Jahresrundbrief 2011
Augsburg, im Dezember 2011
Liebe Freunde und Verwandte und Bekannte!
In diesen Tagen um Weihnachten und Neujahr weiß ich mich mit vielen Menschen verbunden, die auf meiner „inneren Gebetstafel“ stehen. Ich wünsche Ihnen Gottes Segen, eine gute besinnliche Einkehr und viel Freude im Miteinander in diesen Weihnachtstagen, um für 2012 neue Kraft zu tanken für ein Leben in Offenheit und Zuwendung und mit einem Maß für das Mögliche.
Ein turbulentes Jahr liegt hinter mir. Eine Auszeit wurde mir verordnet. Die Stimme war nicht mehr gut, die Stimmbänder angegriffen. Grund war, wie der Arzt feststellte, eine Überanstrengung. Er schlug vor, mir eine Pause zu gönnen, alles loszulassen und zu entspannen. Meine Wahl für die verordnete Zeit der Ruhe fiel auf Italien, auf einen Ort in der Nähe von Rom, in Distanz zu meinem gewohnten Lebensumfeld, nahe am Priesterzentrum des Fokolars.
So lebte ich insgesamt fünf Monate in Ceccano, in einem Pfarrhaus, in der Gemeinde Herz-Jesu (Sacro cuore), in einem kleinen Appartement, das mir Pfarrer Dante Sementilli und sein Kollege Don Franco Quattrocchi zur Verfügung stellten. Hier konnte ich in aller Freiheit leben, so lange schlafen wie ich wollte, spazieren gehen, die Höhen genießen (1000 m waren in 20 Minuten Autofahrt zu erreichen) und in einem ganz anderen Umfeld als freier Mensch einfach da sein. Dante und Franco haben mich in ein italienisches Kartenspiel eingeführt, das Besen (Scopa) genannt wird. Es wurde jeden Tag nach dem Essen gespielt und entführte mich in eine ganz andere Welt.
Das Pfarrhaus lag in einem neuen Ortsteil, der von italienischen Kommunisten bewohnt und gleichzeitig in einem deutlichen Gemeinde-Aufbruch begriffen war. Die vor zehn Jahren erbaute Kirche, ohne Bänke, nur mit lockeren Stühlen, brachte eine Gemeinschaft von Menschen zusammen, die sich mochten und gegenseitig trugen. Ein Zeichen dafür war, dass jeden Morgen zwei Rentner von etwa 62 Jahren ins Pfarrhaus kamen: Angelino, früher Bahnschaffner zwischen Rom und Neapel, und Franco, früher Arbeiter in der nahe gelegenen Helikopterfabrik. Sie kamen, um der Gemeinde täglich neu ihre Dienste ehrenamtlich, besser freiwillig anzubieten. Sie haben mich auf einigen Touren begleitet, z.B. nach Monte Casino oder Monte Cacume.
Die tägliche Abendmesse um 20.30 Uhr, das anschließende Abendessen und Begegnungen im Haus, rundeten den Tag ab. Die Abendmesse war mir anvertraut, ein guter Anlass, um mit vielen Menschen in Kontakt zu kommen. Der Friseur schnitt mir die Haare, mehrmals umsonst. Auch der dreimal notwendige Arztbesuch verlief „kostenlos“. So lernte ich das gute Herz der Menschen kennen, die in Ceccano leben.
Wöchentliche Besuche in Rom erschlossen mir die Stadt, in der ich vor über 50 Jahren studiert hatte. Vor allem die Altstadt erlebte ich in einer neuen Perspektive. Das habe ich sehr genossen. Die Kraft, die ich aus dieser Auszeit nehmen konnte, wirkt bis heute nach.
Zurück in Augsburg habe ich meine Lebenssituation noch mehr schätzen gelernt. Ich darf in einer Stadt leben, die eine große Geschichte hat und gleichzeitig offen ist für die Moderne und für das Leben der Menschen von heute. Ich freue mich, wenn ich die Stadt mit dem Auto oder dem Fahrrad durchstreife.
Kraft empfange ich aus der Vita Communis mit Franz Sedlmeier. Sein reiches Leben an der Universität Augsburg und am Lehrstuhl für Alttestamentliche Wissenschaft schenkt mir Einblick in heutige Fragestellungen der Theologie und der Kirche. Der tägliche Austausch bei den Mahlzeiten, das gemeinsame Gebet und die Meditation, für die wir uns Zeit nehmen, sind wichtig. Der dritte Priester unserer Vita Communis, Tobias Häner, ist in die Schweiz zurückgekehrt und arbeitet jetzt in Basel an einem pastoralen Projekt und vollendet gleichzeitig bei Franz Sedlmeier seine Doktorarbeit über Ezechiel.
Das Leben in unserer Pfarreiengemeinschaft, bestehend aus der Gemeinde Unsere Liebe Frau, in dessen Pfarrhaus wir wohnen und der Gemeinde Pankratius, die etwa 1 km von unserem Haus entfernt ist, hat große Tiefe. Mittlerweile hat sich eine Gruppe gebildet, die Lebenskraft aus dem Wort Gottes schöpft und die Mut macht, in der unmittelbaren Lebensumgebung als beherzter Christ zu leben. Wir haben im Gottesdienst und später bei einem Besuch eine Familie aus Bagdad kennen gelernt. Es war eine Entdeckung, wie viele liebenswerte Menschen aus dem Ausland nur 150 m von unserem Haus entfernt leben. Der kleine Hausbesuch und später der Besuch bei einer Familie, die ihr Kind taufen lassen wollte, zeigten mir, dass man ganz unbefangen mit den Menschen hier vor Ort ins Gespräch kommen und Freundschaft schließen kann
Was beschäftigt mich thematisch? Ich befasse mich vertieft mit der Theologie von Klaus Hemmerle. Neben Vorträgen, die ich gehalten habe, erscheint nun in einer italienischen Fachzeitschrift „Nuova Umanità“ ein Aufsatz. Dieser ist der Auftakt zu einer Reihe von Beiträgen über Klaus Hemmerle, der derzeit in Italien neu entdeckt wird. Meine Biographie über ihn „Verliebt in Gottes Wort“ wird bald auf Italienisch erscheinen. In Deutschland wird das Thema bestimmt durch die kommende Verleihung des Hemmerle-Preises an Prof. Dr. Hans Maier und die Laudatio von Kardinal Walter Kasper neues Interesse finden.
Ein anderes Projekt ist das Zentrum für Spiritualität (ZSP) in Ottmaring. Das Jahresprogramm 2012 steht. Die innere Gestalt des Zentrums wächst kontinuierlich. Regelmäßig sind Priester im Haus, die eine Zeit dort mit leben. Wir spüren, dass wir das Haus und unsere Dienste auch Laien zugänglich machen möchten. Unser Zentrum soll Laien und Priester ansprechen. Eine gelungene Studientagung mit 70 katholischen und evangelischen Teilnehmern und Landesbischof i.R. Dr. Christian Krause / Braunschweig zum Thema „Reformation heute – Blick zurück und Blick nach vorn“ hat uns gezeigt, wo die Stärken des ZSP liegen, Menschen zusammenzuführen und Gott darin unter uns Raum zu geben.
Im Übrigen arbeite ich weiter in der Redaktion von DAS PRISMA als Vertreter der Herausgeber (= Priester in der Fokolar-Bewegung) mit. Ich bin gern mit den unterschiedlichsten Autoren im Gespräch. Die Zusammenführung der Artikel zu einem Guss pro Heft ist immer wieder eine Herausforderung. Die Themen: Ich gehe meinen Weg vor Gott (2010/2), Hörende Pastoral (2011/1), Ekklesiogenese - Der Welt die Gegenwart Gottes schenken (2011/2).
Meine Homepage ist in ständiger Entwicklung begriffen. Ich freue mich über das laufende Interesse. Über einen Google-Dienst kann ich verfolgen, aus welchen Ländern die Nutzer kommen und wie viele es sind. Es kommt immer wieder vor, dass mir Unbekannte schreiben und sich bedanken für die Inhalte und die Texte, die sie dort finden. Sie erhalten Antworten auf persönliche Fragen oder können über die Fotogalerie Anteil nehmen an wichtigen Momenten meines Lebens. Ich bemühe mich immer um Aktualität und bin Irene Huber dankbar, dass sie diese Seiten betreut.
Nahe ging mir dieses Jahr der recht plötzliche Tod meiner Tante Tona, also Antonia Raschke in Wilhelmshaven. Meine Schwester Hildegard hatte den Haushalt mit ihr geteilt und sie in den letzten Jahren bis zum Tod gut begleitet. Sie hat hier große Anerkennung verdient. Leider konnte ich durch meine Zeit in Italien nicht an der Beerdigung teilnehmen. Ich habe noch in den letzten Tagen mit ihr telefoniert und ihre geistige Frische und Zugewandtheit erlebt.
Auch der Tod von Bischof Reinhard Pünder, der vier Tage nach seinem Geburtstag, am 16. Januar 2011, in Brasilien gestorben ist, hat mich tief bewegt. Er war in den letzten beiden Jahren schwer krank und ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Ich habe seine Tapferkeit, seine Klarheit und seine Glaubenshingabe sehr bewundert. Wir kannten uns aus Studentenzeiten in Rom, hatten uns gemeinsam auf den Weg ins Fokolar gemacht und haben über die Jahre immer Kontakt gehalten. Mehrmals war ich zu Besuch in seinem Bistum Coroatà im Nordosten von Brasilien und habe seine missionarische und entwicklungspolitische Arbeit schätzen gelernt.
Beeindruckend, wie seine Familie tatkräftig über Jahrzehnte hin seinen Dienst in Brasilien unterstützte und in der Zeit der Krankheit hinter ihm stand. Gerne würde ich ein Lebensbild von Reinhard Pünder schreiben. Die Familie hat mir ihre Unterstützung zugesagt.
Bei Exerzitien, die ich für Priester und Diakone in Kevelaer und im Kloster Weltenburg gehalten habe, hatte ich bewegende Begegnungen mit geistlichen Menschen, die mitten in der Zeit leben, mitten in der Kirche und mitten in der Gesellschaft. Ich trage weiter ihre Nöte in mir. Es zeigt mir, wie sehr heute ein echtes und tragendes Miteinander unter Priester und Diakonen notwendig ist. Gleiches erlebte ich auch bei einer Fortbildungswoche für junge Priester. Sie leiden an den gewaltigen strukturellen Veränderungen in der Kirche, bringen sich aber gleichzeitig ganz ein. Ganz gegen den Trend, der sonst in diesem Zusammenhang in der Kirche spürbar ist, sehen sie für sich und ihr Tun eine Zukunft.
Wir alle in der Kirche müssen lernen, dass es nicht auf Zahlen, nicht auf die von uns erbrachten Leistungen ankommt. Es geht um ein neues und inneres Hören auf Gott, der sich auch heute in seinem Wort zeigt. Es kommt auf die Bereitschaft an, selber mit dem Glauben ganze Sache zu machen, denn genau auf diese Weise kann der Einzelne tief beschenkt werden.
Bedeutsam war für mich die Teilnahme an der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes in der Rüstkammer des traditionsreichen Rathauses von Münster. Die Geehrte war Annethres Schweder. Sie hat sich in besonderer Weise um das Gespräch zwischen christlichen und muslimischen Frauen verdient gemacht hat. Die anwesenden muslimischen Frauen haben mich sehr beeindruckt, weil sie so wach und aufmerksam und zugewandt zu allen waren.
Die Worte des Oberbürgermeisters Markus Lewe, dass wir heute Menschen bräuchten, die in der Gesellschaft Vertrauen aufbauen und die bereit seien, bestehende Grenzen zu überwinden, zeigten mir deutlich den Weg auf, wo Christen und Nichtchristen, Christen und Muslime heute gut und fruchtbar zusammen arbeiten können.
Abschließen möchte ich mit einem Gedanken von Klaus Hemmerle, der mir in Münster, bei dieser Gelegenheit, in den Sinn kam.
Jeder Mensch ist ein Fenster,
das herrliche, gewaltige Fenster einer Kathedrale.
Aber was ist solch ein Fenster ohne das Licht?
An Weihnachten ist das Licht aufgegangen.
An Weihnachten ist der geboren, der mein Leben erleuchtet,
auch wenn ich darin nur Dunkel finde.
Ich will es hinhalten, dieses Leben,
in sein Licht – und das Fenster wird in Farbe erglühen,
und viele werden Licht sehen.
Ich bin allen, die diesen Brief lesen und empfangen, tief verbunden.
Mit herzlichen Grüßen
Wilfried Hagemann
PS: Wer aus dem Kreis der Leser oder Leserinnen etwas Gutes tun will, kann das Zentrum für Spiritualität finanziell unterstützen. Ich würde mich freuen. Hier das Spendenkonto: Fokolar-Stiftung Ottmaring, Konto 700 22 54 95, Liga-Bank, BLZ 750 903 00, Stichwort: ZSP Ottmaring/Hagemann