Bibelarbeit zum Buch Rut

1.

Ich glaube, das Buch Rut enthält eine Geschichte, die uns gerade in unseren Tagen unwahrscheinlich ansprechen kann und die auch zum Motto des Kirchentages passt: "Nehmt einander an". In mehrfacher Weise spiegelt sich das Annehmen des anderen, des Fremden, zum Beispiel darin, dass eben der Elimelech mit seiner Frau Noomi in ein fremdes Land gehen muss, dass er in Betlehem nicht mehr leben kann. Es heißt an anderer Stelle, dass damals die Steuern so hoch gewesen sind, dass er sein Land verkaufen musste und er nichts mehr hatte, vor dem wirtschaftlichen Nichts gestanden ist. Er war gezwungen, einfach auszuwandern, anderswo hinzugehen. Und dann kommt er anderswo hin und wird aufgenommen, ausgerechnet von den Moabitern. Immer wieder spielen ja in der Geschichte Israels die Moabiter eine sehr feindliche, bedrohende Rolle. Dieser Feind also nimmt ihn auf, gewährt ihm Gastrecht. Er darf dort leben, er kann dort eine wirtschaftliche Existenz gründen. Man merkt, wie ein Flüchtling wieder Boden gewinnt, wieder leben kann, so von allen dort angenommen, dass seine Söhne moabitische Frauen heiraten. Also sein Denken ist ganz darauf ausgerichtet: Wir bleiben hier. Dann kommt die Katastrophe dieses dreifachen Todes: erst stirbt der Vater, dann die beiden Söhne, und zurück bleiben drei Frauen ohne soziale Sicherung, ohne soziales Netz, einfach so preisgegeben. Und das führt zu der zweiten Wende, die eben in der Nacherzählung vorkam: Die Noomi erinnert sich oder hört, dass es in Betlehem besser gehe, und sie überlegt, zurückzukehren in ihre Heimat. Sie nimmt dann die beiden Frauen mit, von denen dann die eine in der Heimat bleibt, aber Rut geht eben mit. Und dann in Betlehem das Gleiche: Sie haben keine wirtschaftliche Sicherheit, das Land ist ja nicht mehr da, sie sind wieder preisgegeben. Dort kommt die Wende zustande, weil es einen Menschen dort gibt, der sich an das Gesetz des Herrn hält, der eben weiß, wie man mit Armen umzugehen hat, der sich darauf einlässt, dass diese zu seiner Familie gehören. Die Solidarität dieses Boas bringt das neue Leben, bringt die Wende. Es gibt jemanden, der sich für Fremde einsetzt. Die Geschichte läuft genau so, dass man versteht: Gott möchte das, das ist sein Wille, dass wir den anderen, auch den Wirtschaftsflüchtling, nicht sich selbst überlassen, sondern dass wir für ihn da sind und mit ihm leben und ihm neues Leben ermöglichen.

So denke ich mir, dass vielleicht dieses einfache Stichwort "Wirtschaftsflüchtling" heute so ein Zugang sein könnte zu dieser Geschichte. Wir beide dachten uns, dass wir noch drei weitere Zugänge aufarbeiten möchten, um einfach tiefer hineinzuschauen, was dieses Wort, was dieses Stück der heiligen Schrift uns heute sagen kann. Und so möchte ich jetzt rübergeben zu meinem Nachbarn, zu meinem Kollegen.

2.

Ein anderer Zugang, der mir bei dieser Geschichte so in die Augen springt, ist, dass es sich hier um eine Liebesgeschichte handelt, in mehrfacher Hinsicht, oder sagen wir auch eine Freundschaftsgeschichte, also wo die Beziehung zwischen Menschen in den Blick gerät. Ich denke an die Rut und an die Noomi, also eine Schwiegertochter und eine Schwiegermutter. Jeder von uns weiß, wie kompliziert so ein Verhältnis sein kann. Und dass sich hier zwischen der Fremden und der israelitin, zwischen Schwiegertochter und Schwiegermutter solch ein inniges Verhältnis entwickelt, so dass man sagen kann, dass der eine für den anderen da ist, darf uns ruhig in Staunen versetzen. Rut, könnte man sagen, gibt das Leben für ihre Schwiegermutter. Sie lässt alles zurück, sie lebt einfach mit ihr, sie geht mit ihr durch dick und dünn. Das ist etwas Ungeheueres, das ist sozusagen viel mehr als eine Verliebtheitsgeschichte, das ist eine Geschichte, wo jemand das Leben für den anderen gibt.

Mir scheint, dass das heute auch für uns wichtig ist. Vielleicht müssen wir das neu in unserer Gesellschaft lernen, das Leben für den anderen zu geben, wirklich dazusein, dass der andere leben kann, auch zu sehen, was ihm fehlt, was er braucht, was ich ihm geben kann. Die Rut war bereit, alles zu geben. Ich möchte noch einmal diesen wunderbaren Satz vorlesen, der heute schon einmal zitiert wurde. Wir müssen ihn wirklich ganz tief in uns aufnehmen. Bei der Frage: "Willst du nicht doch hierbleiben?" sagt die Rut ihrer Schwiegermutter: "Bedränge mich nicht, dich zu verlassen, mich von dir abzuwenden! Denn wo du gehst, gehe ich mit, und wo du übernachtest, übernachte ich; dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott; wo du stirbst, sterbe ich; dort will ich begraben werden. Gott tue mir alles mögliche: Nur der Tod wird dich und mich trennen!" Zwischen diesen beiden Frauen ist eine solche Gemeinsamkeit gewachsen, eine solch tiefe gegenseitige Beziehung, die wirklich beeindruckend ist, die trägt. Es ist etwas ganz Echtes und Wichtiges. Man könnte auch sagen, dass man davon lernen kann, dass es über Sexualität hinaus Bindung zwischen Menschen gibt, Bindung zwischen Menschen, die aus dem Dasein für andere kommt, wo der andere einfach für mich wichtig ist. Im Hintergrund steht ganz gewiss: um Gottes willen für mich wichtig ist. Menschliches Dasein kann also eine Tiefe finden, die weit über das Normale hinausgeht. Eine solche Beziehung erschließt Zukunft, erschließt Leben, erschließt sozusagen eine weitere Entwicklung.

Darin kommt dann auch der Boas vor. Auch hier spielt sich eine wirkliche Liebesgeschichte ab. Es ist interessant, dass von der Rut die Initiative ausgeht, dass sie erst den Mann auf den Gedanken bringt, sie zu nehmen, dass hier also das patriarchalische Modell durchbrochen wird und die Partnerschaftlichkeit, die Gleichheit, die Gleichwertigkeit von Mann und Frau zum Vorschein kommen. Hier auch ein Mann beschrieben , wie man ihn vielleicht auch heute gerne hätte, der eben nicht selbstbezogen, sondern zärtlich ist, und der auf das Wesen, auf das Wort, auf die Wünsche, auf das, was das Eigentliche seiner Partnerin ist, eingeht, der sich auf seine Frau einlassen kann ohne Angst, an seiner Männlichkeit Schaden zu nehmen, der eben dieses Dasein der Rut für ihn ganz beantworten kann, der auch dazu gebracht wird, sich ganz zu geben, sich ganz zu verschenken, sich loszulassen. Von diesem Wagnis höre ich aus dieser Geschichte, von diesem Wagnis, sich preiszugeben und dadurch Leben zu gewinnen.

3.

Ich habe mich gefragt, warum mich diese Geschichte so gepackt hat. Ich komme immer wieder zu dem Wort zurück, das die Rut sagen konnte: Dein Gott ist mein Gott. Ich habe mich auch gefragt: Wie kommt sie dazu, so etwas zu sagen? Und da fällt mir auf, dass es eben in vielfacher Weise auch eine Glaubensgeschichte ist. Einmal in dem Sinn, dass der Glaube zur Freiheit des Menschen führt und zu einer neuen Möglichkeit des Lebens, in dem der Mensch ganz sein kann und ganz angenommen ist. Dann aber auch in dem Sinn, dass in dieses Leben wirklich Gott hineinspielt, dass Gott in dieser Geschichte eine wirkliche Rolle spielt.

Zum Beispiel, dass die Rut im Leben mit ihrer Schwiegermutter und der ganzen Familie dort in Moab aufmerksam wird, wie diese mit ihrem Gott leben, dass sie aufmerksam wird, dass unter ihnen Gott lebendig da ist. obwohl sie in der Fremde sind, ist Gott mit ihnen gegangen, und dieser Gott schenkt ihnen ein ganz neues zwischenmenschliches Verhältnis in der Familie, dass einer den anderen versteht, unterstützt, trägt, für den anderen da ist. Immer wieder bekommt sie bei den Festen dieser jüdischen Familie mit, dass sie von einer Geschichte erzählen, in der dieser Gott das Volk gerettet hat, befreit hat, für das Volk da war, dass es einen Gott gibt, auf den man sich wirklich verlassen kann, der mit einem geht durchs Leben, der für einen da ist. Und sie wird sicher auch mitbekommen haben, dass sie alle von diesem Gott gesprochen haben als dem für sie Daseienden, der ihnen einfach alles gibt, der seine eigene Nähe schenkt. Ganz langsam konnte sie im Leben mit dieser Familie auf diesen Gott stoßen, diesen Gott kennenlernen; auf einmal merkt sie, dass es noch mehr bedeuten kann, mit diesem Gott zu leben als mit den heimatlichen Göttern, von denen man auch zu Hause die Vorstellung hatte, dass diese Götter nicht woanders verehrt werden können, sondern nur an Ort und Stelle, also ortsgebunden sind. Und als sie sich dann auf den Weg macht, merkt sie, dass die Gemeinschaft mit Gott weitergeht über alle Grenzen hinweg, eben auch bis nach Betlehem. So wächst in ihr ein neues Gottesverhältnis, eine neue Gottesbeziehung, und ohne dass es sozusagen direkte Absicht war, ist die Rut hineingewachsen in dieses Bundesverhältnis mit Gott, in dieses innige Verhältnis mit Gott, das Israel haben durfte. Ihr wurde praktisch Gott geoffenbart, indem sie in dieser Familie war. Man könnte modern sagen: Der Glaube wurde weitergegeben, einfach durch Mitleben. Da, denke ich mir, liegen Chancen drin, die wir heute als Kirche auch wieder neu nutzen müssen, den Menschen Möglichkeiten zu geben, mit uns zu leben, dass sie bei uns Gott kennenlernen können. Das setzt natürlich auch voraus, dass wir selber mit diesem Gott leben, dass wir selber dieses befreiende Verhältnis zu Gott gefunden haben, dass wir selbst entdecken durften, wer dieser Gott für uns ist.

Im Neuen Testament sehe ich eine ähnliche Entwicklungslinie. Jesus lädt z.B. bei Joh 1,35 die ersten Jünger ein, die ihn so abtasten: "Kommt und seht!" Und es heißt dann ganz schlicht: "Und sie gingen mit ihm an diesem Tag und blieben den ganzen Tag bei ihm." Die ersten Jüngerinnen und Jünger Jesu werden uns in den Evangelien so beschrieben, dass sie mit Jesus gelebt haben, so dass auch die Frage ganz einfach wurde: "Zeige uns den Vater". Jesus sagt daraufhin dein Philippus: "Wer mich sieht, der sieht den Vater." Die Jünger entdeckten, dass zwischen Jesus und seinem Vater ein total inniges, ein total offenes Verhältnis war, so stark, dass alles, was dieser Vater hatte, er ihm gab. Jesus und der Vater teilten alles, es war eine unmittelbare Gemeinschaft, die die Jünger konkret miterlebten. So bitten sie Jesus denn: "Herr, lehre uns beten." Und er: "Wenn ihr betet, betet doch zu meinem Vater, zu eurem Vater, und sagt: Abba, lieber Vater." Also: Jesus schenkte ihnen in diesem Leben sein Gottesverhältnis, er schenkte ihnen seinen Gott. Und die Jünger sagten dann eben auch: Dein Gott, dein Vater ist mein Vater.

Wenn man die Geschichte weiter anschaut, sehen wir, wie Paulus in der Apostelgeschichte missioniert hat: Er war beispielsweise in dem Haus der Lydia, in Europa - sie ist die erste europäische Christin -, er lebte in ihrem Haus. Aus dem Leben kommt das Sehen, aus dem Leben überträgt sich etwas. Das ganze Haus der Lydia lässt sich taufen.

Ich selbst muss auch sagen: In den 68er Jahren bin ich als Theologiestudent - ich war fast fertig - eines Tages damit konfrontiert worden, dass ich in mir selber keinen Glauben mehr hatte, dass mir alles fraglich geworden war, dass ich auch Gott nicht mehr verstehen konnte. Da traf ich jemanden, der sagte: Ich lebe das Wort Gottes, ich denke nicht darüber nach, ich studiere es nicht, ich lebe es. Ich fragte dann nach: Wie machst du das denn? Da sagte diese junge Frau: Ich lebe im Augenblick das Wort "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet". Sie mache die Erfahrung, wenn sie einen Menschen sehe, beurteile sie ihn sofort: wie sieht der aus, was hat der an. Sie versuche, dieses Urteil wegzutun und den Menschen so zu nehmen, wie er ist. Sie merke, wie das Wort sie anleite zu einem neuen Verhältnis zum Bruder, zur Schwester. Indem sie gehorsam das Wort Gottes tue, merke sie auch, wie darin sich Gott ihr neu erschließe, weil sie das Wort lebe. Diese Begegnung war für mich ein Neuanfang, eine Entdeckung. Wenn ich das, was Jesus gesagt hat, lebe, dringt sein Wort in mich ein, offenbart sich dieser Gott mir, und dann auch, wenn ich sein Wort ,lebe, den anderen.

Gerade in dieser Geschichte von der Rut wird deutlich: Durch das Leben, durch die lebendige Gemeinschaft unter Menschen wird Gott weitergegeben. Ich denke mir, wenn wir hier auf dem Kirchentag zusammen sind, dann sind wir ja auch in unterschiedlichen Kirchen zusammen. Wenn es uns gelingt, den anderen dieses Zeugnis zu geben, dass der Herr in der jeweils anderen Kirche entdeckt werden kann, dass ich ihn dort finde - ich merkte, wie in Reng dieser Gott lebt, und er das vielleicht in mir entdeckt -, dann kann auch der Glaube nicht nur zwischen den Kirchen ausgetauscht werden, dann wandert er sozusagen hinein in die Welt. Dann werden auch Menschen, die uns vielleicht fremd sind, plötzlich Freunde, nahe Menschen, Menschen eben, mit denen wir leben können und leben wollen. Ich verstehe dieses Buch Rut als eine Einladung Gottes an uns, miteinander und mit ihm und mit jedem Menschen heute zu leben.

Deutscher Evangelischer Kirchentag, Lukaskirche München, 12. Juni 1993

zurück