Die Universale Geschwisterlichkeit –
Ein zentrales Lernziel für kirchliche Schulen!

Sehr verehrte Herren Bischöfe,
sehr verehrte Schwester Provinzialoberin Henriette,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
lieber Herr Direktor,
sehr geehrtes Kollegium,
liebe Schülerinnen und Schüler der Cäcilienschule,
liebe Ehemalige,
liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!

Es ist für mich eine große Freude, von Münster nach Wilhelmshaven gekommen zu sein, um die Festrede zum 100-jährigen Jubiläum der Cäcilienschule in Wilhelmshaven zu halten. Ich bin froh, hier in diesem Stadttheater sprechen zu dürfen. In jungen Jahren besuchte ich hier so oft, vor allem mit meiner Mutter, Sinfoniekonzerte. Hier setzte mich auch „mein“ Humboldt-Gymnasium als Cellist beim Konzert der Wilhelmshavener Gymnasien ein. Heute bin ich Leiter des Bischöflichen Priesterseminars in Münster und für die Priesterausbildung und –weiterbildung im Bistum Münster verantwortlich. Ich bin 1948 ans Gymnasium gekommen und habe 1957 in Wilhelmshaven das Abitur bestanden. In jenen Jahren habe ich miterleben dürfen, wie die Cäcilienschule nach der schweren Kriegszeit wieder gegründet wurde und wie segensreich hier Schwester Justitia und Schwester Hildegarda mitgearbeitet haben.

Ich rede heute als Theologe und als Wilhelmshavener, nicht als Pädagoge!

100 Jahre Cäcilienschule – eine Initiative der katholischen Kirche in Wilhelmshaven!

Die Cäcilienschule ist heute ein echtes Markenzeichen für Pädagogik, Bildung und Schulgemeinschaft, nicht nur in Wilhelmshaven, sondern weit darüber hinaus. Beim Pastoralbesuch der Priesterkandidaten des Bistums Münster in Wilhelmshaven - kurz vor deren Weihe – gehört der Besuch der Cäcilienschule zum Pflichtprogramm, weil sie zu den führenden Schulen unseres Bistums Münster gehört.

1. Warum engagiert sich die katholische Kirche in Wilhelmshaven in Schule?

Die katholische Kirche kann im Bereich Schule nur Akzente setzen und Angebote machen. Genauso erleben wir es heute im Bereich der Kirchengemeinden; es wird immer notwendiger, weniger flächendeckend zu arbeiten, um an Schwerpunktorten lebendige Glaubenszellen entwickeln zu können. Durch den Aufbau und Unterhalt einer Schule setzt die Kirche also einen wichtigen Akzent. Sie gibt damit das Signal: Die Jugendlichen sind wichtig, sie sind absolut wichtig! Es macht wirklich Sinn, sich für die Jugend zu engagieren.

Ein Weiteres kommt hinzu: Die Kirche möchte durch die Schule jungen Menschen inhaltliche Angebote machen und über reines Wissen und Denkenkönnen hinaus Inhalte und Ziele anbieten, für die es sich zu leben lohnt. Wie allgemeine Umfragen, auch die Shell-Studie, zeigen, sind junge Menschen heute stärker als früher auf der Suche nach echten Werten, für die es sich lohnt zu leben. Bei dieser Suche möchte die Kirche die jungen Menschen nicht allein lassen. Die Kirche will, von ihrem eigenen Selbstverständnis her, Gesprächspartnerin gerade für junge Menschen werden. Bei diesem Vorgang kommt die Kirche wie von selbst auf den Prüfstand der jungen Generation, die mit Recht fragen wird, ob Kirche und Glaube ihrem eigenen Leben entscheidende Impulse und nachhaltige Prägung geben können. Darum ist eine Schule in Trägerschaft der Kirche gerade auch für die Kirche eine echte Herausforderung. Und da diese Schule sich in ihrer heutigen Gestalt im ganz praktischen Schulalltag der Ökumene verpflichtet weiß – was sich auch in einem erstklassigen Angebot in katholischer und evangelischer Religionslehre und regelmäßigen ökumenischen Gottesdiensten ausdrückt - stehen rein faktisch in der Cäcilienschule beide christlichen Kirchen auf dem Prüfstand.

2. Welche Bedeutung hat das Evangelium Jesu Christi für eine Schule in kirchlicher Trägerschaft?

Wenn die Kirche über den Aufbau von Gemeinden hinaus sich auch im Bildungssektor u. a. durch Schulen engagiert, dann muss die Kirche ihr Menschenbild und ihre pädagogischen Ziele offen legen und transparent machen. Nur so ist ein ehrliches Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern, aber auch mit allen am Bildungsprozess Beteiligten, auch dem Lehrerkollegium und den Eltern, möglich. Kirchlicherseits muss immer neu und grundsätzlich am Thema Schule gearbeitet werden.

Ich gehe von der These aus, dass der Mensch nur glücklich werden kann, wenn er in Frieden lebt, d. h. wenn er sich selber annehmen kann und wenn er den anderen und wenn der andere ihn annehmen kann. Eine christliche Schule kann auf Grund des Potenzials, das im christlichen Glauben und im Evangelium steckt, einen wesentlichen Beitrag zur Annahme seiner selbst leisten und dadurch verlässliche Wege zu einem glücklichen Menschsein erschließen.

Das im Neuen Testament vermittelte Gottesbild zielt in eben diese Richtung. Hier wird ein Gott vorgestellt, der Vater ist, der die Sonne aufgehen lässt über Guten und Bösen, der den Einzelnen auch noch in der einsamen Kammer anschaut und ihm nahe ist, weil er sich in Jesus Christus als Gott-Liebe offenbart: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn für sie hingab“ (Joh 3,16). Dieses Gottesbild kann den Menschen in seiner Tiefe prägen und verändern. Die Entdeckung, dass ich als Mensch von Gott geliebt und gewollt bin, dass ich nicht Ergebnis eines Zufalls oder eines blinden Schicksals bin, schenkt mir als Glaubenden eine reale psychische Sicherheit und ist die Grundlage für ein Urvertrauen, das meinem Leben als Mensch Sinn und meinem Dasein auf der Welt ein Ziel gibt. Die Gewissheit, dass Gott für mich Liebe ist, gibt mir die Kraft, immer wieder aus mir herauszugehen, zu leben, zu lieben und Gemeinschaft aufzubauen.

Tatsächlich, der Gottesglaube kann den Menschen in seinem Personsein stärken und verändern und zu einer reifen Ich- und Du-Beziehung und zu einem reifen Wir-Sein führen. Das Problem des Menschen von heute besteht doch gerade in der Notwendigkeit, ein Ich zu entwickeln, das in sich vollständig ist und von niemandem abhängig, das frei ist von falschen Tendenzen eines Ego, welches sich von Habsucht und Besitzgier hinreißen lässt. Wenn der Mensch heute glücklich werden will, muss er ein Ich entwickeln, das fähig ist, sich selbst zurückzunehmen, sich für die anderen zu öffnen, um in der Gemeinschaft mit den anderen selber bereichert zu werden. Den Weg dahin lehrt genau das Evangelium.

„Die Neuheit der von Jesus Christus eingebrachten Kultur besteht in der Revolutionierung der inter-individuellen Beziehungen“ - so Chiara Lubich, die Präsidentin und Gründerin der internationalen Fokolar-Bewegung. Bei ihrer Vorlesung anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde in Humanwissenschaften am 26. Februar 1999 in Malta verwies sie darauf, wie sehr sich Menschen oft in einseitigster Weise beim Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen eingrenzen ließen. Oft seien die Beziehungen zwischen den Menschen bestimmt von Blutsverwandtschaft, Klassenzugehörigkeit, von besonderen Interessen oder auch von rein äußeren Zielsetzungen etwa wirtschaftlicher, sportlicher, kultureller oder gesellschaftspolitischer Art. Durch das Evangelium Jesu Christi jedoch würden diese Motivationen nicht aufgehoben, würden aber zweitrangig. Denn durch das Evangelium wird sich der Mensch bewusst, dass er selbst und jeder andere Mensch einen transzendenten Wert hat. Das Evangelium lehrt ausdrücklich, dass ein Mensch dem anderen gegenüber sozusagen Gott selbst präsent macht. Denken wir an das fast nicht auslotbare Wort: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). In diesem gern zitierten Jesuswort steckt eine Dynamik von psychologischer Relevanz: Wer sich auf dieses Jesus-Wort einlässt und im Geringsten der Brüder und Schwestern Gott selber dient, wird umso mehr Person, je mehr er in innerer Freiheit und ganz bewusst den anderen Menschen um Christi willen bejaht, selbst auch unter Einsatz des eigenen Lebens. So sagt das Evangelium ausdrücklich: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für die Brüder hingibt“ (Joh 15,13).

Es versteht sich von selbst, dass eine Schule in kirchlicher Trägerschaft gerade heute, wenn sie ganz aktuell dem Menschen dienen will, die Schülerinnen und Schüler mit diesem Evangelium bekannt machen muss, ohne deswegen in autoritäre Indoktrination zu verfallen.

3. Um welches Bildungsziel geht es der Kirche, wenn sie sich in Schule engagiert?

Von einem Gott, der Liebe ist, leitet sich unmittelbar ab, dass alle Menschen, grundsätzlich alle Menschen, ganz gleich welcher Rasse, welcher Kultur und welcher Religion Kinder dieses Vaters sind und folglich untereinander Brüder und Schwestern. Daraus ergibt sich ein sehr wichtiges Bildungsziel: Das Ideal einer universalen Geschwisterlichkeit kennen zu lernen. Es bedeutet, zu realisieren, dass jeder Mensch, dadurch dass er Mensch ist, mir nahe kommen darf als Mitmensch, als Mitbürgerin und Mitbürger, als Schwester und Bruder, weil er Gottes Ebenbild ist und von dem gleichen Gott/Vater/Schöpfer gewollt und ins Leben gerufen wurde wie ich selbst. Es ist heute wichtiger denn je, dieses Ideal im praktischen Vollzug eines Schulalltags umzusetzen und dadurch Schülerinnen und Schüler zu befähigen, selber schon jetzt und nicht erst als Erwachsene an der Verwirklichung dieser vom Evangelium her kommenden und im Evangelium verwirklichten universalen Geschwisterlichkeit zu arbeiten.

Bei genauem Hinsehen stellt sich hier fast wie von selbst ein Gleichklang mit den Zielen der Französischen Revolution heraus, die seinerzeit die Schlagworte prägte: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – Liberté, Egalité und Fraternité.“ Wenn wir in unsere Welt schauen, dann sind Freiheit und Gleichheit zumindest gesetzlich und durch die Verfassung gesichert. Aber an der Brüderlichkeit, an der Fraternität – oder wie wir heute besser sagen - an der Geschwisterlichkeit mangelt es. Dies können wir im Nahbereich unserer Stadt, aber auch in der Bundesrepublik und auch in globaler Hinsicht fast unmittelbar wahrnehmen:

Wir tun uns sehr schwer heutzutage mit dem Schicksal von Arbeitslosen und Behinderten, von Asylanten und Flüchtlingen, aber manchmal auch mit Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen oder mit Menschen, die uns einfach unsympathisch sind. Von einer Geschwisterlichkeit, die den Alltag prägt, sind wir noch weit entfernt, erst recht von einer länderübergreifenden universalen Geschwisterlichkeit.

Ich bin fest davon überzeugt: Unsere Welt wird nur überleben, wenn wir anfangen, in wichtigen Bereichen die universale Geschwisterlichkeit leben zu lernen. Die Aidskatastrophe in Afrika, das weltweite Ungleichgewicht zwischen den Völkern hinsichtlich Entwicklung, Gesundheitsfürsorge und Menschenrechte, erst recht die latente und gleichzeitige offenkundige Gefahr des Terrorismus, aber auch die immer mehr als Geißel erfahrene Arbeitslosigkeit vieler Mitbürgerinnen und Mitbürger lassen sich nicht mit Geld, mit guter Organisation und gutem Willen allein, aber auch nicht durch den Einsatz von Waffen lösen. Es braucht eine Kraft, die den Menschen ganzheitlich im Herzen und im Verstand für den Anderen öffnet. Es braucht eine Kraft, die immer neu Umkehr ermöglicht und neues Denken und neue Beziehungen zwischen den Menschen frei setzt. Das Evangelium Jesu Christi, wo es von Menschen lebendig gelebt wird, hat die Kraft, auch andere, auch junge Menschen, zu einem solchen neuen Denken und Handeln zu bewegen. Ich erfahre in meiner Arbeit als Regens unter jungen Priesterkandidaten, dass das Evangelium mit seinem Angebot einer universalen Geschwisterlichkeit heute junge Menschen motivieren kann, sich für andere und insbesondere für die Armen einzusetzen.

Und genau auf diese Weise macht das Evangelium den Weg frei, ein glücklicher Mensch zu werden.

4. Wie kann das Lernziel „universale Geschwisterlichkeit“ in einer Schule verwirklicht werden?
Wie kann die universale Geschwisterlichkeit gelernt werden?

Ich kann hier wegen der knappen Zeit nur kurze Stichworte nennen.

Es braucht ein Kollegium von Lehrerinnen und Lehrern und es braucht Eltern, die sich auf das Evangelium Jesu Christi persönlich einlassen oder die mit den Ansätzen des Evangeliums sympathisieren und das müssen sie zeigen! Jugendliche brauchen das Zeugnis von Erwachsenen, von Lehrern und Eltern! Oft fordern sie dies auch ein. Es ist heute ganz ungemein wichtig, sich zum eigenen Glauben auch vor den Schülerinnen und Schülern zu bekennen. Es braucht Lehrerinnen und Lehrer, die sich selber auf den Weg machen und bereit sind, über die universale Geschwisterlichkeit mit den Schülerinnen und Schüler aktiv ins Gespräch zu kommen. Es braucht Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer, die mit den Schülerinnen und Schülern an einem Klima arbeiten, in dem mögliche Diskriminierungen Andersdenkender, Andersglaubender oder Andersaussehender auffallen und bearbeitet werden können. Die Klasse oder der Kurs eines Jahrgangs und die Schulgemeinschaft als Ganze können ein Laboratorium sein, wo jene neue Beziehung einer universalen Geschwisterlichkeit unter jungen Menschen und mit den Lehrerinnen und Lehrern innerlich verstanden, bejaht und eingeübt wird.

Auf diese Weise kann das Interesse an Politik und gesellschaftlichem Engagement als Dienst am Menschen neu verstanden und damit geweckt werden.

Es muss zum Unterrichtsprogramm gehören, die Gesetzmäßigkeit eines differenzierten Dialogs mit Muslimen und Buddhisten etwa kennen zu lernen und solche Dialoge durch die Entdeckung tragfähiger Gemeinsamkeiten einzuüben. Dazu gehört auch, den Schülerinnen und Schülern zu helfen, die eigene religiöse und weltanschauliche Identität zu entwickeln und auf der Grundlage eines kritischen Selbstbewusstseins in Dialoge einzutreten. Dabei können die Lehrpersonen helfen, besonders durch ihr eigenes Zeugnis, mangelnde Identität zu stärken, mögliche Diskriminierung anderer offen zu legen und anzuleiten, die eigenen Werte anderen gegenüber transparent werden zu lassen.

Es versteht sich fast von selbst, dass eine solche Schule nicht nur den Schülerinnen und Schülern, sondern darüber hinaus auch dem ganzen Umfeld der Schule die universale Geschwisterlichkeit nahe bringt und damit ein Stück neue Lebenskultur in einer Stadt wie Wilhelmshaven mitentwickelt.

In diesem Sinne wünsche ich der Cäcilienschule vor allem Gottes Segen.

Festvortrag zum 100-jährigen Jubiläum der Cäcilienschule Wilhelmshaven, Juli 2003

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