Predigt zum Jahresamt von Bischof Klaus Hemmerle
Sehr verehrter Herr Bischof Dr. Mussinghoff,
liebe Mitbrüder im priesterlichen und bischöflichen Amt,
liebe Brüder und Schwestern, liebe Gemeinde hier im Dom zu Aachen!
Sich hier versammeln im Aachener Dom, als Christinnen und Christen in Jesu Namen und dies im Zeichen von Klaus Hemmerle – das ist etwas Besonderes. Wir empfehlen in diesem Gottesdienst Klaus Hemmerle, diesen liebenswerten Menschen, unserem Gott und Vater. Wir wissen uns mit Klaus Hemmerle verbunden, wir achten sein Gedächtnis.
Wir begehen diesen Gottesdienst, wie es die katholische Kirche jeden Samstag tut, im Zeichen von Maria, dem Sitz der Weisheit. Es ist dieser Typ eines Marienbildes, den ich in den Mittelpunkt unserer Predigt heute stellen möchte. Es ist dieser Typ des Marienbildes, der Bischof Hemmerle besonders am Herzen lag. Maria sitzt auf einem Thron, sie hält das Jesuskind. Sie hält das Jesuskind den Menschen hin, die zu diesem Bild kommen. Jesus ist vorn, Maria selbst ist Hintergrund. Auf ihr ruht dieses Kind auf. Dieses Marienbild kann zusammengefasst werden in der einen Aussage: Maria gibt Jesus, der die Weisheit selber ist. Maria spricht selber nicht, sondern sie gibt das WORT, das Jesus ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich eine Meditation ansprechen, die Bischof Hemmerle besonders liebte, und die er in den ersten Schriften von Chiara Lubich gefunden hat. Die Überschrift lautet: Das Schweigen Mariens.
„Schön ist die Mutter in der ständigen Sammlung, wie das Evangelium sie uns zeigt: Sie bewahrte alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Dieses erfüllte Schweigen hat einen Zauber für die Seele, die liebt.
Wie können wir Maria nachleben in ihrem mystischen Schweigen, wenn wir berufen sind, manchmal zu sprechen, um das Evangelium zu verkünden, und immer unterwegs zu sein, überall, bei reich und arm, in den Häusern, auf den Straßen, in den Schulen, an allen Orten!
Auch die Mutter hat gesprochen: Sie hat uns Jesus gebracht. Niemand in der Welt war je ein größerer Apostel. Niemand hatte je Worte wie sie, die das WORT gab. Aber sie schwieg. Schwieg, weil sie zu zweit nicht sprechen konnten.
Immer muss das Wort sich auf ein Schweigen stützen, wie ein Gemälde auf seinen Grund. Maria schwieg, weil sie Geschöpf war.
Weil das Nichts nicht spricht. Aber aus diesem Nichts sprach Jesus und sagte - Sich selbst. Gott, Schöpfer und Alles, sprach aus dem Nichts der Kreatur.
Wie kann ich also Maria leben, wie mein Leben erfüllen lassen von ihrem Zauber?
Das Geschöpf in mir soll schweigen und aus diesem Schweigen soll sprechen der Geist des Herrn. So lebe ich Maria und lebe Jesus. Lebe Jesus auf dem Grund Maria. Lebe Jesus, indem ich Maria lebe.“ (1)
Von dieser Meditation war Klaus Hemmerle fasziniert. Hintergrund sein wie Maria und so wie Maria auf Jesus verweisen: „Was er euch sagt, das tut“, das war das innigste Anliegen von Bischof Hemmerle.
In diesem Zusammenhang denke ich an ein Erlebnis, über das Klaus Hemmerle gerne berichtet hat. Er war mit etwa 50 Bischöfen der katholischen, evangelischen, altorientalischen und orthodoxen Kirchen in Konstantinopel beim Patriarchen Dimitrios. Hören wir, was er selbst danach berichtete:
„Ein marianisches Schlüsselerlebnis hatte ich im Jahr 1984 in Istanbul. Ich ging mit einer Gruppe von Bischöfen aus unterschiedlichen Konfessionen in die Hagia Sophia. Wir waren ergriffen von diesem überwältigenden Bau, weil wir hier eine ungeheuere Präsenz von Kirchen- und Menschheitsgeschichte ertasteten. Wir standen in einem Bau aus alter christlicher Tradition, aus der Zeit der Einheit der Christenheit, in der Kleinasien Zentrum der christlichen Welt war. Wir waren aber auch an der Stelle, wo der Bruch zwischen Osten und Westen geschah, wo die Einheit zerbrach. In den großen Winkeln der Kuppel sahen wir die riesigen Schriftzeichen aus dem Koran, das Herüberkommen einer anderen Religion über die zerbrochene Christenheit. Doch vor uns waren Schilder aufgestellt: Beten verboten. Ein Museum, in dem Leute mit Feldstechern und Photoapparaten umhergingen, sich irgendwo tummelten und schauten, was es da an Sehenswürdigkeiten gibt. Diese Abwesenheit von Religion an einem ehemals heiligen Ort war unheimlich.
Wir waren überwältigt von dieser Kaskade: ursprüngliche Einheit, zerbrochene Einheit, verschiedene Religionen, nicht mehr Religion. Etwas ratlos und hilfesuchend schweiften unsere Blicke umher, und plötzlich ? da! Oben in der Kuppel schimmerte zart und unauffällig, sich zurücknehmend und doch unübersehbar, ein altes Mosaik: Maria, die ihr Kind darbietet. Da wurde mir deutlich: Ja, das ist Kirche! Ganz einfach dasein und aus sich Gott, den abwesenden Gott, hervorbringen. Das Wort Theotokos – Gotteshervorbringerin, Gottesgebärerin – bekam plötzlich für mich einen ganz neuen Klang. Mir wurde klar, dass wir den Glauben der Welt nicht organisieren können. Wir können nicht draufschlagen, wenn niemand mehr etwas von Gott hören will, und sagen: Wehe euch! Auch wir können nur da sein und den abwesenden Gott aus uns hervorbringen. Wir können ihn nicht machen, aber gebären. Wir können ihn nicht behaupten, aber seine Schale und sein Himmel sein, aus dem er aufscheint in aller Unscheinbarkeit. Und so verstand ich nicht nur, was heute unsere Aufgabe ist als Kirche, sondern wie Kirche im Bild Mariens und wie Maria im Bild der Kirche, wie die beiden Bilder und die beiden Wirklichkeiten in einem sind.“ (2)
Später, bei den Wandertagen, die ich mit Bischof Klaus Hemmerle über Jahre unternahm, schlug er öfter vor, eine Fahrt nach Lüttich zu unternehmen. Ziel dieser Fahrt war die Kirche St. Jean. In dieser Kirche steht eine alte mittelalterliche Figur: Maria, Thron der Weisheit. Zu diesem Bild zog es ihn einfach hin. Hier begegnete uns eine Wirklichkeit von Kirche, die bei Bischof Hemmerle immer mitgedacht werden will.
Klaus Hemmerle sah die Kirche im Bild von Maria. Maria war für ihn das Urbild der Kirche. Denn wie Maria hat auch die Kirche die Aufgabe, den lebendigen Christus zu verkünden, den Auferstandenen zu bezeugen, den Christus, der lebt. Hemmerle sah die Kirche im Bild der Theotokos, wie das Konzil von Ephesus feierlich Maria definierte: Theotokos, die Gottesgebärerin, die Christusbringerin, der Sitz der Weiheit, die Christus selbst ist. Die Kirche, als lebendige Maria heute, trägt sozusagen unter ihrem Herzen diesen lebendigen Christus.
Diese Maria ist aber nicht nur Urbild der Kirche, sie ist auch Vorbild für den Christen und für den Bischof. Wo immer sich eine Gemeinde unter dem Wort Gottes versammelt, macht sie die Erfahrung, dass sich das Wort erfüllt: Wo zwei oder drei im meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen - da ist der Herr mitten unter ihnen. In dieser Verheißung kommt das Marianische am Leben des Christen zum Zug. Christen werden - wie Maria - Träger dieses Christus, Bringer dieses Christus, Verkünder dieses Christus.
In einer Zeit, in der die Kirche ihre missionarische Dimension wieder entdeckt, ja als Grundvoraussetzung für Kirche-Sein überhaupt versteht, darf man an den Artikel „Mission“ im LthK, 3. Auflage, erinnern. Hier wird Mission als Epiphanie Christi beschrieben. Nicht unsere Worte und Begriffe bringen Gott und Christus zum Vorschein. Nein, ein Leben, das von diesem Jesus erfüllt ist, das diesen Auferstandenen von innen her mitbringt und trägt, ist Mission, ist Verkündigung, ist Epiphanie.
Maria, die Theotokos, die Gottesgebärerin, die Christusbringerin und Christusträgerin kann zu einem neuen tiefen Modell und Symbol für die Kirche werden. Durch das Leben der gegenseitigen Liebe, durch die erlebbare Einheit unter den Christen kann Christus heute in der Gesellschaft und auch für andere Menschen sichtbar werden. Die unsichtbare, dann aber sichtbare und auch wirksame Christuspräsenz hat missionarische Dimension. Genau in diese Richtung hat Klaus Hemmerle sein Bischof-Sein verstanden. Er hat sich immer neu durch das Leben nach dem Wort und in der Gemeinschaft mit den Freunden des Wortes darum bemüht, dass sich diese Christuspräsenz ereignet.
Es verblüfft mich, wie Bischof Klaus Hemmerle auch heute auf Personen wirkt und Menschen anspricht, die ihn persönlich nicht gekannt haben. Viele Zuschriften, die mich aufgrund meines Buches „Verliebt in Gottes Wort“ über das Denken, Leben und Wirken von Klaus Hemmerle erreichen, sprechen von dem inneren Angesprochen-Sein von Bischof Hemmerle selbst. Es ist immer ein Angesprochen-Sein auf Glauben hin und auf Kirche hin.
Ich darf Ihnen einen Text vorlesen, der mich aus der Justizvollzugsanstalt Aachen erreicht hat. Der Gefängnisseelsorger hatte einem Langzeit-Inhaftierten das Buch über Hemmerle gegeben. Daraufhin schrieb mir dieser Inhaftierte voll innerer Bewegung einen 27 Seiten langen Brief. Der Briefwechsel geht weiter. Aus dem letzten Brief vom 10. November 2009 darf ich zitieren:
„Wie wahr, Herr Dr. Hagemann, in meinem Herzen spüre ich in den letzten Wochen eine sehr große Nähe zu Bischof Hemmerle. Es vergeht im Augenblick kein Tag, an dem ich nicht mehrmals an ihn denke, mit ihm rede und mit ihm bete. Ich habe keine hohen Ansprüche mehr in der Haft und ich habe auch eigentlich keine wirkliche Sehnsucht mehr nach der „Freiheit“. Aber zurzeit erlebe ich ein Gefühl der Sehnsucht nach Klaus Hemmerle. Dass er mir auch nach so vielen Jahren wieder so nahe ist und dass er wieder bei mir ist, das ist wahres Geschenk Gottes. Ich möchte diese Verbindung nicht mehr loslassen. Dass ich jetzt auch mit Ihnen in Kontakt kommen konnte und durfte, empfinde ich auch als ein Zeichen von Ihm.“
Ein anderer Brief, diesmal von einer Psycho-Onkologin, erreichte mich am 13. Oktober. Darin stand unter anderem: „Ganz gegen meine Art habe ich das Buch einfach aufgeschlagen und auf Seite 257 gelesen: Krankensalbung und letzte Nacht. Ich las zunächst ein wenig scheu, schließlich ist das Sterben eines Menschen ein sehr intimer Moment und ich kam da so reingeplatzt. Aber da mein Beruf als Psycho-Onkologin an einem Brustzentrum mir schon viele dichte und segensreiche Begegnungen mit Sterbenden geschenkt hat, las ich weiter, um auf Seite 258 unten aufzuhören: “Er hatte ausgelitten“.
Mir ging es ein wenig wie dem Hauptmann unter dem Kreuz, der nach dem Sterben Jesu sein Credo spricht - Ich dachte nach diesen zwei Seiten Ihres Buches: Das war – ist! - wirklich ein Heiliger!!!“ Natürlich habe ich weiter gelesen. (…) Ich habe wirklich einen geistigen Freund und Verbündeten gefunden. Dafür danke ich Ihnen ganz besonders. So hat mein „Reich-Gottes-Netz“ eine ganz besonders wertvolle Erweiterung erfahren.“
Diese Frau ist Gott begegnet, der Heiligkeit Gottes.
Das ist das Besondere: Klaus Hemmerle verweist auch heute Menschen auf Gott, auf die Wahrheit, auf das Evangelium.
Wenn ich solche Briefe lese, spüre ich, dass Klaus Hemmerle auch heute noch wirkt. Er trägt diesen Christus noch in sich. Mir kommt dann spontan der Gedanke: Welche Kraft, welche Fruchtbarkeit kann unser Leben haben auch über den Tod hinaus!
Dieser Gottesdienst will uns aufrütteln und sensibilisieren: Für die Kirche und die Gemeinden geht es wirklich darum, heute im Zeichen von Maria missionarisch zu sein, diesen lebendigen auferstandenen Jesus aufzunehmen und weiter zu schenken. Das nimmt uns als Einzelne in die Pflicht, aber vielleicht noch viel mehr als Gemeinde, als Gemeinschaft, die sich in diesem Gotteshaus versammelt, und auch als Bistum. So werden Menschen zum Segen für andere, für die Welt und auch für die Kirche.
Ich wünsche Ihnen von Herzen, ein solcher Segen zu sein.
Ich wünsche dieser Kirche diesen Segen.
Amen.
Aachen, 23. Januar 2010
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(1) vgl. Chiara Lubich, Bis alle eins sein werden, München 1979, S. 10-11
(2) vgl. Klaus Hemmerle, Leben aus der Einheit, S.156