Editorial 2_2015

Neu zu gewinnende Glaubenstiefe

In zentralen Fragen der Lebensgestaltung klaffen Kirche und Gesellschaft oft weit auseinander. Dies kennen wir nicht nur aus dem deutschsprachigen Raum, wo die Kirchenaustritte in beiden Kirchen weiter auf hohem Niveau bleiben, sondern aus den unterschiedlichsten Ländern. Die Römische Bischofssynode über Berufung und Sendung der Familie in der Kirche und Welt von heute musste diesem Faktum Rechnung tragen.

Unser PRISMA begibt sich mitten hinein in den derzeitigen Prozess eines in fast allen mitteleuropäischen Diözesen durchgeführten Strukturwandels. Die in Seelsorge und Pastoral Tätigen, ob Priester, Diakone oder Laien, stehen vor Herausforderungen, die nur gemeinsam und nur mit einer neu zu gewinnenden Glaubenstiefe bewältigt werden können.

Ob in diesem Zusammenhang unser Titel „Kirche im Umbruch und Aufbruch“ klug gewählt oder verfrüht angesetzt ist, entscheiden die Leser. Sie erhalten blitzlichtartige Einblicke in die vielerorts noch unübersichtliche Situation der Gemeinden und in die damit gegebenen neuen Fragestellungen.

Klaus Hemmerle, der 1994 verstorbene Bischof von Aachen, verwies schon 1971 auf die Gefahr, dass die Kirche sich ins Abseits manövriert. Für ihn ist es entscheidend, dass sie sich auf spirituelle Ansätze einer klaren Mitte besinnt, in der Spannungen und Konflikte ausgehalten und bestanden werden.

Der emeritierte Bischof von Erfurt, Joachim Wanke, selbst Neutestamentler, zeigt die zentrale österliche Perspektive auf, die im Kerngeheimnis der Kirche erschlossen ist, in der Feier des Leidens, des Todes und der Auferstehung Jesu Christi.

Hans Schalk, Mitglied des Ordens der Redemptoristen, geistlicher Begleiter und Experte in Systemischer Strukturaufstellung, beschreibt, was wertschätzendes Hinhören in mir und im andern bewirken kann, wie Ressourcen entdeckt werden, die weiterführen und Zukunft ermöglichen.

Robert Vorholt, Professor für das Neue Testament in Luzern, zeigt am Beispiel der Verkündigung des Völker-Apostels Paulus, wie aus kleinsten Anfängen der Kirche ein Aufbruch kam, der viele Menschen im damaligen Mittelmeerraum zu neuer Hoffnung und in ein Leben aus dem Evangelium Jesu Christi führte.

Thomas Gertler, Jesuit, vormals Regens des Priesterseminars von Frankfurt St. Georgen und jetzt kirchlicher Assistent der Gemeinschaft Christlichen Lebens (GCL), gibt Einblick in die manchmal fast traumatisierende Situation von Priestern. Sie erleben und erleiden unvermittelt Transformationsprozesse in Gemeinden, die sie gleichzeitig steuern müssen. Trotz Wut und Zorn, die sein dürfen, die durchlebt und begleitet werden, zeigt sich ein Weg zu echter neuer Gemeinschaft und zu größerer Freiheit.

Sr. Teresa John vom Karmel Finkenwerder/Hamburg vermittelt einen unmittelbaren Eindruck, was geschieht, wenn Karmelitinnen aufbrechen, ihr bisheriges angestammtes Kloster in der Nähe von Mainz verlassen, um mitten in einer umtriebigen Metropole eine neue kleine Gemeinschaft zu werden, die Raum gibt für Gott und für viele spirituell heimatlose Menschen.

Der junge Theologe Marius Grath, Mitglied unserer Redaktion, zeichnet in seinem spannenden Beitrag die Entstehung einer neuen Seelsorgeeinheit im Erzbistum Freiburg nach. Im Gespräch mit dem Heidelberger Dekan Joachim Dauer werden die Konturen eines Aufbruchs zu einer missionarischen Kirche erkennbar, die mit der drängenden Frage lebt, wie eine Stadtkirche heute "Ort der Gotteserfahrung und eines neuen Miteinanders werden kann.“

Der Schweizer Pfarrer Mario Hübscher, der die administrative Verantwortung für seine neue Pfarrei an einen hauptamtlichen Diakon abgibt, um frei zu werden für die unmittelbare Seelsorge, zeigt, wie er zu dieser Entscheidung kommt und was ihn dabei motiviert. Der Aachener Pfarrer Rolf Hannig berichtet, wie er nach fünfzehn intensiven Jahren der Seelsorge in einer großen Weggemeinschaft ein neues Arbeitsfeld findet und Polizeidekan wird.

Die Erfahrungsberichte illustrieren, wie die eigene Berufung nie am Ende ist, welche Dynamik sie inmitten großer Spannungen und Konflikte birgt. Kirche im Umbruch und Aufbruch? Ihr Geheimnis, das im dreifaltigen Gott gründet, katapultiert sie vom Evangelium her trotz Brüchen und Verwerfungen immer neu zu den Menschen hin.

Wilfried Hagemann

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