Predigt im Gottesdienst zur Tagung anlässlich des 75. Geburtstages von Klaus Hemmerle

Glaube der frei gibt – Unterscheidungen des Christlichen

In diesen Tagen ist uns in der Katholischen Akademie der verstorbene Aachener Bischof Klaus Hemmerle in vielfacher Weise begegnet. Sein Denken und seine Person, gespiegelt in der Wahrnehmung so vieler, wurden mir in bemerkenswerter Weise entschlüsselt. So steht nicht nur sein Denken, sondern auch sein Leben und seine Person ganz lebendig vor mir.

Das heutige Sonntagsevangelium (Joh 21,1-19) kann uns helfen, noch einmal einen ganz neuen Blick auf Klaus Hemmerle zu werfen, nämlich auf den Bischof. Zudem hat ihn sehr bewegt, dass Papst Paul VI., der ihn zum Bischof ernannt hatte, immer wieder sein eigenes Papstamt an die drei Fragen rückgebunden hat, die Jesus dem Simon Petrus stellte: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese? Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?“ Diese direkte Frage des Herrn an Petrus bewegte Papst Paul VI. zutiefst, so dass er einmal äußerte:

„Man muss sich in die Lage eines Papstes versetzen, um zu verstehen, dass das kleine Wort ‚Liebst du mich mehr?‘ ... ein Messer ist, das bis ins Innerste der Knochen, der Nerven und des Marks dringt ... Weiß man denn, ob man mehr liebt? ... Was einen in dieser Sorge tröstet, ist die Möglichkeit der universalen Liebe ... heißt immer wieder sagen: Niemand ist ein Fremder, niemand ist ausgeschlossen oder auch nur fern und abseits. Jedes geliebte Wesen ist gegenwärtig.“ (vgl. J. Guittun, Dialog mit Paul VI, Wien 1967, S. 184f)

In einer Generalaudienz 1964 sagte der gleiche Papst:

„Das Geheimnis, das unseren persönlichen Trost und unsere persönliche Bedrängnis bildet, ist in einem einfachen, gewaltigen Wort enthalten: mehr, plus, pleon (Joh 21,15), das Jesus unerwartet, doch erhellend mit dem Wort Liebe verbunden hat. Jesus will, dass dem Primat der Autorität ein Primat der Liebe entspricht: eine völlig frei geschenkte Vollmacht auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine Tugend, bei sich ein großes Geschenk, eine große Gnade, eine große Liebesfähigkeit verbinden muss mit der größten Anstrengung, dem größten Aufschwung des menschlichen Herzens, das zu einem solchen Gipfel der Liebe gerufen ist.“ (Insegnamenti di Paolo VI, III – 1965, Vatikanstadt 1966, S. 1110 – 1111)

Klaus Hemmerle fand sich genau in diesen Worten von Paul VI. wieder, die Chiara Lubich immer wieder zitierte in ihren Vorträgen vor den Bischöfen, die Hemmerle als Freunde der Fokolar-Bewegung um sich gesammelt hat. Hier liegt eine ganz tiefe Wurzel seines bischöflichen Dienstes. Bevor er redete und verkündigte, bevor er, sei es im Bistum, sei es auf der Ebene der Bischofskonferenz irgendwelche Entscheidungen traf, hat er alles darangesetzt, in der Liebe zu sein. „Liebst du mich mehr als diese“, diese Frage hat ihn immer neu herausgefordert, aber auch gestärkt.

Diese Liebe hatte er in der Fokolar-Bewegung auf der berühmten Mariapoli Fiera di Primiero 1958 kennen gelernt. Im allerletzten Text, den er sechs Tage vor seinem Tod in meiner Gegenwart diktiert hat, kommt er auf diese Erstbegegnung im Fokolar zu sprechen und schildert ganz anschaulich, dass er dabei ganz unmittelbar erfahren hat, was die Liebe Gottes für ihn selbst bedeutet und was sie unter Menschen bewirken kann. In seinem Text, den "DAS PRISMA“ 1994 veröffentlichen konnte, heißt es:

„Mir wurde sogleich klar, dass durch diese persönliche Liebe Gottes mein Ich auch herausgefordert ist. Ich bin gerufen, habe Verantwortung. Auf die Spitze meines Ich ist alles gestellt. Ich bin gerufen, den Willen Gottes zu tun. Ich bin der Partner dieses Gottes. Gott liebt mich unendlich – ich bin bereit, ich bin da, ich sage Ja. Das Ja-Sagen zu diesem Ruf, dieses ‚Ecco mi – da bin ich‘, da bin ich‘, das war der entscheidende, ganz persönliche Schritt Chiara Lubichs, der freilich sofort zu einer unausweichlichen Einladung für viele wurde, denselben Schritt zu tun. so kommt zu diesem ersten ‚Gott liebt mich‘ das Zweite hinzu: ‚Ich bin bereit, da bin ich‘." (Klaus Hemmerle, Unser Lebensraum – der Dreifaltige Gott, das primsa/Heft 1/1994, S. 21)

Fast in mystischer Sprache beschreibt er, was mit ihm bei diesem Besuch auf der Mariapoli 1958 passiert:

„Mir ging auf, dass der Vater, die Liebe, und Jesus, der Sohn, sich im einen Geist begegnen, den ich als die Atmosphäre der göttlichen Einheit bezeichnen möchte. In diesem Geschehen reißt Gott einen Zwischenraum auf, in den auch ich eintreten darf, um diesen lebendigen Gott zu erfahren. Ich bin der vom Vater geküsste, geliebte Sohn; ich bin der in den Vater hineingegebene Sohn. Und der Vater selber hat seinen unendlichen Schoß ausgebreitet, damit ich in ihm leben kann. So habe ich mitten in meinem Leben schon jetzt meine Heimat im dreifaligen Gott.“ (a.a.O., S. 20)

Und etwas später sagt er:

„Chiara Lubich hatte etwas erfahren, was sie sagen ließ: ‚Gott liebt mich unendlich.‘ In diesem Satz ist auch vom Ich die Rede, aber es fängt nicht mit ‚Ich‘ an. Es heißt nicht einmal: ‚Ich bin diejenige, die von Gott geliebt ist‘, sondern: ‚Gott liebt mich unendlich.‘ Das ist wie ein Strom, der auf mich zukommt, und in dem dieses Ich mir zuerst zufließt. Von Anfang an bin ich der dankend Empfangende, der auf den Ruf, der an mich ergeht, Hinhorchende. Gott liebt mich unendlich. Bei Kindern ist das ja auch so. Ihr erstes Wort heißt nicht Ich, sondern Mama und Papa. Erst durch die Liebe der Eltern lernen sie später, ‚Ich‘ zu sagen.“ (a.a.O., S. 20/21)

Auf diese Liebe, die er in Gott, in Jesus Christus erfahren hatte, wollte Klaus Hemmerle mit aller Kraft antworten und sich die Antwort des Petrus zu Eigen machen: „Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Die immer neue Bereitschaft, allen Menschen in Liebe zu begegnen, sich auf Kinder und Erwachsene, auf Fernstehende, Katholiken und Protestanten, auf Arbeiter und Akademiker, auf Schwache und Kleine, auch auf Gegner einzulassen, ist ihm zur zweiten Natur geworden. So konnte er auch in seinem letzten Buch „Leben aus der Einheit“ formulieren:

„Die einzige Realität, der es verheißen ist, dass an ihr die Welt Jesus Christus erkennen kann, ist unser gegenseitiges Einssein. Das Wort sagen, aber so, dass sich darin die Liebe sagt. Die Liebe, die der Inhalt dieses Wortes ist, aber auch die Kraft dieses Wortes, die sich darin bewährt, dass sie uns in sich verwandelt: das ist das Entscheidende. ... Wie schamrot bin ich, wenn ich das sage und an die Wirklichkeit von Kirche denke. Wie weit ist unser Weg, wie weit sind wir alle von diesem Ziel entfernt, wie viel muss passieren! Trotzdem gilt: Auch in dieser Armut ist das Zeugnis gültig, auch in unserer Armut haben wir es nötig, dass diese Missio gelebt wird.“ (Leben aus der Einheit, Freiburg 1995, S. 200)

Unvergesslich ist mir gerade diese demütige Haltung von Bischof Klaus in seinem Streitgespräch mit Prof. Hackethal im ZDF. Noch bei der Aachener Akademietagung anlässlich des Todestages von Bischof Klaus wurde über dieses Hackethal-Gespräch ausführlich diskutiert, weil viele damals und heute nicht verstanden haben, warum Klaus Hemmerle sich in diesem Gespräch so angreifbar gemacht hat. Er wollte nicht aus der Liebe fallen. Auch als er von Hackethal beschimpft, angegriffen und lächerlich gemacht wurde, er hielt Stand, er hörte zu, er gab sein Zeugnis, er war einfach da, gab alles, was er geben konnte und hörte allen zu und hat auch zugelassen, dass er als scheinbar Besiegter aus dem Gespräch ging. Seine Antwort an den Herrn, der ihn gefragte hat „Liebst du mich?“ bestand darin, dass er auch Menschen, die es scheinbar nicht verdienten, seine Liebe schenkte. Die Kraft dazu holte er sich aus der immer neuen Begegnung mit dem auferstandenen Herrn, dem er in der Kirche im Wort der Schrift in der Gemeinschaft derer, die sich um den Herrn in der Mitte versammelt haben und aus dem ganz bewussten Sich-Einlassen auf den gekreuzigten Herrn, der ihm im Dunkel und Schmerz immer neu aufging.

Der spontane Ausruf des Lieblingsjüngers Johannes im heutigen Tagesevangelium „Es ist der Herr“ war ein Ausruf, der Klaus Hemmerle, man möchte sagen, fast stündlich auf der Zunge lag. Das ständige Bemühen, in der Liebe zu sein, wurde möglich und schenkte sich, weil er immer neu im Alltag in unterschiedlichsten Situationen „den Herrn“ erkannte und sagen konnte: Es ist der Herr.

Wenn Bernhard Casper bei der Aachener Akademietagung in, fast möchte ich sagen, klassischer Weise den Satz von Klaus Hemmerle „Der Mensch wird so offenbar als das Wesen der Liebe Gottes“ (Unterscheidungen, Freiburg 1972, S. 36) auslegte, dann hat er damit auch gleichzeitig in treffendster Weise Klaus Hemmerle beschrieben. Im Leben, im Tun und im Denken von Klaus Hemmele kommt uns ein Mensch entgegen, an dem das Wesen der Liebe Gottes offenbart wird, an dem sich aber auch ein Mensch zeigt, der in der Liebe, in der Agapae seine tiefste Erfüllung gefunden hat. Wenn die Liebe verletzt wurde, dann vibrierte Klaus Hemmerle zutiefst. Und wenn er erlebte, wie andere Liebe weiterschenkten, dann strahlte in seinem Gesicht eine Freude auf, von der ich sagen möchte, dass sie ihre Wurzel in Gott hatte.

Aus dem heutigen Tagesevangelium nehme ich im Blick auf Klaus Hemmerle folgende Worte besonders wahr:

Thomas-von-Aquin-Kirche, Kath. Akademie – Berlin, 25. April 2004

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