Bibelarbeit zu 1. Mose/Genesis 32,23-33
Von Kindheit an hat mich fasziniert, dass es das Wort Gottes gibt. Eine Bibel im gelben Umschlag, gedruckt in den USA, mit einer katholischen Übersetzung, hat mich schon als Schüler begleitet, seit 1948. Ich spürte damals ganz instinktiv: Gott ist also nicht stumm. Er ist nicht wie ein Stein. Er ist eine Person und redet. Er teilt sich mit. Mit seinen Worten sucht er Kontakt mit uns – bis heute – bis in diese Stunde auf dem Kirchentag. Gott spricht so, dass Menschen angesprochen werden und begeistert sind. Sie können nicht vergessen, was Gott gesagt hat. Sie bewahren diese Worte und sie schreiben sie auf, geben sie damit auch weiter an andere. Um das Wort Gottes hat sich eine Gemeinschaft gebildet, die dieses Wort hört – immer neu – und bewahrt. Niederschlag dieser Erzählgemeinschaft ist die Bibel, die Heilige Schrift. In ihr sind die Worte Gottes und die Geschichten, in denen sich Gottes Wort ereignete, gesammelt. Karl Rahner hat deswegen als erstes Identitätsmerkmal des Christen das Hören auf Gottes Wort gesehen und hat deswegen den Christen als »Hörer des Wortes« (1) beschrieben. Wer aber hört, den trifft auf einmal das Wort Gottes – ja, Gottes Fülle und Freude, aber auch Gottes Zumutung und Inanspruchnahme trifft den Hörer und macht etwas mit ihm: Das Wort verwandelt, legt Falsches offen und reinigt. Das Wort nimmt in Dienst für diesen Gott und für die Menschen, zu denen Gott selbst unterwegs ist.
Unsere Bibelarbeit heute morgen hat daher mehrere Ziele:
– Das Wort Gottes in der Jakobsgeschichte hören.
– Hören lernen auf Gottes Wort durch den Blick auf Israel und auf Jesus Christus.
– Das Wort Gottes der Jakobsgeschichte mitnehmen in unsere Zeit, in unsere
Ökumene, in unser Leben als Christin und Christ.
Erst hören und ins eigene Leben aufnehmen – dann weitersagen und bezeugen – auf diese Reihenfolge kommt es an. Dies tun wir als Einzelne. Jede und jeder hört mit seinem Ohr, mit seiner Lebensgeschichte. Jede und jeder aber kann auch mit seinem Mund und mit seinen Taten das Wort Gottes weitersagen. Wir tun dies aber auch als Kirche und als Kirchen.
Hören wir zunächst den Text, der heute an diesem Freitag für die Bibelarbeit
vorgesehen ist.
Unser Posaunenchor stimmt uns ein:
[Herr unser Herr, wie bist du zugegen – Gemeinsam unterwegs Nr. 99]
1. Mose/Genesis 32,23-33
23 In derselben Nacht stand er auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde
sowie seine elf Söhne und durchschritt die Furt des Jabbok.
24 Er nahm sie und ließ sie den Fluss überqueren. Dann schaffte er alles hinüber,
was ihm sonst noch gehörte.
25 Als nur noch er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die
Morgenröte aufstieg.
26 Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihn aufs
Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang.
27 Der Mann sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Jakob aber
entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest.
28 Jener fragte: Wie heißt du? Jakob, antwortete er.
29 Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel
(Gottesstreiter); denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und hast gewonnen.
30 Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! Jener entgegnete: Was fragst du
mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort.
31 Jakob gab dem Ort den Namen Penuel (Gottesgesicht) und sagte: Ich habe Gott
von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen.
32 Die Sonne schien bereits auf ihn, als er durch Penuel zog; er hinkte an seiner Hüfte.
33 Darum essen die Israeliten den Muskelstrang über dem Hüftgelenk nicht bis auf
den heutigen Tag; denn er hat Jakob aufs Hüftgelenk, auf den Hüftmuskel geschlagen.
Unser Bibeltext führt uns in die ersten Anfänge des Volkes Israel, in die Zeit der Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob. Jakob, der zweitgeborene Sohn Isaaks hatte seinem erstgeborenen Bruder Esau durch einen Trick das Erstgeburtsrecht abgenommen und sich den Segen seines Vaters Isaak erschlichen. Nachdem er zwanzig Jahre in der Fremde gelebt und Fronarbeit geleistet hatte und mit seinen zwei Frauen Lea und Rahel und deren Mägden insgesamt elf Söhne gezeugt hatte, ist er nun mit seiner Familie auf dem Heimweg in seine Heimat, in das gelobte Land und ist sich ganz unsicher, ob sein Bruder Esau ihn friedlich aufnehmen wird. Endlich zurück aus dem Exil und der Fronarbeit bei dem Aramäer Laban, endlich nahe am Ziel, kurz vor dem von Gott verheißenen Land, kann sich der Betrüger Jakob des versprochenen und bisher erfahrenen Segens nicht endgültig sicher sein. Der Segen – einst betrügerisch erschlichen – muss nun neu errungen und erlitten werden.
Die Geschichte vom nächtlichen Kampf des Stammvaters Jakob kann auf uns wirken wie eine Filmsequenz (2). Unsere Geschichte spielt am Jabbok, einem östlichen Nebenfluss des Jordan. Der Fluss erweist sich hier als eine Grenze. Er ist auch eine Grenze, die im Leben des Jakob verläuft. Hier an diesem Fluss kommt es nun zu einem Kampf mit einem Unbekannten, zu einem Wortwechsel und zu einem Segen. Schauen wir noch einmal kurz hinein in den Text. Der Kampf mit dem Unbekannten ereignet sich bei Nacht. Jakob bleibt alleine zurück – ohne Zeugen, im Dunkel. Frauen, Mägde und Söhne, der ganze Viehbestand waren bereits über den Fluss geschafft. Von Mann zu Mann ringt ein Unbekannter mit Jakob bis zur Morgenröte. Weil der Unbekannte ihm »nicht beikommen« kann, haut er Jakob auf die Hüftpfanne. Hinken ist das bleibende Mal.
Jakob hält inmitten von Lähmung und Schmerz dem Unbekannten nicht nur Stand, sondern er fordert den Segen des Angreifers: »Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest«. Der Unbekannte segnet Jakob und gibt diesem einen neuen Namen: Israel – Gottesstreiter. »Denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und hast gewonnen«. Jakob empfängt als Antwort auf die Frage nach dem Namen des Unbekannten für immer die Einsicht in sein eigenes Wesen: »Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davon gekommen«. Jakob hinkt: Jakob ist lebenslänglich gezeichnet von der erkämpften und erlittenen und unmittelbar erfahrenen Gott-Ähnlichkeit. Für diese neue Gewissheit gibt Jakob auch dem Ort der Erfahrung einen neuen Namen: Penuel – Gottes Gesicht.
Schauen wir noch einmal genau hin: Worum geht es in dieser Jakobsgeschichte? Hier geht es um Angst und Anfechtung. Hier geht es um Loslassen von Besitz und Festhalten an Gott. Hier geht es um den Segen für ein neues Leben. Im Einzelnen bedeutet dies: Zur Angst im Inneren, die den Jakob zutiefst beschäftigt, zur Angst vor seinem Bruder, zu dieser Angst tritt der Angriff von außen hinzu. Jemand fällt Jakob unversehens an und ringt mit ihm bis zum Anbruch der Morgenröte. Es ist ein langer Kampf, lang und zäh. Es kann kein Zweifel sein, dass der Angreifende Gott selbst ist. Es ist eine Attacke, für die keine Begründung gegeben wird. Fragen liegen nahe und bleiben ohne Antwort.
Jakob gerät durch Gott in die Nacht der Anfechtung. Der verletzte Jakob jedoch lässt nicht los. Wen? Den angreifenden Gott. Wieso nicht? Weil der angreifende Gott sein Gott ist und bleibt. Jakob hat zu dieser Stunde der Nacht nichts als seinen mit ihm kämpfenden Gott. Er hat keinen Besitz mehr, er hat keine Familie mehr, er hat nur diesen einen: den mit ihm kämpfenden Gott. Und er, der Attackierte, hält den attackierenden Gott, der von ihm loskommen will, verbissen fest. Das ist eine paradoxe Situation. Es ist als wenn Jakob ahnen würde, dass, würde er Gott zu dieser Stunde der heraufziehenden Dämmerung loslassen, er selber nur noch vor dem Nichts stehen würde.
Und dann findet mitten in dem schrecklichen Kampf ein Wortwechsel statt. Der Unbekannte spricht eine Bitte aus und Jakob antwortet mit einer Bedingung. Ein verbaler Schlagabtausch. Es geht um das Lassen und das Segnen. Und Jakob wagt es, eine Bedingung zu stellen. Natürlich hat Jakob in diesem Kampf alles, was er besaß, alles, wovon er lebte, Frau und Kinder und Besitz, loslassen müssen. Sie sind jenseits des Flusses. Jetzt hat er nur noch Gott selbst und an ihm hält er fest. »Er lässt ihn nicht los, weil er nicht von ihm ablassen will«. Es sei denn dieser Gott sagt ihm in der Gestalt des Segens seine Nähe neu zu. Was wie ein Paradox klingt, ist in Wahrheit neue Erkenntnis, die Jakob dämmert. Er hat sie in zähem Kampf der langen Nacht errungen. Die Erkenntnis, dass der Mensch alles loszulassen vermag. Nicht freiwillig. Eher unter Widerstand und Schmerzen. Womöglich vom attackierenden Gott so qualvoll berührt, dass er alles fahren lässt. Alles, nur Gott nicht. Er weiß, dass der Mensch ohne Gott nicht einmal mehr eine erbärmliche Kreatur ist. Weil er ohne Gott keinen sich erbarmenden Schöpfer mehr hat.
Hat Jakob diese Erkenntnis sich selbst abgewonnen? Oder dem attackierenden Gott? Oder hat nicht doch er, der attackierende Gott, dem Jakob diese Erkenntnis abgerungen? Der den Segen fordernde Jakob ist im Gotteskampf jedenfalls ein anderer geworden. Er hat das Loslassen gelernt. Er hat gelernt, sich selbst loszulassen und alles, was er mit Stolz sein eigen nannte. Und Jakob hat zugleich das Festhalten gelernt. Er hat gelernt, Gott festzuhalten. Er hat lassen müssen, um sich auf Gott einlassen zu können. Er hat gelernt, um den Segen zu kämpfen. Er weiß, von welchem Gott er den Segen fordert. Von einem Gott, der qualvoll berühren kann. Von einem Gott aber auch, der nicht ablässt von einem, der sich auf ihn, Gott, einlässt. Jakob ist im Kampf ein anderer geworden.
Daraus wird nun die Konsequenz gezogen: Jakob bekommt einen neuen Namen. Israel als neuer Name Jakobs ist ein Ehrenname: Gotteskämpfer heißt er wörtlich übersetzt. Gott zeichnet den Kämpfer aus, der in harter, von Gott selbst bewirkter Anfechtung alles losgelassen hat: seine Familie, seinen Besitz, seine körperliche Unversehrtheit – und sich selbst. Das alles hat er im Kampf losgelassen, nur Gott nicht. Wenn ich dich nur habe (3). Und dann geht die Sonne auf. Jetzt erkennt Jakob klar, mit wem er es zu tun hatte. Im unbekannten nächtlichen Gegner war es Gott selbst, der über ihm blieb, ihm unheimlich nahe und der ihn dann schließlich auch segnete. Jakob gesegnet und behindert seitdem, angeschlagen und ausgezeichnet. So geht ihm die Sonne auf. Weil Jakob Gottes Angesicht begegnet ist, gibt er dem Ort einen neuen Namen: Penuel. Weil er an Gott festhielt, wird ihm ein eines Sehen geschenkt.
Im Licht dieser Erfahrung sieht Jakob nun ihn, seinen Bruder Esau ganz
neu. Gleich im Anschluss an unsere Stelle heißt es: »Jakob blickte auf und sah:
Esau kam und mit ihm 400 Mann ….Er trat vor und warf sich siebenmal zur
Erde nieder, bis er vor seinem Bruder stand. Esau lief ihm entgegen, umarmte
ihn und fiel ihm um den Hals; er küsste ihn und sie weinten ….Und dann kann
Jakob zu Esau sagen: »Ich habe dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht
Gottes sieht, und du bist mir wohlwollend begegnet« (Vgl. Gen 33, 1-11).
[Posaunenchor: Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich ruft, Gemeinsam
unterwegs, 71]
Wir sind weiterhin dabei, hören zu lernen auf Gottes Wort in dieser Geschichte des Jakobskampfes. Wir hören zunächst einmal hin, wie bei den Erstangesprochenen, also bei den Juden, also im Volk Israel, diese Geschichte verstanden wurde.
Die Geschichte von Jakob wird ja in Israel erzählt. Sie ist eine wichtige Geschichte in der hebräischen Bibel. Hermann Spieckermann meint, dass dies »die tiefste Gründungserzählung sein dürfte, die sich je ein Volk gegeben hat«. Israel hat mit seinem Gott in Demut und unter Schmerzen gekämpft. Israel weiß, dass es jenseits des qualvoll abgetrotzten Segens keine Lebenshoffnung hat. Das Volk Israel ist immer wieder in seiner Geschichte in diese Bedrängnis geraten und in diese Anfechtung, wo alles in Frage stand: Sollen wir an diesem Gott festhalten oder nicht? Immer dann wurde auch diese Geschichte erzählt.
Der katholische Theologe Gotthard Fuchs/Limburg stellt fest:
»Transparenz nach vorn, in die Zukunft hinein, zum Typischen hin: Die Geschichte von Jakob, der mit Gott und dem Menschen gekämpft hat und in der Niederlage den besonderen Sieg der Erwählung errang, erzählt in Kurzfassung, was Israel im Laufe seiner Geschichte auf vielfach verschlungenen Wegen je neu widerfuhr. Man denke z. B. nur an den Kampf der Propheten vor dem Exil, an den Kampf Israels ums Überleben zwischen den Großmächten, man denke an den Kampf Hiobs: Geschichten von der Erwählung der Unscheinbaren, der Kleinen und allzu Menschlichen; Geschichten vom Leiden der Ausgezeichneten; Geschichten von der unerschütterlichen Treue und Mit-Leidenschaft des Gottes Abrahams, Isaaks und eben Jakobs.« (5)
Die jüdisch deutsche Dichterin Nelly Sachs (geboren 1991 in Berlin, gestorben 1970 in Stockholm) hat anhand der Geschichte vom Jakobskampf verstehen zu lernen versucht, was Israel, ihrem eigenen Volk, durch die Nazis, in Auschwitz und an den vielen Vernichtungsstätten zugemutet wurde.
»Was sie sprachlich zu bewältigen sucht, ist Jakoberfahrung. Dem Kampf mit dem übermächtig sinnlosen Leiden, der nächtlichen Konfrontation mit dem gewaltsamen Tod einen Segen abzuringen – das macht die Bewegung und Anstrengung der Dichtungen von Nelly Sachs aus«.(6)
Ihre Dichtungen sind »Leidenswerk«, erwachsen aus der
Not, für ein leidendes und verlassenes Dasein einen Sinn zu finden – zuerst für
das eigene Dasein, dann für das der Menschheit und der ganzen Schöpfung. Im
passiv-aktiven Durchmachen dieses maßlosen Leidens öffnen sich Wege und
zeigt sich Hoffnung.
Nelly Sachs spricht von Leiden und Tod nicht abstrakt,
sondern auf Grund der Wirklichkeit von und nach Auschwitz. Die Zeit des Sterbens
und der Verfolgung unter den Nazis ist immer konkreter Ausgangspunkt, auch wenn von biblischen Zeiten und Orten die Rede ist. Das leidende Israel
wird so ein Abbild der Menschheit. Die Gestalten der Bibel werden aufgerufen
als Zeugen eines Aufbruches, in dem sich Neues auftut durch Leiden und Tod
hindurch. So wird auch Jakob als Zeuge aufgerufen.
Hören wir Nelly Sachs selbst:
Gedicht: Jakob
(a) O Israel,
Erstling im Morgengrauenkampf
wo alle Geburt mit Blut
auf der Dämmerung geschrieben steht.
O das spitze Messer des Hahnenschreis
der Menschheit ins Herz gestochen,
o die Wunde zwischen Nacht und Tag
die unser Wohnort ist!
(b) Vorkämpfer,
im kreißenden Fleisch der Gestirne
in der Nachtwachentrauer
daraus ein Vogellied weint.
(c) O Israel,
du einmal zur Seligkeit endlich
Entbundener –
des Morgentaus tröpfelnde Gnade
auf deinem Haupt –
(d) Seliger für uns,
die in Vergessenheit Verkauften,
ächzend im Treibeis
von Tod und Auferstehung
und vom schweren Engel über uns
zu Gott verrenkt
wie du! (7)
Das Gedicht, der sprachlichen Form nach ein Klagelied, ist eine Bewegung in Sprache,
»eine einzige Sprachbewegung, wie ausgestreckt auf die angeredete Gestalt hin. Angerufen ist Israel: sowohl die konkrete Gestalt namens Jakob – deshalb die Überschrift – , wie auch das ganze Volk Israel damals wie heute«.(8)
Überraschend ist das »wir« in diesem Gedicht. Ist das »wir« das Volk Israel bis hin zur schrecklichen Schoah oder sind alle Leidenden der Menschheit mitgemeint? Gotthard Fuchs ist der festen Überzeugung, dass Jakob – Israel aber für alle steht, für alle, die leiden, für die ganze Menschheit, die in dem »wir« des Gedichtes aufgenommen ist. Nacht und Tag, Tod und Auferstehung: dazwischen sind wir. Die Wunde ist unser Wohnort und wir sind eingeengt und eingezwängt, ächzend im Treibeis – aber dann auch die Hoffnung, die im Jakobskampf durchschimmert: »Seliger für uns«, weil wir uns an den Kampf Jakobs, an dessen und auch an die eigene Leidensgeschichte erinnern und indem wir dranbleiben und nicht weglaufen, können wir uns auch den Segen erarbeiten.
Für Nelly Sachs schimmert durch:
»Was nur fürchterliches Grauen war, Verrat und Tod, wird im Zeichen der Geschichte des Jakobkampfes zum Ort der Verwandlung, zum Hinübergang vom Tod zum Leben. Leiden und Tod werden als Exodus begriffen, als »Fahrt ins Staublose«, ins Unvergängliche und damit auch ins Geheilte« (9).
Indem Nelly Sachs Jakob benennt, denkt sie nicht abstrakt über Sinn und Unsinn des Leidens nach, sondern sie macht aufmerksam – für viele Leute ganz ungewohnt –, dass es wichtig ist, den Leidensweg zu gehen und durchzumachen. Nur so kann die Wahrheit gefunden worden, die sie ausdrückt mit den Worten: Vogellied, Geburt, Tag, Seligkeit, des Morgentaus tröpfelnde Gnade, Auferstehung. Und sie wagt es dann zu sagen: Der Mensch findet sich »verrenkt zu Gott«, getroffen von »der Wunde« Gott.
»Die Leidenden auf dem Jakobsweg sind schon, trotz allem, ausgezeichnet und eingefügt in Gott. Die Scherben der Leiderfahrung sind gesammelt in ihm, sie werden gesammelt durch die, denen Gott auch im Leiden »nicht in Scherben sprang«. (10)
So kann der Mensch Gott finden, einen Gott freilich, den man erleiden muss und erringen muss wie Jakob.
[Posaunenbläser: Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr, 3 Strophen, Gemeinsam
unterwegs, 101]
Wie lesen wir als Christinnen und Christen diesen Text vom Jakobskampf? Der Blick auf Jesus Christus und die Verbindung mit ihm kann in uns die Glaubenserfahrung vertiefen, die in der Jakobsgeschichte zum Vorschein kommt. Auch Gotthard Fuchs stellt im Blick auf die Geschichte von Jesus von Nazareth die Frage: »Warum sprechen die Synoptiker und der Hebräerbrief von Jesu Situation angesichts seines Todes als der eines Kampfes mit Gott und um Gott?» (11) Tatsächlich: In der Geschichte vom Leiden und der Auferstehung Jesu schimmert der Jakobskampf durch. Markus berichtet ausdrücklich vom Kampf Jesu in Getsemane auf dem Ölberg:
»Da ergriff ihn Furcht und Angst, und er sagte zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht. Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, dass die Stunde, wenn möglich, an ihm vorübergehe. Er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht was ich will, sondern was du willst. Und er ging zurück und fand sie schlafend (Mk 14,33-36)«.
Der Kampf Jesu in Getsemane!
Er allein, einen Steinwurf weit entfernt von seinen Jüngern. Der Kampf gipfelt in dem Segenswort »Nicht was ich will, sondern was du willst.«Jesus wirft sich auf den Vater.
Im Verlauf der Passion spitzt sich die Situation noch einmal zu.:
»Als die sechste Stunde kam, brach über das ganze Land eine Finsternis herein. Sie dauerte bis zur neunten Stunde. Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Eloi, eloi, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? … Jesus aber schrie laut auf, dann hauchte er den Geist aus« (Mk 15,33 –37).
Der Kampf Jesu geht durch Mark und Bein, durch Leib und Seele bis zur Gottverlassenheit. Das Wort von seiner Gottverlassenheit wird nur bei Markus und Matthäus überliefert. Lukas lässt es aus. Ob die ersten Christen, wie einige Exegeten vermuten, dieses Wort als zu anstößig empfunden haben? Gerade in seiner Verlassenheit öffnet sich Jesus dem Schmerz der ganzen Menschheit, der Sinnlosigkeit und der abgrundtiefen Hölle, die viele Menschen durchmachen müssen.
Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, ist bei ihrem geistlichen Lebensweg auf diese seelische Wunde der Verlassenheit Jesu besonders aufmerksam geworden. Sie schreibt in einem Gebet, das sie am 02. 12. 1946 aufnotierte:
»Vorerst einmal begriff ich, dass es in deinem Herzen eine verborgene Wunde gibt, unbekannt und nie entdeckt, ganz geistlicher Art, der gegenüber die Wunde an deiner Seite unbedeutend war. Es war die Wunde der Verlassenheit: das schreckliche Trauma deiner Seele. Dann hast du mich langsam in deinen Schmerz eingeführt, dein unendliches Leid! Welch ungeahnte Entdeckung: Jenseits der Türe, die vom Tod sprach und von unendlicher Angst, fand ich die Liebe und verschwand das Leid. Ich fand das Gesetz des Lebens.« (12)
Jesus ist durch die Hölle gegangen. Gerade so bekommt er einen neuen Namen: Er ist der Sohn, er ist unser Erlöser oder, wie der Hebräerbrief sagt, unser Hoherpriester:
»Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden. Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden und wurde von Gott angeredet als ›Hoherpriester nach der Ordnung des Melchisedeks‹ (Hebr 5, 7-10).
Gerade auch für diesen Jesus gab es einen Ostermorgen!
[Posaunenchor: Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt, Gemeinsam
unterwegs, 71]
Was bedeutet diese Geschichte für uns persönlich und für diesen Kirchentag? Für unsere Kirche und für die Ökumene? Ich knüpfe an an die Angst Jakobs, alles zu verlieren, und an seine Wunde, die ihm im Gotteskampf geschlagen wurde. Ich denke dabei auch an die Wunden unserer Kirchen! Haben wir als Kirchen nicht Wunden, die uns weh tun, die gerade noch frisch bluten? Wo wir uns gegenseitig verletzen oder verletzt haben – nicht aus Mutwillen, nein, um Gottes willen? Weil Martin Luther seine tiefe Erfahrung des ›Allein aus Gnade‹ bezeugte und bezeugen musste, wurde er verwundet – und weil die Katholiken damals an ihrer Gnadenlehre festhielten, auch aus verantworteter Treue zur göttlichen Wahrheit, kam es zu Verurteilung, zum Bann, zur Exkommunikation und damit zur Kirchenspaltung – und bis heute kommen wir nicht heraus.
Ebenso hart trifft uns heute die Wunde, dass die Kirchen nicht zu einer gemeinsamen Feier der Eucharistie finden und sich bei diesem Sakrament immer noch nicht verstehen. Die Wunde der Spaltung, die keiner mehr will, ist noch da und schmerzt. Braucht es da nicht Menschen, die durch die Wunde gehen, die die Verrenkung aushalten, die den Schmerz des Getrenntseins und der Verlassenheit so auf sich nehmen, dass daraus Segen für die Kirche wird? Dranbleiben an der Wunde bringt Segen; verdrängen, spielen, so tun als ob nichts wäre, bringt noch keine Heilung.
Wer wie Jakob ganz auf Gott setzt, wer wie Jesus sich ganz dem Vater überlässt, empfängt genau auf eben diese Weise den Segen, ja den Geist Gottes, der alles neu machen kann, der Wunden heilt und Erstarrtes öffnet. Je größer die Wunde, desto mehr müssen wir auf Gott allein setzen und uns gemeinsam in IHM verankern! Gerade hier kann sich Gott ereignen – Penuel – Gottes Angesicht ist nahe.
In dieser Stadt Berlin denke ich an den evangelischen Pastor und Theologen Dietrich Bonhoeffer und an den katholischen Jesuitenpater Alfred Delp, die hier in dieser Stadt im Gefängnis Tegel auf ihre Verurteilung zum Tode warteten. Beide waren zutiefst gepackt von der Wunde der Spaltung. Beide lebten für die eine heilige Kirche, die Una Sancta und suchten nur das Eine: Jesus zu folgen und seinem Evangelium. Es wird berichtet: Wenn Alfred Delp in seiner Zelle in aller Verborgenheit und Heimlichkeit die Eucharistie mit den hineingeschmuggelten Gaben feierte, schlug er mehrmals an das Heizungsrohr, so dass der neben ihm einsitzende Dietrich Bonhoeffer verstanden hat: Jetzt feiert Delp die Messe – und sich ganz fest einklinken konnte. In dieser Gemeinsamkeit und in diesem Schmerz wurden sie zum Segen für viele bis heute.
Johannes Paul II. hat im Laufe seines Pontifikates immer wieder die Wunden der Kirche und die Verwundungen, die die Kirche anderen zufügte, öffentlich angesprochen und bekannt. Darum hat er am 1. Fastensonntag 2000 folgende Bitte ganz bewusst in den Gottesdienst mit aufgenommen:
»Herr, Du Einer und dreifach Heiliger Gott, wir bekennen die Sünden, die der Einheit des Leibes Christi, der Kirche, Schaden zugefügt haben. Wir haben einander häufig zurückgestoßen, verurteilt und bekämpft; schenke uns Versöhnung und vollständige sakramentale Einheit«.
Unser Bibelwort kann uns auch ganz persönlich ansprechen. Wir dürfen uns selbst fragen: Mit welchen Wunden muss ich leben? Welches sind meine Gotteswunden? Wo muss ich kämpfen und blicke vielleicht noch nicht durch: angesichts eigener Kinder, die nicht mehr glauben angesichts des Schwundes des kirchlichen Lebens in den Gemeinden angesichts einer gescheiterten Beziehung angesichts wirtschaftlicher Krisen angesichts einer Gottesferne, die man selber gar nicht wollte.
Wir müssen uns fragen, ob wir mit diesen Wunden so leben können und wollen, dass sie zum Segen werden – zum Ort der Gottesbegegnung. Der 1996 an Krebs verstorbene Kardinal Joseph Bernardin von Chicago hat in seinem Leben und Dienst harte Schläge hinnehmen müssen: eine Falsch-Anklage wegen Pädophilie und seine Krebserkrankung. Er hat sich mit dem, der ihn fälschlich beschuldigt und vor Gericht gezogen hatte, aus der Kraft des Glaubens versöhnt. Kurz vor seinem Tod stellt er fest:
»Wenn wir als Christen so lieben wollen, wie Jesus liebte, müssen wir uns mit dem Leiden auseinandersetzen. Wie Jesus können auch wir nicht auf kühle Distanz zu unseren Mitmenschen gehen. Unsere Lebensjahre als Christen werden Jahre des Leidens für und mit anderen Menschen sein. Wie Jesus lieben wir die anderen nur, wenn wir mit ihnen durch das Tal der Dunkelheit gehen – das dunkle Tal der Krankheit, das dunkle Tal moralischer Verstrickungen, das dunkle Tal unterdrückender Strukturen und verwehrter Rechte.« (13)
Wunden, Leiden, Schmerzen können angenommen werden. Nicht verdrängen, sondern sich drunter stellen,
aushalten und weitergehen: Wunden sind ein verborgener Ort Gottes. Wer
diesen Ort ernst nimmt und hier mit diesem Gott und den verwundeten Menschen
lebt, kann zum Segen werden, als Einzelner, als Gemeinschaft und als
Kirche.
(Posaunenchor: Gott gab uns Atem, damit wir leben Gemeinsam unterwegs
126)
Mir gehen einige Worte nicht aus dem Sinn, die die Missionsärztin Ruth Pfau, die ihr ganzes Leben den Aussätzigen und Kranken in Indien schenkte, kürzlich im Fernsehen sagte:
»Auch, was weh tut, muss ich bejahen, weil alles einen Sinn hat; auch wenn ich den Schmerz nicht verstehe, ist er sinnvoll. Wenn mich etwas ärgert, dass ich davonlaufen möchte, frage ich mich kurz: Was willst du? Bleiben oder weggehen? Dann sehe ich, dass es besser ist zu bleiben«.
Was sagt mir die Jakobsgeschichte? Auch wenn die Begegnung mit Menschen und mit Gott Wunden schlägt und mich verrenkt – ich kann beim Anderen und bei Gott bleiben, weil ich vertrauen darf, dass dieser Gott mich nicht loslässt und bei mir ist. So
können Wunden mir und anderen zum Segen werden.
[Posaunenchor, rein instrumental]
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(1) Karl Rahner, Hörer des Wortes, München 1941
(2) Vgl. Gotthard Fuchs, Angeschlagen und ausgezeichnet, in: KatBl 103 (1978), S. 385-394.
(3) Vgl. Hermann Spieckermann – unter Mitarbeit von Susanne Dähn »Der Gotteskampf. Jakob und der Engel in Bibel und Kunst, 1997, Seite 17 – 394
(4) 4 Ich beziehe mich weiterhin auf die Beiträge von Gotthard Fuchs und Hermann Spieckermann: Gotthard Fuchs, Angeschlagen und Ausgezeichnet, in: KatBl 103 (1978) 385-394; Hermann Spieckermann, Der Gotteskampf, Jakob und der Engel in Bibel und Kunst, Theologischer Verlag Zürich, 1997.
(5) Gotthard Fuchs, a. a. O., S. 388
(6) Gotthard Fuchs, a. a. O., S. 388
(7) Nelly Sachs, Das Leiden Israels, edition Suhrkamp 51, S. 122f
(8) Gotthard Fuchs, a. a. O., S. 388
(9) Gotthard Fuchs, a. a. O., S. 388
(10) Gotthard Fuchs, a. a. O., S. 390
(11) Gotthard Fuchs, a. a. O., S. 388
(12) Zitiert bei Stefan Tobler, Jesu Gottverlassenheit als Heilsereignis in der Spiritualität Chiara Lubichs, Berlin 2002, S. 187
(13) Kardinal Joseph Bernardin, Das Geschenk des Friedens, Reflexionen aus der Zeit des Loslassens, München 1998, S. 53
Ökumenischer Kirchentag, Messehalle Berlin, 30. Mai 2003