Gegenseitige Liebe und Neues Gebot bei Klaus Hemmerle

Das Neue Gebot ist ein zentrales Thema im Leben und im Denken von Klaus Hemmerle. Ihn faszinierte, dass das Neue Gebot "Liebet einander, wie ich euch geliebt habe" das für Jesus und für das Neue Testament charakteristische Gebot ist. In der Liebe, die Maß nimmt an der Liebe Jesu, der sein Leben hingegeben hat für seine Brüder, kommt im Leben der Kirche das Zentrale des Christseins zum Vorschein: die Gnade von Ostern, das Pascha-Mysterium, Kreuz und Auferstehung Jesu. Beim Hinschauen auf das Neue Gebot weiß sich Hemmerle im Zentrum des Lebens Jesu, in der Mitte des Neuen Testamentes. Genau hier bringt Jesus einen "Überschuss" über das Alte Testament. Das Liebesgebot, das Gebot der Nächsten- und Gottesliebe findet sich im Zentrum des Alten Testamentes. Das Neue Gebot, die gegenseitige Liebe, die deswegen "neu" heißt, weil sie jede Situation neu werden lässt, also Anfänge freisetzt wie am ersten Schöpfungstag. Dass Jesus uns auf diesen Weg einlädt und uns ermächtigt, die gegenseitige Liebe zu leben, ist ein zentraler Topos im Leben und Denken von Klaus Hemmerle.

1. Wie geht die gegenseitige Liebe und was macht sie aus?

Hemmerle findet eine plastische und einfache Formulierung: Einander Geschenk sein

Unser Eigenes zum Geschenk für die anderen und die Gaben der anderen uns selber zum Geschenk werden lassen – das ist der Stil von Kirche, ja ihr „Ausweis“. Denn daran sollen wir für alle als Jünger Christi und somit als Kirche erkennbar sein, dass wir jene Liebe zueinander haben, die der Herr zu uns hat (vgl. Joh 13, 34f.). In ihm wird Gott zum Geschenk für den Menschen. In ihm wird der Mensch wieder zu jenem Geschenk an Gott, zu dem er geschaffen und gerufen ist, in ihm werden wir einander zum Geschenk. „Lumen gentium“, die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, bezeichnet das Neue Gebot als das Lebensgesetz der Kirche (LG 9). Dieses Lebensgesetz freilich erschöpft sich nicht in einem moralischen „Du sollst“. Es deckt uns die Tiefe des Menschseins, ja die Tiefe Gottes selber auf. Die vielen Linien des Johannesevangeliums laufen im Neuen Gebot und seiner Konsequenz, dem Testament Jesu, dass alle eins seien (vgl. Joh 17, 20-23), zusammen. (1)

2. Wo liegt der Ursprung dieser gegenseitigen Liebe?

Die Gegenseitigkeit ist im Wesen des dreieinen Gottes verankert!

Gott ist nicht verschlossenes Ich, sondern sich öffnende, sich in sich selber mitteilende, übersteigende Ursprünglichkeit, dreipersonale Liebe. Und weil Gott so anders ist, ist auch die Welt anders. Sie ist freies Werk, freies Geschenk Gottes, nicht mit Gott zu vermengen. Aber indem sie freigegeben ist an sich, in ihren Eigenstand, ist sie zugleich hineingehoben in die Beziehung – sie ist Feld gegenseitiger Beziehung und lebendiger Beziehung zu Gott. Nur die Liebe versteht Gott, weil Gott Liebe ist. Aber auch nur die Liebe versteht die Welt, weil die Welt Geschenk der Liebe ist und nur Liebe dieses Geschenk verdanken, gebrauchen, „identifizieren“ kann. „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8,31). Wenn der Sohn und wenn der Geist, wenn Gott selber uns Geschenk ist, wie sollte das, was er schafft, dann nicht Geschenk, Geschenk für uns sein? Geschenk freilich, das es zu wahren und nicht zu zerstören, dankbar, in der achtenden und wahrenden Liebe zu gebrauchen gilt. (2)

3. Wurzel im Fokolar, bei Chiara Lubich

Von Charisma der Einheit empfing Klaus Hemmerle die Grundeinsicht in die Bedeutung der gegenseitigen Liebe. Darüber schreibt er in der Theologisch-Praktischen Quartalschrift:

Das Streben nach Heiligkeit, das zum Grundbestand der spirituellen Orientierung im Fokolar gehört, ist davon inspiriert, den Nächsten als Sakrament der Liebe Gottes zu entdecken und dem Nächsten Sakrament der Liebe Gottes zu sein: Heiligkeit aus der Liebe und um der Liebe willen. Der Weg zu dieser Heiligkeit ist eben der Weg mit Jesus in unserer Mitte. So wird das persönliche Bemühen, dem Herrn nahe zu sein, eins mit dem Bemühen, seiner Gegenwart in der gegenseitigen Liebe den Weg zu bereiten. Die Radikalität der Liebe zu Gott ist die zum Nächsten, die Radikalität der Liebe zum Nächsten ist die zu Gott, die Radikalität beider ist das Einssein, wie Vater und Sohn eins sind, auf dass die österliche Gegenwart Jesu zwischen uns geschehe und der Kirche und der Menschheit geschenkt werden kann. (3)

4. Trinitarisch leben - Leitmotiv der Fokolar-Bewegung

Noch einmal aus dem wichtigen Artikel in der Linzer Zeitschrift:

Die Fokolar-Bewegung ist eine „trinitarische“ Bewegung. Nach dem Ausgeführten kann es nicht anders sein: Das Ostergeheimnis führt von sich aus in die Trinität hinein. Es umfasst Hingabe an den Vater, auch und gerade aus dem größten Abstand zu ihm, Antwort des Vaters in der Auferweckung, Gabe des Geistes an jene, die sich in dieses Geschehen zwischen Vater und Sohn hineinnehmen lassen. Der Durchbruch in diese trinitarische Dimension erfolgte für die Fokolar-Bewegung freilich nicht zuerst durch eine zusätzlich zum Leben angestellte Reflexion, sondern in der inneren Konsequenz des Lebens selbst. Der uns so liebt, dass er bis zur Gottverlassenheit sich eins macht mit uns, der macht uns miteinander eins, trägt uns alle in sich. Und sein alles zusammenfassendes Gebet an den Vater vor dem Eintritt in das Ostergeheimnis ist eben jenes, dass alle eins seien, wie er im Vater und der Vater in ihm ist (vgl. Joh 17, 20-23). Dies ist der Radikalfall und die Erfüllung jener Liebe, die Jesus als das Neue Gebot, als Sein Gebot uns aufträgt: uns gegenseitig zu lieben, wie er uns geliebt hat (vgl. Joh 13, 34f und 15, 12). Gegenseitige Liebe, die bis zur Hingabe des eigenen Lebens an den anderen bereit ist, führt in jene Hingabe hinein, in welcher uns der Sohn hineinnimmt in sein Einssein mit dem Vater. (4)

5. Die gegenseitige Liebe fängt beim ICH des einzelnen an

Der springende Punkt ist uns bereits auf unserem einleitenden Gedankenweg begegnet: Der neuzeitliche Grundansatz des „Ich denke“ muss sich um das „Er“, „Du“ und „Wir“ erweitern. Dem liegen vier christlich-elementare Erfahrungen zugrunde:

Ich glaube an die Liebe – „er“ liebt mich; ich frage nach dem Willen Gottes – „ich“ bin verantwortlich; „du“ bist mir so wichtig wie ich mir selbst – ich begegne in dir dem Herrn; „wir“ wollen einander lieben, wie er uns geliebt hat – wir sind eins, und er ist in unserer Mitte.
So zu leben bedeutet trinitarisch zu leben. Das möchte ich im Folgenden auslegen. Ich: Wo bin ich? Wenn ich an diese Liebe Gottes glaube, obwohl ich vieles in meinem Leben nicht verstehe; wenn ich mich auf jenen innersten, oft verborgenen und verschütteten, gestörten Grund besinne, in dem ich sagen kann: Ich übernehme mich, ich empfange mich, ich glaube an den Ruf, der mich ins Dasein hebt, der mich begleitet und mich nicht mehr verlässt; wenn ich schließlich mein Leben als ein Gerufensein verstehe, nicht als ein „Ich kann machen, was ich will!“ oder „Ich bin dazu verdammt, der zu sein, der ich bin!“, sondern als ein „Ich bin gerufen. Ich bin ins Sein erwählt!“: dann lebe ich so, wie der Sohn mit dem Vater lebt. Dann lebe ich die Erfahrung dessen mit, der in der Taufe im Jordan und auf dem Berg Tabor hört: „Das ist mein geliebter Sohn“ (Mt 3, 17; 17, 5). (5)

6. Und wie gelangen wir zu dieser gegenseitigen Liebe?

Wir sollen bei Jesus in die Schule gehen.

Jesu Leben ist von Anfang an Antwort, ist von Anfang an „Ja“. In ihm fallen Ursprung-Sein und Antwort-Sein absolut zusammen. Er ist gefragt worden, ob er Mensch werden will. Und er hat gesagt: „Ja, ich komme, um deinen Willen zu tun.“ (Hebr 10, 9) So sind wir von Anfang an hineingenommen in diese Wirklichkeit der Beziehung zwischen Sohn und Vater. Dieses Ja zwischen Vater und Sohn ist der Raum, in dem auch wir bejaht, gemeint, ermöglicht, geschaffen und erlöst sind. Das Ja zwischen Vater und Sohn gründet und umschließt in Freiheit mich und alle und alles. Hier begegnet uns ein anderer Gott. Ein anderer Gott als jener, der einsam an der Spitze steht und bloß Befehle oder Gunsterweise austeilt. Ein anderer Gott als jener, der jenseits der Kreuzlinie aller Erfahrungen liegt, der nirgendwo fassbar ist und von dem wir nichts Genaues wissen. Ein anderer Gott als jener, der letztlich nur als eine erklärende und rechtfertigende Formel dient für alles, was geschieht. Ein anderer Gott freilich auch als jener, der als der je Größere geachtet wird, aber in seine Unsäglichkeit eingeschlossen bleibt. Welch ein anderer Gott! Ein Gott, der mich ganz umfängt. Mein „Ich glaube an die Liebe“ und mein „Da bin ich! Ich bin bereit! Er liebt mich!“ sind eingebettet und eingelassen, ermöglicht und begründet in dem lebendigen Verhältnis von Vater und Sohn. Dieser lässt solches ewige Geheimnis aufstrahlen in seinem Menschsein, in seinem Beten zum Vater und Ringen mit dem Vater. (6)

7. Die logische Konsequenz

Wir leben nach dem Modell der Trinität.

Wenn wir aus IHM leben, dann sind wir nicht einsame Satelliten, die um ihn kreisen, dann sind wir nicht einsame „Ich“-Monaden, die ihn in sich aufgesogen haben und fensterlos gegeneinander abgeschottet sind. Nein, dieses Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohn, das durch unser Verhältnis zu Jesus unser Verhältnis zum Vater geworden ist, wird nun auch zu unserem gegenseitigen Verhältnis. Wenn die Welt glauben soll, wenn alle an diesem Leben Anteil haben sollen, dann kann das nur dadurch geschehen, dass das, was zwischen Jesus und uns lebt, auch zwischen uns und unseren Nächsten lebt (Joh 17, 21-23).....

Dieses trinitarische Modell hat Hemmerle immer wieder auf das menschliche Zwischen übertragen.

Erst wenn wir so leben, dass „du“ mein Leben in mir bist und „ich“ dein Leben in dir bin, erst wenn Trinität sich zwischen uns ereignet, ist der Sinn der Sendung Jesu erfüllt und ist das Leben Gottes Leben der Welt geworden. Unser Einssein miteinander ist der entscheidende Punkt, an dem für die Welt „Trinität“ sichtbar wird. (7)

8. Gegenseitige Liebe als gegenseitiges Inne-Sein

Hier greift Hemmerle einen alten theologischen Begriff auf, die Perichorese. Die griechischen Kirchenväter benutzten dieses Wort, um die Einheit und die Vielheit und das darin gegebene dynamische Sein Gottes zu bezeichnen. Sie verwandten den Begriff Perichorese, der aus dem griechischen Theater stammt und den Tanz der Chöre umschreibt. Der Text ist dem letzten Werk von Hemmerle entneommen, das erst postum nach seinem Tod 1995 veröffentlicht wurde. In diesem Werk hat er mitteilen wollen, wie sich bei ihm aus der Begegnung mit dem Charisma von Chiara Lubich eine neue Theologie entwickelt hat.

Das Johannes-Evangelium spricht immer wieder (...) von einem gegenseitigen „Innesein“ der Personen: du in mir – ich in dir; ich im Vater – der Vater in mir; ihr in mir – ich in euch; einer im anderen – der andere im einen.
Dieses vielgestaltige gegenseitige Innesein wird mit einem klassischen Ausdruck der Theologie „Perichorese“ genannt. „Perichorese“ ist ursprünglich der Name für einen Tanz:
Einer umtanzt den anderen, der andere umtanzt den einen, und so fließt alles ineinander. (...) Der andere wird Achse meines Lebens, ich bin die Achse seines Lebens. Gott ist die Achse meines Lebens, ich bin die Achse seines Lebens.
Alles entfaltet sich in diesem „achsialen Umspielen“. (8)

9. Wie geht diese gegenseitige Liebe ganz praktisch?

Gibt es Kennzeichen, die noch deutlicher werden lassen, wohin uns das Neue Gebot führt?

9.1 Gütergemeinschaft

Alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein“ (Joh 17, 10). Unsere gegenseitige Beziehung zueinander heißt nicht nur: gegenseitig nett sein zueinander, sondern sie heißt: alles miteinander gemeinsam haben. Sie heißt im Grunde: ein einziges unteilbares Leben leben. Absolut gesehen ist das nur in Gott so, der das eine und einzige unteilbare Wesen in einem „Plural“ von Personen ist. Das drückt sich aus und vollendet sich, gewinnt personale Gestalt in der Gabe – donum – schlechthin, im Heiligen Geist. Dieser Geist Gottes geht als der eine Geist vom Vater zum Sohn und vom Sohn zum Vater. Er ist gleichsam der eine Kuß der einen Liebe, den sich beide geben, und nicht zwei gleichzeitige Küsse. Doch diese innergöttliche Wesensgemeinschaft setzt auch das Maß und zeigt auch den Rhythmus unseres Lebens als Anteilnahme am Leben Gottes. Das Einssein, das hier in den Blick kommt, drängt zur konkreten Gestalt. Nur dann leben wir trinitarisch, wenn es uns dabei an den inneren und äußeren Geldbeutel geht. Das heißt: lernen, Gottes und der Welt Güter gemeinsam zu haben; lernen, miteinander so umzugehen, dass wir uns nicht nur Almosen geben, sondern wirklich teilen. Es geht nicht darum, den persönlichen Anteil an Arbeit und Gütern zu nivellieren, doch dieser persönliche Anteil ist Anteil an dem, was Leben für das Ganze, Leben für alle bringt und gewährleistet. Mein Persönliches gestaltet das Ganze, lebt vom Ganzen, prägt das Ganze. Unser Leben und mein Leben, unsere Güter und meine Güter, das sind nicht einander ausschließende Gegensätze, sondern sich gegenseitig enthaltende und prägende Wirklichkeiten. (9)

9.2 Die Zeit, die wir haben, mit andern teilen

Meine Zeit wird nur „ganze“ Zeit, wenn sie „geteilte“ Zeit ist. Nicht in der Realisierung eines mir von mir vorgegebenen Planes, sondern in der Bereitschaft des je neuen Eingehens auf dich, des je neuen Mich-Eins-Machens mit dir wächst mir jene Lebensgestalt zu, die dann nicht die meine ist, wenn sie bloß die meine ist. Wenn Sein als solches Beziehung ist und nur in dieser Beziehung Selbststand gelingen kann, dann hat mein Leben seine Einheit nur im Austausch des Lebens, in jener Perichorese, Gütergemeinschaft, gegenseitigen „Verherrlichung“, die uns als Grundbegriffe göttlichen und menschlichen Lebens im Johannesevangelium begegnet sind.(...)
Das „Neue Gebot“ (vgl. Joh 13, 34) und das „Testament“ Jesu (vgl. Joh 17, 21-23), die geistgewirkte gegenseitige Liebe, die uns befähigt, eins zu werden miteinander, wie und weil Vater und Sohn eins sind, bezeichnen (...) auch und gerade unser personales Sein, unsere Identität, die Einheit unseres Lebens in uns. (10)

9.3 Kirche wird Ikone Gottes

In diesen Zusammenhang gehören einige Gedanken, die Hemmerle in der Festschrift für den Augsburger Bischof, Erzbischof Joseph Stimpfle verfasst hat.

Das pilgernde Gottesvolk, die Kirche, ist Ikone der Trinität. Indirekt kamen wir darauf schon zu sprechen mit dem Hinweis, dass das Zeugnis der Kirche nur glaubhaft wird durch die gegenseitige Liebe und Einheit.(...)
Das Eigene und Andere des Gottes, der uns in Jesus Christus offenbart wurde, kann nur beglaubigt, ja in seiner eigenen Ordnung „vorgezeigt“ werden, wenn die Liebe, die Gott ist (...), geschichtlich berührbar wird in der Einheit der Glaubenden in Bekenntnis, Leben und Dienst. Diese Einheit aber wird ihrerseits vollbracht und getragen von der Gegenseitigkeit der Liebe, in welcher die Liebe Christi wirksam und jene dreifaltige Liebe sichtbar wird, die sich in der Liebeshingabe Christi uns erschließt und schenkt. In Lumen gentium 9 ist von diesem Volk lapidar gesagt: „Sein Gesetz ist das neue Gebot (vgl. Joh 13, 34), zu lieben, wie Christus uns geliebt hat.“
Einheit, Gleichheit und Unterschiedenheit in der Kirche und somit ihre komplexe communio- Struktur gewinnen Zeugniskraft und Plausibilität nur durch das trinitarische Leben, sofern es an der Kirche (...) gelebte gegenseitige Liebe, sichtbar wird. (11)

9.4 Die gegenseitige Liebe eröffnet neue Dimensionen der Ökumene

Die gegenseitige Liebe, wenn sie sich unter den Konfessionen, unter verschiedenen Kirchen ereignet, erweist sich geradezu als Sehbedingung für die Erkenntnis der Wahrheit und als unabdingbarer Weg zur Einheit. Hemmerle beschreibt einen neuen Zugang zum Ökumenischen Tun, das noch der Realisierung harrt. Auch hier greift er auf den Begriff Perichorese zurück.

Neues Gebot, Leben nach dem Maß der Dreifaltigkeit sind nicht nur Sehbedingung für die Wahrheit, sondern sie eröffnen auch einen Weg des Sehens, der Einssein und Einswerden innerlich „strukturiert“. Immer wieder ist uns das Wort „Perichorese“ begegnet. Es kennzeichnet einerseits den Gegensatz zu einem bloß additiven Einssein, das in sich unabhängige Stücke zusammenfügt, Grenzlinien zwischen diesen Stücken verschiebt und sie schließlich zukittet. Das Wort „Perichorese“ markiert den Gegensatz andererseits zu einem blockhaften, systemhaften Einssein, in welchem keine Beziehentlichkeit, keine Vielgestalt mehr Raum hat. Perichorese heißt: Die Partner umfangen das Eine und Ganze und sind von ihm umfangen, indem sie sich gegenseitig umfangen, indem der eine im anderen und der andere im einen ist. Solcher Art ist die Liebe, solcher Art ist das Ineinander und Auseinander der Personen in der Trinität. (...) Es genügt nicht, Positionen nebeneinander zu setzen und Gründe für sie auszutauschen, sondern dem je andern offenzulegen, wie ich ihn und seine Position sehe, so dass er sich selber in der Sicht, die ich von ihm habe, erkennen kann. Dies erst ermöglicht in der Auseinandersetzung ein Sprechen über dasselbe. (12)

9.5 Es öffnet sich ein Raum, in dem Berufungen wachsen

Berufung kann nur wachsen, wo Einheit, wo gegenseitige Liebe gelingt. So oft fehlt es am Netz der Liebe, der Kommunikation, am konkreten Miteinander, in welchem der Einzelne den Herrn in der Mitte und sich selbst auf seinem Platz beim Herrn und im Ganzen finden kann. Wo das Netz lose und schlaff wird, da fallen jene hindurch, die es auffangen will. Wir brauchen das dichte Netz derer, die an Gottes Ruf glauben, damit Ruf lebbar und auffindbar wird. (13)

10. Dasein heißt in Beziehung treten

Dasein heißt in Beziehung treten, ganz gewiss in Beziehung mit Gott, in Beziehung mit der Quelle, ohne die wir nichts sind. Aber diese Beziehung zur Quelle muss gelebt werden in der gegenseitigen Beziehung, im Geben und Schenken.
Nur in diesem Rhythmus, in dem wir uns scheinbar verlieren, gewinnen wir uns selbst. Wie das Licht, das seine Strahlen nicht aussendet, erstickt und wie die Quelle, der kein Wasser mehr entsprudelt, in sich versiegt, so ist es mit uns selbst und mit allem. Füreinander, für das andere und die anderen sind wir erschaffen und finden uns in solcher Hingabe erst selber.
Die „Revolution“ des Gottesbildes, die durch den Glauben an den personhaften Heiligen Geist und damit durch den Glauben an den dreieinigen Gott in der Menschheitsgeschichte eingesetzt hat, ist kaum zu ermessen.(...)
Dass Gott ganz und gar Mitteilung, sich verströmendes Leben, dass er in sich geschlossene Seligkeit als lautere gegenseitige Hingabe ist, das dreht nicht nur das menschliche Bild von Gott um; es betrifft auch unser Selbstverständnis, unser Verständnis der Welt.
Sein und Leben können auch für uns nur noch heißen: füreinander und miteinander sein. (14)

11. Konsequenz: Bischöfe, Priester und Laien sind zur gegenseitigen Liebe berufen

Dies beschreibt Hemmerle in seinem Buch "Der Himmel ist zwischen uns". Das Ziel des ekklesialen Tuns ist das Empfangen des Geschenks der Gegenwart des auferstandenen HERRN in der Mitte derer, die sich in Seinem Namen versammeln.

Die Gesetze des Lebens sind für den Priester und für den Bischof dieselben wie für jeden Christen: die Entscheidung für Gott, das Leben aus dem Wort, das Ja zum Kreuz, das neue Gebot. Das eine wird hier besonders wichtig: Deine Gemeinde ist mir so wichtig wie meine Gemeinde, dein Bistum so wichtig wie mein Bistum.
Die Zeit, die ich für dich habe, stehle ich nicht meiner Gemeinde und meinem Bistum; denn je mehr der Herr zwischen uns ins Spiel kommt, desto mehr bringe ich ihn mit in den Dienst an denen, die mir im besonderen anvertraut sind.
Aus der langen Gewohnheit eines sehr ausgeprägten Verantwortungsgefühls für die eigene „Herde“ bedeutet das eine provozierende Umstellung. Aber diese Umstellung ist umso notwendiger, als nur sie die Enge eines Kirchturms-, Versorgungs- und Anspruchsdenkens in die größere Offenheit fürs Ganze überwinden hilft.
Der Herr will nicht nur in jeder Gemeinde und in jedem Bistum, er will auch zwischen den Gemeinden und zwischen den Bistümern leben.
Wer mit seinen Brüdern im Presbyterium und Bischofskollegium so lebt, der wird auch in einer neuen Unbefangenheit und Kraft auf seine Mitarbeiter, auf alle in Gemeinde und Bistum zugehen können. Er wird die Distanz des bloß Amtlichen überwinden, er wird von seiner eigenen Erfahrung etwas weiterschenken und auf die Fragen und Erfahrungen der anderen hören lernen. Sendung wird bleiben, Klerikalismus wird fallen. (15)

12. Hemmerle ruft auf, gemeinsam einen Schritt zu tun

Sollten wir jetzt nicht gemeinsam einen Schritt weiter tun? Sollten wir nicht ganz bewusst das Wort Gottes auf seine Mitte hin leben: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe!?
So könnte das andere, das neue Leben unter uns anfangen, das Leben der vorbehaltlosen gegenseitigen Liebe.
So könnten Misstrauen, Enttäuschung, gegenseitiges Nachtragen, Vorurteile überwunden werden. Je mehr ich in das Wort Gottes hinein hörte, um so deutlicher wurde mir: Lieben, wie Gott liebt, lieben, wie Jesus liebt - das ist die Mitte. ....
Diese drei Regeln gelten auch für uns. An ihnen kommen wir nicht vorbei:
1. Ich muss bereit sein, jeden zu lieben.
2. Ich muss bereit sein, immer als erster zu lieben.
3. Ich muss bereit sein, es mich jeden Tag einen Tropfen Blut kosten zu lassen. (16)

13. Die entscheidende Frage nach Klaus Hemmerle

Schaue ich und stoße ich durch die vielen Aufgaben und Situationen immer wieder hindurch zur Mitte dessen, was Jesus will: auf „sein“ Gebot (vgl. Joh 15, 12), aufs „Neue Gebot“ (vgl. Joh 13, 34)?
Lieben, wie er geliebt hat – das fordert mir die Frage ab:

  • Bin ich bereit, das Ja mit zu sagen und mitzutun, das Jesus mit seinem Blut zu meinem Nächsten hat?
  • Bin ich bereit, den je jetzt fälligen „Blutstropfen“ für ihn zu vergießen? Für den, der jetzt meine Zeit, meine Aufmerksamkeit, meinen Rat, mein Geld, meinen Blick, meine klare, vielleicht auch nicht für ihn und mich bequeme Entscheidung braucht? (17)
  • 14. Gebet um die gegenseitige Liebe

    Klaus Hemmerle ist sich bewusst, dass er aus eigener Kraft fas Neue Gebot nicht leben kann. Um diese gegenseitige Liebe zu leben, sind alle, auch er, auf die Gnade Gottes angewiesen. In "Gerufen und verschenkt" finden wir dieses Gebet:

    Jesus, lass mich so mit deinem Wort leben,

  • dass ich in ihm neu von dir her die Welt, neu aus meiner Welt- und Lebenserfahrung dich sehe und finde, dich Gestalt werden lasse in mir und in dem Feld, das du mir zu bebauen anvertrautest.
  • Und gib, dass wir im Wechselgesang der gegenseitigen Liebe, im Leben aufeinander zu und miteinander, dein Wort unter uns Gestalt werden lassen, so dass du selbst in unserer Mitte sein kannst und wir der lebendige Leib deines Wortes sind.
  • Gib mir, die vielen Ereignisse des Lebens zu buchstabieren in deinem Wort;
  • gib mir, dass immer mehr Augenblicke gelebtes Wort sind, Botschaft, die ich nicht sage, sondern bin, Licht, das ich nicht anderen aufstecke, sondern das mich verbrennt und andere erleuchtet. (18)
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    (1) Aus: Klaus Hemmerle, Linien des Lebens, S. 70 - 71

    (2) Aus: Klaus Hemmerle, Gerufen und verschenkt, S. 70

    (3) Was bewegt die Fokolar-Bewegung? in: Theologisch-Praktische Quartalschrift 139 (1991), S. 351

    (4) ebd., S. 351

    (5) Aus: Klaus Hemmerle, Leben aus der Einheit, S. 34 - 35

    (6) Aus: ebd., S. 35 - 37

    (7) Aus: ebd., S. 43 - 44

    (8) Aus: ebd., S. 44 - 45

    (9) Aus: ebd., S. 45 - 46

    (10) Aus: ebd., S. 72 - 74

    (11) Aus: Pilgerndes Gottesvolk - geeintes Gottesvolk, Festschrift für Erzbischof Stimpfle, S. 364 - 365

    (12) Aus: ebd, S. 369 - 371

    (13) Aus: Klaus Hemmerle, Gerufen und verschenkt, S. 53

    (14) Aus: Klaus Hemmerle, Glauben, wie geht das? S. 147

    (15) Aus: Klaus Hemmerle, Der Himmel zwischen uns, S. 74 - 75

    (16) Aus: Fastenhirtenbrief von 1977

    (17) Aus: Klaus Hemmerle, Glauben, wie geht das? S. 216

    (18) Aus: Klaus Hemmerle, Gerufen und verschenkt, S. 74

    Referat bei der Begegnung von Bischöfen, Freunde der Fokolar-Bewegung,
    Brasilien, Mariapoli Ginetta, 8. August 2013

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