Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen!

Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern,
liebe Kinder, lieber Mitbruder Franz Sedlmeier!

In den vergangenen Wochen haben wir alle sehr an der Kirche gelitten. Es sind schwere Zeiten auf uns zugekommen, die noch nicht zu Ende sind. Man kann sich wirklich fragen: Wie kann es jetzt weiter gehen? Da hilft mir einfach der Gedanke an die Bibel. Oft ging mir in den letzten Wochen durch den Kopf, dass wir in der Bibel, in den Evangelien die Worte Jesu haben, durch die uns immer wieder neues Leben ermöglicht wird. Von den Worten Jesu geht die Kirche aus. Hier ist ihre Quelle, hier ist ihr Ursprung.

So habe ich die Lesungen des heutigen Tages ganz tief in mir aufnehmen können. Da heißt es in der Offenbarung des Johannes: „Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen. Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er, Gott, wird bei ihnen sein“. Dieses Wort hat es mir einfach angetan. Das ist also die Kirche: Die Wohnung Gottes unter den Menschen. Diese Kirche ist ein Geschenk. Gott schenkt uns Menschen, dass wir seine Wohnung sind, dass wir seine Kirche sind. Das steht ganz tief in meinem Herzen: Die Kirche ist ein Geschenk Gottes. Ich möchte es annehmen. Ich möchte dieses Geschenk in mich aufnehmen, ich möchte Kirche sein. Wenn wir dann zusammen Kirche sind, dann wird Gott sofort aktiv. Was er dann tut, das steht auch im Text der heutigen Lesung: „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal“.

Die Tränen, die in den letzten Wochen geflossen sind wegen der Kirche werden also abgewischt. Das macht Gott selbst. Er will uns neues Leben geben, ewiges Leben, weit über den Tod hinaus. Ich lade Sie ein, diese Kirche als Geschenk Gottes zu empfangen.

Und dann steht noch etwas Schönes in der Lesung von heute: Die Kirche wird verglichen mit einer Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Sie ist die heilige Stadt, das neue Jerusalem, das von Gott her auf die Jünger herab kommt. Falls Sie nicht verheiratet sind, können Sie dennoch Braut sein, Braut sein mit der Kirche. Die Kirche wird Gott angetraut, sie ist vertraut mit Gott selbst. Was für ein Geschenk, was für eine Gnade! Auch ich als zölibatärer Mensch lebe von diesem Brautsein, möchte mich in dieser deutlichen Weise auf Gott hin zubewegen. Dann wird verständlich: Die Kirche lebt von Christus her; auf die Christusbezogenheit kommt es also an, auch heute in diesem Gottesdienst.

Und dann wird uns im Evangelium des Tages ein Wort Jesu aus dem Johannesevangelium geschenkt: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander. So wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“.

Ein neues Gebot gibt uns Jesus. Ich erinnere mich an die Worte: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben, aus deinem ganzem Herzen, aus deinem ganzen Gemüt und mit allen deinen Kräften – und den Nächsten wie dich selbst“. Mit diesem Wort empfiehlt uns Jesus die Gottesliebe und die Nächstenliebe.

Aber im neuen Gebot Jesu, das wir heute gehört haben, geht es um die gegenseitige Liebe. Bei dieser gegenseitigen Liebe kommt die Liebe gleichsam zurück. Du liebst den Nächsten und der Nächste antwortet mit seiner Liebe. Es entsteht die gegenseitige Liebe. Das ist etwas ganz Neues. Das ist etwas Großartiges. In der Kirche hat diese gegenseitige Liebe Platz. Der neben mir sitzt als Nachbar im Gottesdienst, sozusagen mein Nächster in der Bank, dem ich nachher den Friedensgruß gebe, dieser soll mir mit seiner Liebe antworten. Das ist die gegenseitige Liebe. Das kann in der Ehe gelebt werden zwischen Mann und Frau, zwischen Mann und Frau und den Kindern. Der Alleinstehende hat es da schwieriger. Aber auch er darf in die Kirche kommen, in dieses Gotteshaus, und mit den anderen Mitchristen zusammen diese gegenseitige Liebe entdecken und leben.

Ich glaube, da liegt das Geheimnis der Kirche von morgen. Aus der gegenwärtigen Krise kommen wir nur heraus, wenn wir uns auf diese gegenseitige Liebe einlassen, wenn wir einander annehmen und miteinander durch dick und dünn gehen. Dann entsteht etwas ganz Neues. Das erlebe ich auch in der Vita Communis mit Prof. Dr. Franz Sedlmeier und Kaplan Häner. Morgens bei der Meditation und bei der Betrachtung entsteht unter uns diese gegenseitige Liebe. Und dann macht der eine dem anderen das Frühstück. Ich darf schon am Morgen, wenn ich aufgestanden bin, mit meinen Brüdern Kirche leben und Kirche sein: Wohnung Gottes unter den Menschen, gegenseitige Liebe. Ich empfange so, auf diese Weise, das Leben.

Darum noch einmal: Wir alle hier sind also eingeladen heute gemeinsam eine Wohnung Gottes zu sein, ein Ort der gegenseitigen Liebe.

Ich denke gerne an einen Freund zurück, ausgerechnet einen evangelischen Pfarrer, den ich 1975 in meiner ersten Pfarrei kennen lernte. Wir waren beide zu einer Familie gerufen worden, die ein neues Kind geschenkt bekommen hatte und sich nicht einigen konnte, in welcher Kirche dieses Kind getauft werden sollte. Nach zweistündigem Gespräch haben wir nichts erreicht. Die Eheleute sagten: „Dann soll das Kind eben nicht getauft werden“. Aus dieser unfruchtbaren Begegnung entstand unsere Freundschaft, und wir entschlossen uns, gemeinsam Kirche zu sein, so gut es eben geht. Wir trafen uns jeden Sonntagmorgen um 9.00 Uhr zum Gebet, mal im Pfarrhaus des evangelischen Pastors, mal im katholischen Pfarrhaus. Die Häuser waren 10 km voneinander entfernt. Um 9.00 Uhr kamen wir zusammen, um 9.30 Uhr trennten wir uns zu den Gottesdiensten. Aber wir waren zusammengekommen im Namen des Herrn. Wir hatten erlebt, dass er unter uns Wohnung nimmt, wir waren Kirche geworden.

Das erwarten wir auch vom kommenden Ökumenischen Kirchentag in München. Über 100.000 Leute haben sich angemeldet. Wie mag dieser Kirchentag gelingen? Wir Katholiken haben angesichts unserer Priester-Skandale ganz schlechte Karten. Es könnte sein, dass wir ziemlich viel zu hören bekommen. Schön wäre es, wenn wir über solche Dinge zu etwas viel Tieferem und Wesentlicherem kommen könnten: zur gegenseitigen Liebe. Dann könnte sich ereignen, dass dieser Ökumenische Kirchentag ein Vorgeschmack der einen Kirche wird, jener Kirche, die Wohnung Gottes ist, jener Kirche, die wie eine Braut für den Herrn geschmückt ist. Ich glaube, daran haben die Verantwortlichen beider Kirchen gedacht, als sie sich für diesen Ökumenischen Kirchentag entschieden haben.

Vielleicht gehen Sie ja hin zu diesem Kirchentag. Vielleicht nehmen Sie nur vom Fernseher aus daran teil. Schauen Sie bitte nicht nur hin wie bei einem Fußballspiel, sondern beteiligen Sie sich doch innerlich. Lassen Sie sich darauf ein, wenn evangelische oder katholische Christen von ihrem Glauben und ihrer Erfahrung sprechen. Schwingen Sie auch hier in Augsburg ein in diesen Kirchentag!

In der vergangenen Woche war ich zu einem Treffen von fünf evangelischen und fünf katholischen Pfarrern. Wir wollten zusammen beten und uns gegenseitig kennen lernen. Ich brachte auch die Not unserer Kirche ein, die Not darüber, dass so viele Priester etwas getan haben, das dem Evangelium und dem Auftrag Christi total widerspricht. Es war so schön, wie die evangelischen Brüder sich an meine und unsere Seite gestellt haben und wie sie signalisierten, dass meine Sorgen um die Kirche auch ihre Sorgen sind. Die Schwierigkeiten haben uns auf einmal zusammengeführt und eins werden lassen. Und in diesem Raum, es war ein Raum der Gegenwart Gottes unter uns geworden, konnten wir auch die Probleme der evangelischen Kirche anschauen und die evangelische Kirche lieben lernen.

Genau das wünsche ich mir heute, dass das Wort Gottes in unsere Herzen fällt, in die Mitte der Kirche fällt, dass das Wort Gottes unsere Kirche sozusagen „schafft“, uns zur Kirche macht.

So möchte ich Sie einladen, die Kirche zu empfangen als Geschenk Gottes und darin ihn selbst, den guten Gott, der bei uns wohnen will und der uns dann mitnimmt in sein Leben, in seine Liebe und in das große Licht, das er, Gott, selbst ist. Amen.

Augsburg, Gemeinde Unsere Liebe Frau, 2. Mai 2010

zurück