Jahresrundbrief 2009

Augsburg, 11. April 2010

Liebe Freunde und Verwandte und Bekannte!

Heute am 11. April wäre mein Vater Joseph Hagemann 100 Jahre alt geworden. Diesen Tag habe ich besonders gefeiert und ihn genutzt, um Rückblick zu halten und gleichzeitig nach vorne zu schauen.

Ich bin nun mittlerweile fast ein Jahr in Augsburg. Ich bin sehr dankbar, hier an diesem auf seine Weise geschichtsträchtigen und ökumenisch wichtigen Ort zu leben. Es ist gut, dass ich mich noch einmal wieder auf den Weg gemacht habe. Dennoch war nicht leicht, die vielen guten Personen in Münster zu „lassen“, mit denen ich mich auch weiterhin so verbunden weiß. Abschied tut weh: der Abschied vom Gertrudenstift, dem erst mittlerweile fünf Jahre „jungen“ Exerzitienhaus in Rheine-Bentlage, der Abschied von den vielen ausländischen Priestern, die ich über Jahre hin begleiten und betreuen durfte, aber auch der Abschied von der Stadt Münster und vom Dom.

Mir ist gleichzeitig deutlich geworden, wie dankbar ich sein darf für die Jahre als Regens, als Rektor in Bentlage und als geistlicher Begleiter so vieler Menschen. Die Abschiedsfeier, die mir das Bistum Münster bereitet hat, macht mich noch in der Erinnerung sehr froh. Der emeritierte Bischof Reinhard Lettmann und unser neuer Bischof Felix Genn nahmen daran teil, und der Generalvikar Norbert Kleyboldt hat so echte und gute Worte gefunden. Alles klingt in meiner Seele nach. Auch meine Wohnung in der Frauenstraße, die in diesen Tagen wieder bezogen worden ist, hat in meinem Herzen einen Platz behalten. Es war vielleicht die schönste Wohnung, die ich bisher bewohnt hatte. Das Wirken meiner Haushälterin Ljuba Popovic, die seit 2004 in unermüdlicher Treue meinen Haushalt geführt hat, teilweise unterstützt von ihrem Mann Jakob, hat der Wohnung ihren Glanz gegeben. Sie verstand es, mich und meinen aktiven Lebensstil zu nehmen und mich darin zu unterstützen. Dass sie meinetwegen ihre endgültige Übersiedlung in ihr Heimatland Kroatien und nach Zagreb hinausgezögert hat, bis ich Münster verlasse, verdient ganz besonderen Dank. Auch meine Mitbewohner im Haus, P. Mario Salon, Pfarrer Dr. Siegfried Franke und die Schwestern Katharina und Anna-Maria vom Centro sind mir heute noch innerlich nahe.

Dann kam Augsburg und Bayern, eine neue Welt, eine neue Umgebung. Aller Anfang ist schwer, bewahrheitete sich wieder. Die Aufnahme in den beiden Pfarrgemeinden Unsere Liebe Frau, in deren Pfarrhaus ich jetzt wohne, und St. Pankratius war einfach, mitbrüderlich und gut. Auch im Priesterhaus Paul VI, in Ottmaring, dem Sitz des entstehenden Zentrums für Spiritualität, wurde ich brüderlich empfangen.

Eine besondere Freude und ein Zugewinn zum Leben der vergangenen Jahre ist die Vita communis, die konkrete Lebensgemeinschaft im Pfarrhaus von Unsere Liebe Frau mit Prof. Dr. Franz Sedlmeier und Kaplan Tobias Häner aus der Schweiz. Tobias ist derzeit auch Promovend bei Prof. Sedlmeier, der einen Lehrstuhl für Altes Testament an der kath. Fakultät in Augsburg innehat. Der Dienst unserer „Pfarrhausfrau“ Dora Strugholtz tut uns gut.

Natürlich habe ich auch in Augsburg das Fokolar gesucht und gefunden. Die kleine Kommunität im Priesterhaus gehört zur Ökumenischen Siedlung von Ottmaring, die auf katholischer Seite von Renata Simon und Herbert Lauenroth und auf evangelischer Seite von Pfarrer Gottlob Heß vertreten wird. Zu meiner Überraschung begrüßten mich schon bei meiner Ankunft am Pfingstmontag am Hauptbahnhof Renata und Herbert zusammen mit Franz Sedlmeier und den Priestern vom Priesterhaus in Ottmaring. Ich war ganz tief berührt.

In Augsburg spüre ich eine besondere Nähe zu Rom. Ich freue mich, dass ich nun die Zeit finde, von hier aus regelmäßig ins Zentrum der Fokolare nach Rom zu fahren und dort einen Beitrag zum Aufbau der Einheit innerhalb der Bewegung zu geben. Auf Wunsch des Bischofs habe ich Münster nicht für immer verlassen, sondern bin einmal im Quartal für eine Woche dort, um für geistliche Gespräche und geistliche Begleitung zur Verfügung zu stehen. Diese Wochen sind immer wieder ein Geschenk.

Im vergangenen Jahr war ich durch meine neuen Aufgaben sehr herausgefordert und „notgedrungen“ mobil:

Dennoch gab es – zu meiner eigenen Verwunderung – Zeit, ein Buch zu schreiben. Es widmet sich den Priestern und möchte einen Beitrag leisten, die priesterliche Identität zu stärken: ein „Gottesmann“ zu sein und den Menschen zugewandt. Das Buch erscheint in den nächsten Wochen.

Beim Umzug von Münster nach Augsburg konnte ich viele Papiere und Texte sortieren. Mir fiel so vieles in die Hände, was ich im Laufe der Zeit geschrieben und auch publiziert hatte. Wie schön wäre es, es über den spezifischen Vortrag oder die konkrete Predigt hinaus, anderen zur Verfügung stellen zu können, dachte ich mir. Immerhin steckt in jedem Text immer auch ein Stück eigenes Erleben. So nahm die Idee einer eigenen Homepage bald konkrete Formen an. Es freut mich, dass sie am 11. April, dem 100. Geburtstag meines Vaters, frei geschaltet wurde und eine weitere Möglichkeit zum Dialog bietet. Wer mich anklicken will, kann dies unter www.wilfried-hagemann.de tun.

Trotz der großen Entfernungen gab es viele Möglichkeiten, meiner Familie zu begegnen:

Mein Herz hat sich im neuen Zentrum für gemeinschaftliche Spiritualität für Priester, Diakone und Seminaristen (ZSP) schon richtig fest gemacht. Das ZSP hat Fahrt aufgenommen. In Gesprächen unter uns Verantwortlichen (Prof. Sedlmeier, Dr. Bauer, Franz Knittel, Martin Gögler, Gerhard Sievers) kristallisiert sich heraus, dass wir katholischen Priestern, evangelischen Pfarrern und orthodoxen Geistlichen einen Lebensraum anbieten wollen. Zuallererst geht es uns um Lebensvollzüge: mitleben, durchatmen, in die Tiefe gehen, Gemeinschaft erfahren, Lebensbrüche verarbeiten und im Gespräch abgeben, Gott neu begegnen, die Erfahrung des Gekreuzigten und Auferstandenen in der Mitte der Seinen vertiefen und erschließen. Wir haben das Untergeschoss im Haus Paul für diesen Zweck frei gemacht. Dort warten auf unsere Gäste fünf Appartements. Es gibt eine Bibliothek und bald auch das Klaus-Hemmerle-Archiv. Ich selbst habe dort auch ein kleines Appartement, das ich bei Tagungen und Veranstaltungen nutze. Für größere Veranstaltungen gehen wir ins nahe Begegnungszentrum der Ökumenischen Siedlung.

Auf unseren Tagungen, zu denen wir einladen, wollen wir pastorale Impulse vermitteln: z.B. zum Aufbau kleiner christlicher, ortsnaher Gemeinschaften in den heute immer mehr zur Regel werdenden großen pastoralen Räumen. Mittlerweile haben wir zwei Tagungen durchgeführt: einmal für 34 Priester, einmal für je 30 Priester und 30 Laien. Wir haben drei Tage reflektiert, wie sich heute sozusagen an der Basis eine neue Gruppierung aus dem Glauben entwickeln kann, gleichsam als freie Initiative und zugleich Trägerpunkt für die Großgemeinden. Die Begeisterung aus diesen Tagungen, die wir auf jeden Fall fortführen wollen, hat schon Früchte in ganz Deutschland gebracht.

Geplant sind auch Exerzitien in Gemeinschaft und Ferienangebote. Unser Projekt ist noch in Entwicklung. Wir gönnen uns gleichsam „Null-Jahre“, um nachdenken und experimentieren zu können und langsam zu verstehen, wo es hingeht. Es ist ein Gewinn, dass unser Zentrum in der Ökumenischen Siedlung in Ottmaring liegt. Von den Verantwortlichen im Fokolar und in der evangelischen Bruderschaft kommen uns Offenheit und Hilfe entgegen. So weitet sich unsere Arbeit im ZSP auch ins Ökumenische und Gesellschaftliche hinein. In einer Zeit, in der unsere katholische Kirche und erst recht die Priester auf dem Prüfstand gestellt werden, kann unser Zentrum, davon bin ich fest überzeigt, in echter Weise Hilfe anbieten.

Die vielen Aktivitäten kann ich nur meistern, wenn ich gleichzeitig Zeiten der Stille und Erholung finde. Vor Ostern habe ich eine Auszeit genommen und bin auf den Spuren von Klaus Hemmerle in Alghero auf Sardinien gewandelt. In den ersten Tagen war Peter Klasvogt mit von der Partie. Es war einfach schön, füreinander Zeit zu haben und über alles sprechen zu können. Hier konnte ich ausgedehnte Wanderungen machen, mich selbst noch einmal neu sammeln, Rückblick halten und meine Erwartungen und Wünsche abklären. Besonders schön war der Kontakt mit meinen italienischen Freunden. Die meisten kenne ich noch von meinen Reisen an diesen Ort früher mit Bischof Hemmerle.

Gründonnerstag war ein besonderer Tag für mich. Ich hatte meinen Freund Bischof Giovanni Dettori in Ales bei Cagliari besucht und mit den 60 Priestern seiner kleinen Diözese das Versprechen als Priester erneuert, wie das jeder Priester am Gründonnerstag tut. Besonders bemerkenswert war für mich die Begegnung mit dem Landtagsabgeordneten Mario Bruno, der nun in der zweiten Legislaturperiode im Regionalparlament von Cagliari tätig ist. Der 45-jährige Politiker steht dem Fokolar nahe und entwickelt aus der Spiritualität der Einheit heraus einen kommunikativen und auf Gegenseitigkeit bauenden Politikstil. Alle 14 Tage macht er das Angebot, dass seine Wähler ihn in einer größeren Versammlung treffen können. 35 freiwillige Helfer arbeiten ehrenamtlich, spüren in seinem Wahlkreis die Probleme auf und teilen sie mit. Jeden Sonntag von 12.00 bis 13.00 Uhr spricht er eine Stunde im Lokalradio über seine Parlamentsarbeit, moderiert von einem Journalisten, mit Interviews zu aktuellen Themen und unter direkter Beteiligung der Hörer, die anrufen können. Auch Beschwerden und gegenteilige Argumente können ihm so vorgetragen werden.

Trauer erfüllt in den letzten Wochen mein Herz. Der Tod von Weihbischof Voss in Münster, hat mich tief getroffen. Bei seiner Beerdigungsfeier im Dom zu Münster konnte ich dabei sein. Ich musste Abschied nehmen von einer Person die mit voller Kraft das Evangelium gelebt hat, die alle Energie und Leidenschaft eingesetzt hat für die Armen, die Ausgegrenzten und die am Rande Stehenden. Ich kannte Weihbischof Voss schon aus meiner Studienzeit in Rom. Er hatte damals meine Familie, die zu meiner Priesterweihe angereist war, in Rom geführt und betreut. Bei seiner Beisetzung erlebte ich den Dank des Bistums an ihn und auch an seine große Familie, die mich immer beeindruckt hat.

Trauer erfüllt mich auch, wenn ich an den plötzlichen Tod von Prof. Erich Zenger denke, der ebenfalls mit mir in Rom studiert hat und als Professor für Altes Testament in Münster in ganz besonderer Weise der „Bibel“ gedient hat, besonders den Psalmen. Er hat alle seine Kräfte eingesetzt, um den Dialog zwischen Juden und Christen zu fördern. Mit ihm habe ich im Gesprächskreis Juden und Christen im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken zusammengearbeitet.

Diese beiden Todesfälle sind für mich auch Mahnung, mich immer bereit zu halten. Dabei wird mir bewusst, dass unser Leben endlich ist, dass ich aber über den Tod hinaus eine Perspektive habe, dass ich auf eine tiefe Gemeinschaft der Freude zugehen darf, dass mir von daher jeder Tag kostbar ist und immer kostbarer wird.

Mit diesem Brief möchte ich danken für die vielen Zeichen der Treue, für die vielen Briefe und Mails, aber auch für manche Geschenke, sogar Geldschenke, die mir in den letzten Wochen und Monaten zuteil geworden sind. Ich habe daran gesehen, wie viele meine Arbeit bewusst unterstützen. Dies erfuhr ich auch durch Ruth Seubert und ihre beide Gefährtinnen von der Hauskirche Fiat Verbum, die vor einem alles daran gesetzt Jahr hatten, dass meine Biographie über Klaus Hemmerle veröffentlicht werden konnte.

Für alle Kontakte bin ich sehr dankbar und möchte mich mit diesem kleinen Lebensbericht dafür bedanken.
Ich versprechen Ihnen auch weiterhin mein Gebet und meine Nähe.

In herzlicher Verbundenheit

Wilfried Hagemann

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