fächer Latein, Griechisch, Deutsch und Mathematik interessierten uns sehr, aber meine Klassenkameraden hatten unter sich bereits ein Jahr zuvor den Beschluss gefasst, grundsätzlich keine Schularbeiten zu machen. Ich wollte mich diesem Beschluss nicht anschließen, was ich der Klasse bereits am ersten Tag mitteilte. Daraufhin setzte ein richtiges Mobbing gegen mich ein, was auch die Beschädigung meiner Hefte und Bücher mit einschloss. Nach einem Jahr klärten sich die Fronten, und die Klasse wählte mich zum Klassenbuchführer. Danach hatte ich äußerlich Ruhe. Wohl beunruhigten mich damals innerlich viele Fragen an den Glauben, an Gott, an Jesus Christus und bezüglich der Kirche. Außer mir waren nur zwei in der Klasse katholisch, drei waren nicht getauft und 21, mit wenigen Ausnahmen, nominell evangelisch.

Kann man sich die Überraschung vorstellen, die mich am ersten Abend meines Goldenen Abiturjubiläums ereilte, als ein ehemaliger Mitschüler plötzlich aufstand und mich im Namen der ganzen Klasse öffentlich fragte, wie ich mich denn anfangs gefühlt hätte. Ich habe ehrlich geantwortet: „Schrecklich, es war schlimm.“ Daraufhin sagte er: „Wir sehen das heute genauso, wir haben dich unmöglich behandelt, das geht uns heute noch nach. Wir möchten dich dafür ausdrücklich um Verzeihung bitten.“ Diese habe ich ihnen dann sofort gewährt, und es entwickelte sich eine tiefe neue Verbundenheit unter uns allen. Zwei meiner Klassenkameraden fragten mich, ob ich am nächsten Tag, einem Sonntag, einen Gottesdienst feiern würde. Ich habe sie daraufhin in die Kapelle des Sankt Willehad-Hospitals auf 8.45 Uhr eingeladen. Sie sind tatsächlich gekommen und bedankten sich anschließend bei mir. Sie hatten in der kleinen Gemeinde von älteren und teilweise kranken Menschen eine starke Gegenwart Gottes gespürt. Einer der beiden bat mich, ihn immer zum Gottesdienst einzuladen, wenn ich in Wilhelmshaven sei. Am Weißen Sonntag dieses Jahres ist dieser Klassenkamerad, Dirk Röller, plötzlich an Herzinfarkt gestorben. Seine Frau Gisela rief mich wenige Tage später an, weil sie in seinem Kalender einen Vermerk zu einem künftigen Gottesdienst mit mir gefunden hatte.

Im Oktober feierten wir ehemaligen Studenten (Alumnen) des Pontificium Collegium Germanicum et Hungaricum, des deutsch-ungarischen Kollegs, dessen Name das ehemalige Heilige Römische Reich Deutscher Nation widerspiegelt, unser goldenes Eintrittsjubiläum 1957. Obwohl einige durch Krankheit verhindert waren, darunter auch unser Kurskollege Kardinal Karl Lehmann, fanden wir uns zu sehr tiefen und gleichzeitig entspannten Tagen zusammen. Unsere Lebensläufe sind sehr unterschiedlich verlaufen: einer ist inzwischen russisch-orthodox geworden, ein anderer laisiert und verheiratet. Besonders bewegte mich, dass auch ein Kollege gekommen ist, den der damalige Rektor, ohne uns dies mitzuteilen, den Zugang zum Priestertum verweigert hatte. Dieses erste Zusammentreffen versöhnte ihn und brachte uns alle einander näher. Drei von uns sind bereits verstorben: Christoph Walter (Stuttgart), Karl Streitberger (Augsburg) und Franz Furger (Münster). In den Gottesdiensten gedachten wir ihrer besonders.
Ein Höhepunkt dieser Tage war der Besuch in der Capella Sancta Sanctorum beim Lateran, wo uns der Mitbruder Dr. Max Eugen Kemper die älteste Christus-Ikone Roms zeigte und in die Spiritualität dieser frühen Epoche der Kirche einführte.

Zu einem weiteren Jubiläum, wieder unter dem Zeichen der 50 Jahre, gab es in Berlin ein besonderes Fest. Hier feierte die Fokolar-Bewegung, dass sie seit 50 Jahren mit ihrem Engagement für Einheit und Ökumene in Deutschland präsent ist. Ich habe mich sehr gefreut, in der Vorbereitungsgruppe für diesen Festakt in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt mittun zu dürfen. Besondere Höhepunkte waren die beiden Festvorträge von Frau Gesine Schwan, Präsidentin der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder und von Bischof i. R. Christian Krause, vormals Präsident des Lutherischen Weltbundes. Mich hat besonders gefreut, dass sich meine Bewegung zum ersten Mal in der politischen Öffentlichkeit zeigte, und zwar gerade in Berlin mit Vertretern aus ganz Deutschland. Dieser Blick auf die Verantwortung der Bewegung für Kirche und Gesellschaft in ganz Deutschland ist mir seit Jahren ein wichtiges Anliegen.

In den Reigen dieser Jubiläen gehört auch das 50-jährige der Fokolar-Priester in Deutschland, zu dem wir ein Sonderheft des PRISMA heraus gegeben haben. Dem Heft beigelegt ist eine DVD mit dem Film „Mystik der Gemeinschaft“. Wir wollten nicht in Nostalgie schwelgen, sondern die heutige Situation der Priester und glaubwürdige Ansätze einer gemeinschaftlichen Lebensform für Priester unter die Lupe nehmen. Natürlich halten wir auch jene Personen in Ehren, die den Mut hatten, sich auf eine damals in Deutschland völlig unbekannte Spiritualität einzulassen, weil sie darin Perspektiven für die Erneuerung des priesterlichen Lebensstils sahen. Ich denke besonders an den späteren Bischof Klaus Hemmerle, an den langjährigen Spiritual von Freiburg Dr. Rudolf Herrmann, an Pater Hans Heilkenbrinker von Münster/Ottmaring und nicht zuletzt auch an den in Augsburg im Ruhestand lebenden Pfarrer Josef Gleich, dem ich mich besonders verbunden weiß.

In meiner Familie haben wir auch gefeiert. Die Hochzeit von Reina und Alexander Schröder in Altenstadt ist für mich ein besonderes Ereignis, weil dieses Fest auf dem Bauernhof, den mein Bruder Burkhard vor einigen Jahren erworben hat, stattgefunden hat. Weil so viele Freunde zum Einsatz kamen, konnte die große Zahl von Gästen gut verkraftet werden. Mich freute besonders, mit welcher Gläubigkeit und Innigkeit das Brautpaar beim Gottesdienst, den ich halten durfte, mitgetan hat.
Wenige Wochen später durfte ich dann den kleinen Vincent von Angela und Markus Reger taufen, deren Trauung im Mai unmittelbar bevor steht. Auch diese Familienfeier, die in Pullenreuth ganz im häuslichen Rahmen stattfand, hat mir sehr gut getan.
Tiefe Trauer habe ich empfunden, als meine Nichte Monika, selber Ärztin und Nephrologin, und ihr Mann Christian nach der zu frühen Geburt ihres ersten Kindes erleben mussten, dass es nach einer Stunde starb. Dass dieses Kind noch einen Namen bekam und vom Krankenhauspfarrer getauft werden konnte, ja dass es richtig bestattet wurde, war für mich ein ermutigendes Zeichen des Glaubens und eines neuen Umgangs mit der Würde des Menschen. Meine Schwester Hildegard lebt nach ihrer Pensionierung als Apothekerin weiterhin in Wilhelmshaven zusammen mit der ältesten noch lebenden Schwester meiner Mutter, der bald 93-jährigen Tante Tona Raschke. Die jüngste Schwester meiner Mutter, Frau Else Wessbuer, lebt in Münster; ich traf sie kürzlich beim Sonntagsgottesdienst, den ich aushilfsweise in ihrer Gemeinde hielt.
Meinen Bruder Bernward und dessen Frau Ulrike traf ich in den letzten Monaten mehrmals in Berlin. Es ist deren Freude, mich immer mehr mit dem neuen Berlin vertraut zu machen. Ihre Kinder Laura, Kristina und Tobias studieren Medizin, Kulturwissenschaft und BWL in Berlin (Humboldt), Potsdam und Frankfurt/Oder. Unermüdlich arbeitet Bernward als Imker in seinem Garten; von seinem Honig zehrt die ganze Familie. Außerdem spielt er in verschiedenen Orchestern Geige, Bratsche und Flöte. Ulrike arbeitet ehrenamtlich im Eine-Welt-Laden bei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

Meine Schwester Lioba und deren Mann Dieter treffe ich meistens im Urlaub, wenn ich auf dem Weg ins Allgäu bei ihnen in Hoßkirch/Ravensburg vorbei schaue. Sie setzen sich nicht nur für die Umwelt und den Frieden ein, sondern kümmern sich auch intensiv um die Familien ihrer vier Kinder. Ihr jüngster Sohn Felix, dessen Pate ich bin, jetzt voll bestallter Studienrat, feierte an Pfingsten die Taufe seines ersten Kindes, der kleinen Magdalena, die ich kurz nach der Geburt bewundern durfte. Im letzten Urlaub habe ich bei einem Spontanbesuch in Hinterzarten ihn, seine Frau Claudia und deren Tochter Katharina getroffen.

Mein jüngster Bruder Burkhard, der gleich mir noch beruflich voll aktiv ist, leitet weiterhin seine Martins-Apotheke und das von ihm kürzlich aufgekaufte Altenheim. Er erholt sich bei der Führung seines Bauernhofes mit einer beträchtlichen Zahl von Pferden. Seine Frau Gabriele, weiterhin als Ärztin aktiv, ist gleich ihm auf Stadt- und Kreisebene in der Politik engagiert. Es ist sicher selten in Deutschland, dass ein Ehepaar gleichzeitig auf der Liste derselben Partei steht und in den Stadtrat gewählt wird.

Die mir vom Bischof übertragenen Aufgaben im Bistum Münster mache ich weiterhin sehr gerne. Zu den fast 80 ausländischen Priestern, die bei uns im Bistum in der Seelsorge eingesetzt sind und für die ich Ansprechpartner und Einsatzleiter bin, hat sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Dies vertiefte sich besonders, als ich mit ihnen im September 2007 im Hl. Land war.

Der innere Aufbau des Gertrudenstiftes geht weiter. Ich konnte neue Honorarkräfte für die Arbeit im Haus gewinnen und so neue Akzente setzen: Alle vier Monate findet ein geistlicher Tag für Priester und ehrenamtliche Laien unter dem Motto „Weite uns, Gott, in dich hinein“ statt. Wir haben geistliche Angebote für Langzeitkranke, für Krebspatienten und für Trauernde nach einem Todesfall in der Familie neu entwickelt und durchgeführt. Die gemeinsamen Feiern von Weihnachten, Ostern und Pfingsten sowie an Neujahr fanden großes Interesse auch über das Bistum Münster hinaus. Das neue Halbjahresprogramm lege ich diesem Brief bei.

Als Exerzitienleiter bin ich im Laufe des Jahres sehr unterschiedlichen Gemeinschaften begegnet: dem Benediktinerinnenkloster Fahr bei Zürich, der Benediktinerabtei Weltenburg, dem Zisterzienserinnenkloster St. Marienthal bei Görlitz, den Katharinenschwestern im Provinzhaus in Münster, den Schwestern der Unbefleckten Empfängnis im Lourdeskloster zu Münster und schließlich der Katholischen Integrierten Gemeinde in der Villa Cavalletti bei Rom.

Ein Erlebnis besonderer Art war der Besuch in der katholischen Gemeinde Paris-Malakoff. Dort lebt ein Freund von mir. Er ist ein belgischer Fokolar-Priester, der die Berufung spürt, wie Paulus durch eigener Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er ist als Hausmeister in einem Studentenheim beschäftigt und arbeitet wie die übrigen Gemeindemitglieder ehrenamtlich in der Pfarrei. Ich erlebte eine lebendige Gemeinde, die einen zufriedenen Priester hat. Die Art, wie er die anfänglichen Anfragen an seinen Lebensstil durchgetragen hat, und die Anerkennung, die er heute in der Gemeinde findet, zeigen mir, dass sein Weg eine echte Berufung ist. Ich bin froh, dass ich ihn seit Jahren begleiten darf.

In einer Zeit, da viele eher von einem Stillstand in der Ökumene sprechen, habe ich das Gegenteil erlebt. Am 10. Mai 2007 kamen in Stuttgart 9000 Personen in Vertretung von etwa 150 katholischen, evangelischen, freikirchlichen, orthodoxen und anglikanischen Bewegungen unter dem Leitwort: Miteinander für Europa zusammen. Hier bildet sich ein Netzwerk von Christen, das länder- und konfessionsübergreifend der Einheit Europas dienen will.

Noch immer bin ich sehr bewegt, dass Chiara Lubich, die Gründerin und Präsidentin der Fokolar-Bewegung am 14. März dieses Jahres im gesegneten Alter von 88 Jahren in Rocca di Papa/Rom gestorben ist. Ihr Tod löste in mir weniger Trauer als vielmehr eine große Dankbarkeit aus. Ihr verdanke ich eine geistliche Prägung, die mich als Priester ganz bewusst mitten in der Welt leben lässt. Seit 1965 bin ich Chiara Lubich immer wieder persönlich begegnet. Besonders freut es mich, dass sie 1998 der Einladung unseres Bischofs, Dr. Reinhard Lettmann, folgte und im Dom zu Münster vor über 3000 Jugendlichen über das Thema Berufung und über ihren Weg mit Gott gesprochen hat. Am Requiem, das in St. Paul vor den Mauern in Rom gefeiert wurde, konnte ich persönlich teilnehmen. Mich hat sehr berührt, dass ihr schlichter Sarg unmittelbar vor dem Paulusgrab einfach auf dem Boden abgestellt wurde und von drei roten Nelken und einer kleinen Bibel geschmückt war. Das Zeugnis von Vertretern der Weltreligionen, der christlichen Konfessionen und der Bewegungen ließ erkennen, dass diese Frau von jetzt an allen gehört. Ein besonderer Moment war für mich, dass ich noch am selben Abend zusammen mit Hubertus Blaumeiser, dem jetzigen Weltverantwortlichen der Fokolar-Priester, das Grab von Chiara besuchen konnte. Sie war in der Kapelle des Zentrums in Rocca di Papa beigesetzt worden.

In den letzten Wochen begleitete mich die Arbeit für die Neuauflage meiner biographischen Notizen über Klaus Hemmerle. Ich bin überzeugt, dass Klaus Hemmerle als Christ, als Bischof und als philosophischer Denker Ansätze bietet, um in unserer Zeit des Umbruchs die Freude am Christ-Sein und Kirche-Sein neu zu buchstabieren. Das Buch erscheint unter dem suggestiven Titel „Verliebt in Gottes Wort“.

Ich möchte allen danken, die meinen Dienst und mein Leben durch Gebet und praktisches Tun unterstützen und begleiten. Mir persönlich geht es auch gesundheitlich weiterhin gut. Die Wolke einer vermuteten Prostata-Erkrankung hat sich verzogen. Darüber bin ich sehr froh.

Ich grüße Euch herzlich in Erwartung meines 70. Geburtstags, den ich am 30. August – Deo volente – feiern werde.

Wilfried Hagemann

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