Editorial 1_2010

Nacht

Als wir dieses Heft planten, konnten wir nicht ahnen, dass es in Deutschland zur Aufdeckung von zahlreichen Fällen von Missbrauch und sogar zum Rücktritt eines Bischofs kommen würde. Fragen über Fragen. Priester und Laien erleben einen Abgrund von Verlassenheit, manche auch die Versuchung des Nihilismus und die Absurdität des menschlichen Lebens. Vor fast dreißig Jahren sah Johannes Paul II. einen tiefen Zusammenhang zwischen der existentiellen Not der Kirche und der von Johannes vom Kreuz beschriebenen „Nacht“.

In diesem Heft möchten wir Situationen der „Nacht“ bei einzelnen und in der Kirche offen legen. Wir möchten aufzeigen, dass solche „Nächte“ Durchgang werden können zu einer reifen Erfahrung von Sinn und gelungenem Leben.

Der Alttestamentler Franz Sedlmeier spürt der Nachterfahrung im Buch Ijob nach. Ijob hat den Mut, Gott offen und radikal anzuklagen, und darf erfahren, dass sein Leben im Leid unendlich kostbar ist in den Augen Gottes.

Der Redemptorist Hans Schalk untersucht das Phänomen der Nacht in der christlichen Spiritualität. Er spricht von den „Nächten“ beim einzelnen, von der „Nacht“ der Kirche und gar der „Nacht Gottes“. Dieses Phänomen ist nur von ihrem Ziel her, dem Erreichen der vollkommenen Liebe, im Letzten verständlich.

Eli Folonari, eine der ersten Gefährtinnen von Chiara Lubich und ihre langjährige Sekretärin, beschreibt die Nacht-Erfahrung von Chiara Lubich. In ihrem Beitrag spielt der Schrei Jesu „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ und der geistliche Schmerz des Christen, der Gott verloren hat, eine besondere Rolle. Diese Nacht steht in Beziehung zu ihrer Mystik, der ein gemeinschaftliches Element zugrunde liegt: „Sie setzt zwei Menschen voraus, zwischen denen der Heilige Geist fließt“.

Wolfgang Bader, Verlagslektor und Mitarbeiter in einem Hospiz, beschreibt die Erfahrung von Menschen, deren Fundamente des Lebens erschüttert werden. Wenn alles verloren geht, kann ein neues Gefüge entstehen, ein neues Getragen-Sein.

Das Interview mit Bischof Joachim Wanke zeigt auf, wie die Kirche heute in einer Zeit der Gottesverdunkelung Freude an Gott erfahren kann und dadurch, auch trotz der Belastung der Missbrauchsfälle, diesen Gott öffentlich bezeugen kann.

Unser Redakteur Bernd Aretz stellt sich den Fragen des Nihilismus und Atheismus im Erfahrungshorizont des heutigen Menschen. Im Denken des Freiburger Religionsphilosophen Bernhard Welte findet er einen Weg, im Nichts die Spur des Ewigen zu entdecken.

Einen Ort des Grauens und der Nacht, das ehemalige Konzentrationslager Dachau, besuchte der Theologiestudent Marius Grath. Im Gespräch mit Schwester Johanna aus dem dort angesiedelten Karmelkloster lernt er verstehen, was heute „compasión“ im Sinne der hl. Teresa von Avila bedeuten könnte.

Dass sie immer neu ins Dunkel fallen kann und so fähig wird, die Nacht ihrer Patienten mitzufühlen, lässt uns die Ärztin Susanne Rethemeier unmittelbar und konkret miterleben. Das Wissen um den gekreuzigten Jesus in seiner Verlassenheit ist der tragende Grund ihres Lebens.

Die Ärztin Rita Meinhardt erlebt in der Ratlosigkeit, wie sie ihren substitutionsbedürftigen Patienten begegnen soll, eine Herausforderung als Mensch, die ihr schwer zu schaffen macht. Ihr Vertrauen auf Gott bestärkt sie darin, Grenzen zu setzen und anderen ein Nein zuzumuten.

Das Thema „Nacht“ ist mit diesem Heft nicht abschließend ausgelotet. Die Nacht gehört zum Mensch-Sein und zum Kirche-Sein. Wir tragen sie in uns, wir finden sie um uns, in ihr ereignet sich geheimnisvolle Verwandlung.

Wilfried Hagemann

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