Editorial 2_2017

Gott entdecken in Raum und Zeit

Gott entdecken in Raum und Zeit – das ist ein spirituelles Thema. Es passt genau dazu, dass mit diesem Prisma-Heft das Thema Spiritualität in den Untertitel der Zeitschrift neu aufgenommen worden ist: DAS PRISMA. Beiträge zu Pastoral, Spiritualität und Theologie, 29. Jahrgang 2/2017.

Die Meditation zu Beginn, diesmal länger als sonst, bringt Ausschnitte aus unterschiedlichen Tagebucheintragungen von Chiara Lubich. Ihre Gedanken laden ein, im Jetzt, im gegenwärtigen Augenblick zu leben. Es geht um das Leben, um das pralle Leben, das sich jeweils im Augenblick, im Jetzt erschließt. Augenblicke, die konsequent gelebt werden, sind Bausteine für das kommende, ja ewige Leben, das uns erwartet.

Das kostbare Interview/Gespräch mit dem 90jährigen Augsburger Rabbiner Dr. Henry Brandt stellen wir ganz bewusst an den Anfang. Mit ihm, dem Hemmerle-Preisträger des kommenden Jahres – der Preis wird ihm am 25. Januar 2018 im Aachener Dom verliehen – begegnet der Leserin/dem Leser eine Persönlichkeit, die in einem langen Leben als gläubiger Jude den Dialog-Raum zwischen Christen und Juden mit geöffnet hat. Von seinen jüdischen Wurzeln her, die auch den Christen vertraut sind, bezeugt Brandt den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, wie sich dieser im Bund Gottes mit Israel erschließt.

Nicht nur 90Jährige, auch junge Erwachsene sind zu diesem Gott unterwegs. Es tut gut, den vier Jugendlichen zuzuhören, die sich nicht genieren, von ihrer persönlichen Erfahrung mit Gott zu sprechen. Sie berichten von unterschiedlichen Orten, wo sie eine Auszeit erlebten, die neue Spuren zu Gott in ihnen freilegten. Für zwei von ihnen wurde das Gebet zum Ort der Verwurzelung in Gott, für die Anderen war es die Begegnung mit Menschen, die in einer offenen Communio untereinander den Raum für das Leben mit Gott freigehalten haben.

Der im Münsteraner Fokolar lebende Exeget Philippe Van der Heede arbeitet in zuverlässiger, stringenter Weise heraus, wie es sich für einen Exegeten gehört, wie Paulus in Raum und Zeit seine Erfahrung mit dem auferstandenen Christus wahrnimmt und der Gemeinde in Philippi mitteilt. Beeindruckend ist in diesem Beitrag, dass Paulus aus dem Gefängnis heraus seine zentrale Erfahrung des Lebens im Raum der Beziehung mit Jesus Christus formuliert. Freut euch im Herrn – ein Wort, das ebenso klar auch in unsere Zeit hineingesprochen gehört.

Die in Wien lebende Künstlerin Annemarie Baumgarten und der in Ludwigshafen tätige Pfarrer Udo Stenz haben sich gemeinsam auf die Suche nach einer Spur gemacht, wie der Raum zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist als Lebensraum für den normalen Menschen begriffen werden und auch als solcher im eigenen Leben wahrgenommen werden kann, ein Raum, der für jeden offen steht, ob er nun glaubt oder nicht. Es fasziniert, dass es Annemarie Baumgarten gelingt, auch normale Lebensräume so zu gestalten, dass in ihnen ein neues „Bewohnen“ möglich wird, das vom gegenseitigen Schenken und Beschenken geprägt ist, Räume dreifaltigen Lebens.

Spannend in diesem Zusammenhang des Wohnens ist der Beitrag des Benediktiners Anselm Zeller, früherer Abt der Abtei Fiecht in Österreich. Er führt den Leser und die Leserin hin zu jener Grundhaltung und auch Wegweisung, die es einem Benediktiner auch heute möglich macht, in Raum und Zeit die Gegenwart Gottes wachzuhalten und durch das eigene Beispiel auch für andere zu erschließen. Man könnte fast geneigt sein zu denken: Rettet unsere Klöster, dass dieser Raum der Gegenwart Gottes für möglichst viele erhalten bleibt.

Unser verantwortlicher Redakteur Bernd Aretz beschreibt anhand des Lebens von Dietrich Bonhoeffer, wie das Gebet und die Aufmerksamkeit für Gott auch in schwerer Gefangenschaft einen inneren Rhythmus des Lebens ermöglichen, der auch in ärgsten Verhältnissen - wie damals im Gefängnis von Berlin-Tegel - den Raum hell machen kann und transparent werden lässt für Gott selbst. Es beeindruckt, wie Bonhoeffer diese Situation gelebt hat und dass er Kontrapunkte setzen konnte gegen eine Umwelt, die ihn zu verschlingen drohte.

In einer ähnlichen Spur befindet sich die Weinheimer Psychoonkologin Tonja Deister, deren Beruf es ist, mit Kranken durch Lebensberatung und Lebensbegleitung in Kontakt zu kommen, die durch Krebs und andere Krankheiten hineingebunden sind in ein Krankenhaus, in den engen Raum eines Krankenzimmers. Spannend, wie sich aus der Perspektive einer Krankheit, die ein Leben zerstört, eine neue Ordnung von Raum und Zeit ergibt. Die Patienten lernen, den Raum des eigenen Lebens zu gestalten, die Zeit zu ordnen, indem die Beziehung zu sich selbst, zum anderen und zu Gott hin vertieft und geordnet wird. In diesem Beitrag sind wir sehr nahe am Menschen von heute.

Wir haben auch einen jungen Pfarrer in der Schweiz befragt, es ist Ruedi Beck aus Luzern, ob es in seinem täglichen Leben Raum für Gott im Alltag gibt. Es war überraschend, wie sich diese für ihn zunächst neue Frage verdichtete und ihn im Laufe von vier Wochen zu tiefen, bewegenden Erkenntnissen führte. Er berichtet davon, wie unglaublich stärkend es für ihn sei, Gott auch im Alltag spontan ansprechen zu können, weil dieser ihm das Leben mit seinen Reichtümern schenke. Solches innere, manchmal spontan sich entwickelnde Angesprochen-sein von Gott her braucht, so die Erfahrung von Pfr. Beck, unmittelbare Ansatzpunkte in einem bestimmten Lebensrhythmus, zu dem bei ihm die tägliche Eucharistiefeier, die regelmäßige Beichte, die Begegnung mit der Natur und die ganz natürliche unspektakuläre Wohngemeinschaft mit anderen Priestern und Laien gehört. Gerade dieser Beitrag kann Mut machen, sich auch heute um ein vom Gebet und Glauben geprägten Lebensrhythmus zu mühen, sozusagen die Koordinaten für ein Leben mit Gott im Alltag neu zu befestigen.

Ans Ende dieses Heftes haben wir einen besonders bemerkenswerten Beitrag vom ehemaligen Bischofsvikar Dr. Matthäus Appesbacher aus Salzburg gesetzt. Sein Beitrag, gespickt mit vielen persönlichen Erfahrungen und erprobten Tipps, lässt tiefer verstehen, wie das Leben im Alter bestanden werden kann, mehr noch, welche Chancen das Alter bietet. Sein Beitrag geht in besonderer Weise ein auf Themen im Umfeld von Zeit haben, Zeit verlieren, Zeit schenken, Zeit gestalten und Zeit vertrödeln. Eine Fülle von Hinweisen, die er vermittelt, können gerade im Alter wichtige Hilfe sein, eigene Chancen für ein Leben in Raum und Zeit mit Gott selber zu entwickeln.

Dieses Prisma-Heft hat einen stark spirituellen Charakter, es bewegt sich sehr nah am Menschen, will der Frage nachgehen, wie es möglich ist, heute einen eigenen Lebensrhythmus zu finden, auch durch das Bemühen um den gegenwärtigen Augenblick und die immer neue Gegenwart Gottes in diesem Augenblick.

Abschließend möchte ich in eigener Sache etwas anfügen: Nach über 30 Jahren gebe ich die Verantwortung der Herausgeberschaft für DAS PRISMA in andere Hände – voll Dankbarkeit gegenüber unseren Autoren und den vielen Leserinnen und Lesern. Es war ein immer wieder neues Erlebnis, in der Redaktionskonferenz gemeinsam auf die Kirche zu schauen, auf die Welt, auf das Charisma der Einheit und auf unsere Leserfamilie. In diesen vielen Jahren hat sich DAS PRISMA kontinuierlich weiter entwickelt. Es ist zu einem verlässlichen Heft geworden, das dem Leben in Kirche und Welt dienen will. Auch dieses Heft möchte helfen, in Raum und Zeit, also vor Ort im Alltag, den Geist Gottes, der dort immer schon wirkt, neu in den Blick zu bekommen und so in die Chance eines Neubeginns und einer Erneuerung von innen her einzutreten.

Wilfried Hagemann

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