Klaus Hemmerle – Zeuge der Einheit
GLIEDERUNG
1. Kurzporträt von Klaus Hemmerle
2. Der Philosoph Klaus Hemmerle
3. Die persönliche Suche von Klaus Hemmerle
4. Begegnung mit dem Fokolar
5. Die Theologe Klaus Hemmerle
6. Leben aus dem Wort bei Klaus Hemmerle
7. Begegnung mit den Juden
Eingerückte Texte sind Zitate aus meinem im Echter-Verlag eschienenen Buch „Verliebt in Gottes Wort. Leben, Denken und Wirken von Klaus Hemmerle, Bischof von Aachen“, Würzburg 2008.
Kursive Passagen sind direkte Zitate von Klaus Hemmerle.
Chiara Lubich, Gründerin der Fokolar-Bewegung (1920 - 2008) sprach gerne davon, dass es Personen gab, die sie als Mitbegründer der Fokolar-Bewegung empfand. Diese hatten wichtige Impulse gesetzt oder Entwicklungen begleitet, die heute konstitutiv zum Profil der Fokolar-Bewegung gehören. Neben dem Politiker und Publizisten Igino Giordano (1896 -1981) und dem Theologen Pasquale Foresi (geb. 1939) zählt Bischof Klaus Hemmerle zu dieser Gruppe.
Klaus Hemmerle (geb. 1929 in Freiburg, Priesterweihe 1952, Bischofsweihe 1975 in Aachen, gest. 1994 in Aachen) wirkte als Professor für Fundamentaltheologie in Bochum (1970 bis1973), als Professor für Christliche Religionsphilosophie in Freiburg (1973 bis1975) und als Diözesanbischof in Aachen (1975 bis 1994). Als Geistlicher Direktor des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (1968 bis 1973) gründete er den (theologischen) Gesprächskreis Juden und Christen beim ZdK.
In seiner wissenschaftlichen Arbeit gelang es ihm, die Ansätze der modernen Philosophie, besonders des Deutschen Idealismus, der Phänomenologie Husserls und der Philosophie Heideggers, für das theologische Denken und Sprechen zu nutzen und fand so zu einer verständlichen Sprache des Glaubens, die besonders Menschen, die den Kirchen fern stehen, erreicht. Er vermochte neue Wege zu einer christlichen Spiritualität zu erschließen, die geistliche Tiefe mit dialogischer Offenheit verbindet. Auf diesem Hintergrund hat er als Bischof eine Pastoral und Seelsorge entwickelt und selber gelebt, die in Gespräch und Verkündigung gerade auch junge Menschen ansprach und anspricht.
Sein ganz spezifischer Beitrag zur Fokolar-Bewegung hatte zwei Schwerpunkte: Er gab zum einen den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung einer eigenen Theologie und nahm regelmäßig an den Sitzungen des durch ihn mitbegründeten Studienzentrums „Schule Abba“ teil. Zum anderen initiierte er – seinem bischöflichen Leitspruch gemäß „alle eins – damit die Welt glaubt“ – eine weltweite ökumenische Weggemeinschaft mit Bischöfen unterschiedlicher Nationalitäten und Konfessionen und begleitete sie bis zu seinem Tod.
So sehr er die Fokolar-Bewegung befruchtete, so sehr lebte er selbst aus der Quelle des Charismas der Einheit, das er in Chiara Lubich kennen gelernt hatte. „Chiara Lubich hat uns in eine Schule des Lebens genommen“, berichtete Klaus Hemmerle in einem Interview über seine Begegnung mit der Fokolar-Bewegung. „Aber diese Lebensschule ist zugleich eine Schule für die Theologie. Das Ergebnis ist nicht eine Verbesserung der Theologie, sondern gelebte Theologie aus dem Ursprung der Offenbarung.“
Kurz nach seinem Tod äußerte Chiara Lubich in einem Interview für die Zeitschrift DAS PRISMA: „In erster Linie - so würde ich sagen – war es seine außerordentliche Lauterkeit und die Einfachheit seines Herzens, die ihn zu einem echten „Kind des Evangeliums” werden ließen. Er verstand es, in echter Demut mit allen Mitgliedern der „Schule Abbà“ zu kommunizieren. In einem gegenseitigen Geben und Nehmen brachte er seine reiche wissenschaftliche Bildung ein und ließ sich gleichzeitig von der jeweiligen Fachkompetenz der anderen beschenken.“
siehe auch: www.fokolar-bewegung.de
1.1. Sich Fallenlassen ins Bodenlose
„Im März 1943 konnte man im übervollen Auditorium der Universität Freiburg von Heidegger Worte wie die folgenden hören: ,es muss versucht werden, das Sein selbst zu denken ... dies ist ein Denken, das plötzlich ist, nur jedes Mal und immer neu durch einen Sprung erreichbar, abspringend vom Seienden in das Bodenlose ... Es gibt hier keine Brücke des Erklärens. Alles Erklären, das auf dem „Boden der Tatsachen“ bleibt, ist brüchig, es trägt nur infolge einer Vergessung des Seins. Das Sein ist kein Boden, sondern das Bodenlose. Es bleibt von Boden und Grund gelöst und bedarf ihrer nicht. Es ist nicht bodenständig im Seienden, als könnte es auf ihm erstellt werden. Bodenständig ist nur das Seiende in Bezug auf Sein. Bodenlos zu sein erscheint als Mangel nur vom Seienden her gerechnet, worin wir jeden Anhalt verlieren.“ (1)
Diese Gedanken über das Sein, wie sie Heidegger vermittelte, waren nicht nur für Welte, sondern auch für seine Schüler revolutionär. Das Sein als das Bodenlose zu denken - dies öffnete Perspektiven, die gerade die Kriegs- und Nachkriegsgeneration begierig aufgriff. Die Begegnung mit Heidegger veränderte Weltes Weise, das Sein zu denken. Er hatte den Eindruck, dass ihm zum ersten Mal der Wirklichkeit gegenüber eine Offenheit aufblitzte, die für ihn ein Leer-sein dem anderen gegenüber ist; dies hat mit einer ganzen Stufenleiter von Schweigen und immer neuem Hinblicken zu tun.
Was ihm ganz persönlich widerfuhr, als er dem Denken Heideggers über das Sein begegnete, ist in einer autobiographisch zu nennenden Notiz zu lesen, die Welte in den Anhang seiner Vorlesung vom Sommersemester 1943 „Einführung in die Metaphysik“ [nur als Manuskript erhalten] aufgenommen hat. Da lesen wir: „,Nichts‘ denken. Reines Denken mit dem ganzen Einsatz des Assensus. Stille. Offenheit. Abgrund. Aussagelos. Verstummen. Einzigartige Denkmöglichkeit mit nichts anderem vergleichbar, non solum a parte objecti sed a parte intellectus“ (2). Und dann: „Beladen mit der Realität von Welt und Selbstsein: welches auf dem Bodenlosen bodenständig ist.“ (3)
(Seiten 37 - 38)
1.2. Das lassende Denken
Schon in seiner frühen Schrift, die er noch als Habilitand bei Prof. Welte in Freiburg zusammen mit dessen beiden gleichzeitig ausgebildeten Meisterschülern, den heutigen Professoren Dr. Bernhard Casper und Dr. Peter Hünermann, veröffentlichte, zeigt er einen Denk- und Lebensweg auf. Wie können wir das Heilige, den Heiligen denken? Für ihn wird im Verlauf seines Nachdenkens eine Unterscheidung besonders wichtig, nämlich die zwischen einem fassenden und lassenden Denken.
Das fassende Denken bemächtigt sich des zu denkenden Gegenstandes, fasst ihn in seine Begriffe und ist in Gefahr, den Gegenstand zu zerdrücken. Der Gegenstand kann sich möglicherweise nicht zeigen wie er ist. Das lassende Denken öffnet sich für den Gegenstand, für den Andern, für Gott und lässt diesen auf sich zukommen in immer neuen Überraschungen und An-Sichten. So kann sich auch ein zunächst fremder Gott einem Menschen zeigen. So kann es diesem Menschen möglich werden, sich seinerseits diesem Gott zu zeigen und sich auf ihn einzulassen. Dieses lassende Denken ist von vorneherein existentiell und für eine immer neue Begegnung offen.
Denken und Begegnung gehören hier zusammen. Wo dies geschieht, ereignet sich ein Drittes: Der Mensch kommt vom fassenden Denken zum lassenden Denken und schließlich zum sich verdankenden Denken. Er erkennt, dass der Heilige, der ihm im Denken begegnet, jener ist, in dem der Mensch selbst seinen Ursprung hat.
Bei unserer heutigen Begegnung gilt es darauf zu achten, dass wir uns immer dieses hemmerleschen Denkstils bewusst sind und in diesem Sinne uns auf das Denken Hemmerles, das von vorneherein ein Leben ist, einlassen. Es wird immer wieder darauf ankommen, dass wir die Gedanken von Hemmerle zunächst mit vollziehen, um sie dann gemeinsam anzuschauen und zu verstehen.
1.3. Die Mehrursprünglichkeit des Menschen
Eine Lieblingsformulierung von Klaus Hemmerle heißt: wie geht das? Glauben, wie geht das? Lieben, wie geht das? Spielen, wie geht das? Dreifaltig leben, wie geht das? Er stellt Fragen und schaut hin. Er nimmt Fragen an, er nimmt Fragen auf, er öffnet sich jeder Fragestellung genauso, wie er es bei seinem Lehrer Welte gelernt hat.
Da wird für ihn das weltbekannte Bild der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle Roms zur Brücke einer tieferen Gewissheit. Wiederum bedient er sich der Methode der Phänomenologie: Er schaut hin. Ihm fällt auf, wie Michelangelo - von der bisherigen Tradition abweichend - die abgebildeten Gestalten angeordnet hat. Adam ist in der linken Bildhälfte, der Schöpfergott, der in seinem Gewandbausch schon Eva ‚bereithält’, ist auf der rechten Bildhälfte zu sehen. Folgt man der abendländischen Leseordnung – wir lesen ja von links nach rechts anders als die Hebräer -, dann erscheint der Schöpfergott an zweiter Stelle nach Adam. Würde hier der Vorgang der Erschaffung Adams in reiner Kausalität dargestellt, dann müsste der Schöpfergott – wie oft in der Buchmalerei des Mittelalters – links von Adam sein.
Nun aber ist der Schöpfergott auf der rechten Seite, Adam gegenüber, die Zukunft von Adam. Es kommt zu einer Mehr-Kausalität oder – wie Klaus Hemmerle mit dem von ihm verehrten und geschätzten früheren Würzburger Philosophen Heinrich Rombach gerne sagte – ‚Mehrursprünglichkeit’. Gott hat also den Menschen nicht nur einmal geschaffen, am Anfang, sondern er erschafft und er bildet und formt den Menschen heute, im Jetzt. Gott, der Schöpfer ist die Zukunft des Menschen. Das heißt für Klaus Hemmerle: Der dreifaltige Gott – es gibt keinen anderen – erschafft und bildet und formt heute den Menschen.
Die Stelle, an der Gott den Menschen neu schafft, ist genau dort, wo der Mensch in absoluter Aporie vor seinem eigenen Abgrund, vor seinem Nichts, vor seinem Out steht. Hier will ihn der Finger Gottes berühren. Zentrales Vorbild und gleichzeitig zentrale Verheißung für dieses ständige Neu-Schaffen des Menschen ist für Klaus Hemmerle der Kreuzestod und die Auferstehung Jesu Christi. Sie ist in der Geschichte geschehen und übersteigt sie gleichzeitig. Das Neu-Schaffen des Menschen hat seinen Ursprung sowohl auf unserer Erde und in unserer Zeitlichkeit als auch im Schaffensakt des dreifaltigen Gottes. Es führt gleichzeitig über dieses Universum und die Jetzt-Zeit hinaus in eine neue Dimension des Seins.
„In der Nacht vor meiner Priesterweihe war ich völlig ratlos. Es war plötzlich alles weg. Ich wusste gar nicht mehr, was ich eigentlich wollte und sollte. Da lief ich in der Nacht zu einem Freund, der mit mir geweiht wurde. Dieser gab mir ein kleines Buch in die Hand, ich dem ich folgende Sätze las: Das Wichtigste über den Priester steht im ersten Korintherbrief im elften Kapitel. Dort wird zum ersten Mal über die Eucharistiefeier einer Gemeinde berichtet. Dort steht nichts vom Priester. Genau das ist das Wichtigste, was man vom Priester sagen kann, nämlich: Der Priester muss jenes Nichts sein, durch das die ganze Gemeinde eins wird in Jesus.“ (4)
Siebzehn Jahre später, als Klaus Hemmerle längst Geistlicher Direktor in Bonn war, hat er bei einem Fokolartreffen in Oudenbosch/Holland von dieser Nacht erzählt und berichtet: „Das hat mich begleitet. Das war das Bild, das mein Priestertum seither bestimmt hat. Aber wenn man allein nichts sein will, dann schafft man das nicht.“ (5)
(Seite 43)
(…)
Auf die Frage, welche Quellen sein theologisches Interesse und damit auch sein Denken speisten, bezog er ganz bewusst seinen eigenen Werdegang in die Antwort mit ein: „Die eine Quelle war ein ungeheuer großes Problem, das mich bis auf den Grund der Seele verletzt hatte. Aufgewachsen in einem sehr religiösen, aber offenen Elternhaus, nahm ich eines Tages ein Buch in die Hand und habe es gelesen, obwohl mir so etwas wie eine innere Stimme sagte, das Buch nicht zu lesen. Es war die Kritik Kants an den Gottesbeweisen. Für mich war es ein furchtbarer Schlag. Ich war 13 oder 14 Jahre alt und konnte den Argumenten Kants nichts entgegensetzen und keine Antwort finden. Ich war innerlich hin und her gerissen von dem Gedanken, dass ich glaube und den Eindruck habe, dass dieses wahr ist, was ich glaube, dass es aber Personen gibt, die intellektuell mehr ‘drauf haben wie ich, und nicht glauben. Wie kann ich die Gegenargumente dieser Personen, die gelehrter, weiser und gebildeter sind wie ich, widerlegen?
Diese innere Zerrissenheit und Qual hat mich viele Jahre begleitet, ganz heftig bis ins zweite oder dritte Priesterjahr. Diese Situation war wie eine Triebkraft, die mich immer neu suchen ließ, um zu verstehen, zu erfassen und zu argumentieren.
Gleichzeitig wurde ich durch eine andere Quelle gerettet. Im Hause meiner Eltern machte ich wichtige gute Bekanntschaften, z.B. mit Reinhold Schneider, jenem Dichter, der in dieser ganzen Zeit ein überragender Vertreter des Glaubens war. Die Tatsache, dass mein Vater Künstler war und Reinhold Schneider auch, weckte in mir die Überzeugung, dass es Qualitäten gibt, die über den Argumenten stehen. In diesen Personen habe ich authentische echte Erfahrungen berührt, die von Argumenten allein nicht zerstört werden können. Das hat mich gerettet. Für mich war es einfach klar, dass die Theologie es damit zu tun hat, tiefste, authentische und echte Erfahrungen aufzuarbeiten. Theologie war nicht einfach eine theoretische Sache, in der man immer um etwas ringen musste, sondern ein Verwurzeltsein in Erfahrungen, die so authentisch sind, dass sie mit Argumenten nicht zunichte gemacht werden können.“
(Seiten 80 - 81)
„Zum ersten Mal habe ich da Gott wirklich erfahren. ... Es war eine Nähe und Gegenwart Gottes, wie ich sie trotz meiner intensiven theologischen Studien nie zuvor erlebt und ermessen hatte. ... Gott war einfach da. Er durchdrang unsere wechselseitigen Beziehungen. Unwiderstehlich wurde ich hineingerissen in dieses neue Leben. Ich erinnere mich, dass ich eines Nachts nicht schlafen konnte unter dem Eindruck dieser unmittelbaren Nähe Gottes. Ich dachte mir, auch die Jünger könnten Gott in der Begegnung mit Jesus nicht stärker erfahren haben. ... Bisher hatte ich mir Gott meist vorgestellt als die Spitze des Weltbaus, als Fluchtpunkt aller Linien, als jenen Begriff, der selber gar nicht mehr als Begriff fassbar ist, weil wir stumm werden vor diesem Geheimnis. Hier aber, in Fiera, war dieses Geheimnis gewahrt, und doch war da mehr als bloß ein Geheimnis. Gott, der Vater ist, war erfahrbare Wirklichkeit. Wahrscheinlich hatte ich bis dahin noch nie in meinem Leben das Vaterunser so gebetet, die Anrede „Abba, Vater“ so verstanden wie jetzt. Mit einem Mal erschien mir die Welt als der unendliche, aber bergende Raum, in dem Gott uns Vater ist und wir uns ihm anvertrauen, alles in seine Hände geben, ihm bedingungslos folgen dürfen. Mir war klar, das ist eine Schwindel erregende Herausforderung, aber mehr noch eine faszinierende Entdeckung.“ (7)
(Seite 49)
Der ganz und gar neue Gott
Als Theologe könnte man fragen: „Ist das wirklich der Höhepunkt des Leidens Jesu?“ Mit dieser Frage habe ich mich oft auseinander gesetzt und bin zu dem Schluss gekommen, sie leidenschaftlich mit Ja zu beantworten. Ich will den Grund nur andeuten. Dass Gott in Jesus dorthin geht, wo Gott gerade nicht mehr ist, dass Gott sich in Jesus die Abwesenheit Gottes bei den Menschen zu eigen macht, dass seine Liebe bis dahin geht, dass er, um mit Paulus zu sprechen, für uns zur „Sünde“ und zum „Fluch“ wird (Gal 3,12; 2 Kor 5,21) – dies ist die Neuigkeit schlechthin der Gotteserfahrung Chiaras. Es ist tatsächlich keine größere Verrücktheit der Liebe denkbar, als die Ferne von Gott zu teilen und mit zu leben aus Liebe zu denen, die ihm fern sind – und wenn es aus eigener Schuld wäre. Das geht weit hinaus über eine Theologie, die nur von Wahrheiten und Geboten handelt. Davon will ich nichts wegnehmen. Aber hier ist etwas anderes: Es ist der ganz und gar neue Gott. Deshalb gibt es für Chiara und die Ihren nach dieser Entdeckung nichts Wichtigeres, als das beständige Suchen dieses schmerzerfüllten Antlitzes.
In jedem Schmerz in uns und außer uns, jeder Gottesdunkelheit in uns und außer uns, jedem Nichtverstehen Gottes, jedem Fremdsein diesem Gott gegenüber begegnen wir deshalb dem, der uns in seiner Verlassenheit ganz und gar angenommen hat. Wenn wir uns darauf mit unserem ganzen Leben einlassen, dann haben wir die größtmöglichste und abgründigste Gotteserfahrung überhaupt. Sie ist nicht steigerbar. Das ist keine Gedankenkonstruktion. Das erfahre ich nur, wenn ich mich andauernd in diese Realität hineinziehen lasse. So entdecke ich den „Deus semper maior“, den Gott, der immer größer ist. Nur wenn ich Jesus in seiner Gottverlassenheit erfahre und erkenne, kann ich mich auch radikal an diesen Gott ausliefern und seine Zuneigung zu den Menschen und zur Welt teilen. Wenn ich in diesen Abgrund der Gottverlassenheit hinein das „Abba, Vater“ nachspreche, habe ich das Letzte erreicht. Wenn ich in diese Abwesenheit Gottes hinein gehe, sie aushalte ohne jede Absicherung, mich Gott restlos ausliefere, dann ist die Herrschaft Gottes da. An diesem Punkt haben wir, glaube ich, all die Realitäten eingeholt, die uns als Seligkeit, Wunder, Geschenk begegnet sind. Zugleich werden wir zu jenen, die in den Abgrund Gottes und der Menschheit hinein gegeben sind, die mit Jesus zu jedem Menschen sagen können: „Ich stehe zu dir und trage deine Last.“
Ich sehe in dieser Entdeckung Chiara Lubichs ein Geschenk nicht nur für alle, die als Christen leben wollen, sondern auch für die Theologie. Meines Wissens hat nirgendwo die Einheit aller Glaubenden, die in den johanneischen Abschiedsreden zum Ausdruck kommt, und gleichsam die Zusammenfassung all dessen ist, was Gott von uns will, eine solche Tiefe und Radikalität erreicht wie bei ihr. Aber diese Einheit enthält in sich sowohl das Leben der Dreifaltigkeit als auch die Gottverlassenheit Jesu. Damit ist ein Horizont aufgerissen, den wir auch in der Theologie so nicht gekannt haben, obwohl selbstverständlich auch früher schon Theologen über den einen oder anderen Aspekt dieses Zusammenhangs nachgedacht haben.
Das ist das Interessanteste: Chiara Lubich hat uns in eine Schule des Lebens genommen, aber diese Lebensschule ist zugleich eine Schule für die Theologie. Das Ergebnis ist nicht eine Verbesserung der Theologie, sondern gelebte Theologie aus dem Ursprung der Offenbarung.
(Aus: Interview für DAS PRISMA, 1/1994)
Das Urgeheimnis jeder Weggemeinschaft ist für Hemmerle die Weggemeinschaft Gottes selbst, des Vaters und des Sohnes im Hl. Geist. In seinen erst posthum veröffentlichten Exerzitienvorträgen von St. Georgen bei Klagenfurt „Leben aus der Einheit“, herausgegeben von seinem letzten Sekretär Peter Blättler, spricht Hemmerle von diesem Ur-Ja, das alle Weggemeinschaft begründet und ermöglicht. Aus seinen Worten kommt uns eine tiefe Begeisterung für diesen Gott, der durch sich selbst alles neu macht, entgegen: „Sein Leben ist von Anfang an Antwort, ist von Anfang an ,Ja‘. In ihm fallen Ursprung-Sein und Antwort-Sein absolut zusammen. Er ist gefragt worden, ob er Mensch werden will. Und er hat gesagt: ,Ja, ich komme, um deinen Willen zu tun.‘ (Hebr 10,9) So sind wir von Anfang an hineingenommen in diese Wirklichkeit der Beziehung zwischen Vater und Sohn. Dieses Ja zwischen Vater und Sohn ist der Raum, in dem auch wir bejaht, gemeint, ermöglicht, geschaffen und erlöst sind. Das Ja zwischen Vater und Sohn gründet und umschließt in Freiheit mich und alle und alles.
Hier begegnet uns ein anderer Gott. Ein anderer Gott als jener, der einsam an der Spitze steht und bloß Befehle oder Gunsterweise austeilt. Ein anderer Gott als jener, der jenseits der Kreuzlinie aller Erfahrungen liegt, der nirgendwo faßbar ist und von dem wir nichts Genaues wissen. Ein anderer Gott als jener, der letztlich nur als eine erklärende und rechtfertigende Formel dient für alles, was geschieht. Ein anderer Gott freilich auch als jener, der als der je Größere geachtet wird, aber in seine Unsäglichkeit eingeschlossen bleibt.
Welch ein anderer Gott! Ein Gott, der mich ganz umfängt. Mein ,Ich glaube an die Liebe‘ und mein ,Da bin ich! Ich bin bereit! Er liebt mich!‘ sind eingebettet und eingelassen, ermöglicht und begründet in dem lebendigen Verhältnis von Vater und Sohn. Dieser lässt solches ewige Geheimnis aufstrahlen in seinem Menschsein, in seinem Beten zum Vater und Ringen mit dem Vater.
Wenn wir diese neue Weise des Lebens und Denkens lernen, wird alles anders und neu. Aber oft ist dieses neue Leben, das eigentlich schon seit der Taufe in uns ist, verschüttet. Kennen wir diesen Gott, der Vater und Sohn ist, von innen her? Ist er wirklich unser Lebensraum? Mit der Taufe ist Gott der Raum, in den wir hineingetaucht werden: Ich taufe dich, ich tauche dich hinein in den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist. Die Taufe macht jeder und jedem deutlich: Du wirst hineingelassen in das, was der Grund deines Lebens ist, in den göttlichen Raum von Beziehung, der immer schon da ist und der sich dir öffnet und dir zu eigen wird in Jesus Christus. Das ist der eigentliche Inhalt der Taufe.
Lassen wir uns auf dieses Leben ein, dann wird uns aufgehen, dass da noch ein anderer ist als der Vater und der Sohn. Wir tauchen in eine Lebensatmosphäre ein, die nicht von uns hergestellt werden oder nachträglich sich bilden kann. Wir tauchen ein in den Heiligen Geist und verstehen plötzlich die Schrift: ,Und keiner kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet‘ (1 Kor 12,3). Und niemand kann zu Gott ,Vater‘ sagen außer in dem Geist, der in uns ruft: ,Abba, Vater!‘ (Röm 8,15)“ (8)
Eine solche Weggemeinschaft verwandelt menschliche Beziehung von Grund auf und hat eine besondere Chance in einer gottleeren Zeit, die auch die Kirche selbst nicht verschont.
(Seiten 165 – 166)
(…)
Wie er solche Worte lebte und im Leben durchbuchstabierte, also Schritt um Schritt einübte und vertiefte, bis sie seinem Denken, Arbeiten und Sein diese dem Wort entsprechende Form gaben, kann einem uns handschriftlich überlieferten Vortragsentwurf von 1966 entnommen werden, der im Freiburger Raum noch heute im Umlauf ist. Er legte das Wort des Lebens für den damaligen Monat aus: „Du sollst den Herrn deinen Gott aus ganzem Herzen lieben“. Am Schluss seiner Ausführungen gibt er ganz konkrete Hinweise, die helfen sollen, das Wort zu leben:
Praktisch heißt das in etwa:
1. an Seine Liebe glauben
2. sie uns zu Herzen gehen lassen und das Herz freimachen für die Liebe
a) Woran hängt mein Herz? Frei wird es nur, wenn es in jedem Augenblick sich vom Letzten losreißt und neu sich aufmacht.
b) Warum zittert und bebt mein Herz vor Gott? Warum traut es sich nicht, bleibt scheu zurück? Den leisen Ruck geben, damit ich „drin“ bin im Stromkreis der Liebe und der Strom durch mich durchkommen kann.
3. mit dem „ganzen“ Herzen lieben:
a) wenn ich mein „Herz“, meine warme Zuwendung an Gott nicht spüre;
b) wenn ich im Gebet trocken bin und verlassen, dann ist dies mein ganzes Herz, schenk ich Ihm „froh“ gerade das;
c) mein Herz ist nur ganz im Weggang von sich in der Einheit ... (9)
Für Klaus Hemmerle war es Gott selbst, Gott in Jesus Christus, der alle verbindet, der in seinem Wort unmittelbar mit den Menschen Gemeinschaft sucht. Dass Gott immer neu spricht, und zwar im Jetzt, im gegenwärtigen Augenblick, darin lag für Klaus Hemmerle der Dreh- und Angelpunkt allen Handelns. Das brachte er 1991 in einem Interview mit der Schülerzeitschrift „Weite Welt“ zum Ausdruck, wo er von seinem Einstieg ins Bischofsamt berichtete. Die 12-jährige Friederike fragte ihn, wie lange er schon Bischof sei und wie er zu diesem Beruf gekommen sei:
„Jetzt bin ich seit 16 Jahren Bischof. Ich staune selber darüber, wie lange das schon ist. Denn manchmal habe ich das Gefühl, ich sei immer noch ein ungelernter neuer Bischof. So wie ein Azubi (Auszubildender), der noch am Anfang seines Berufes steht. Auf die Idee, Bischof zu werden, bin ich nie gekommen. Ich wollte eigentlich nur Priester werden. Dass ich dann später Bischof wurde, konnte ich natürlich nicht voraussehen. Dazu wird man ja auch berufen. Als ich Bischof wurde, sagte mir ein Freund: ,Armer Klaus! Jetzt musst du Bischof sein. Da musst du sehr viel Verantwortung übernehmen und oft 12-16 Stunden am Tag arbeiten.‘ Daraufhin sagte ein anderer Freund, der dabeistand: ,Warum eigentlich arm? Man kann auch als Bischof ein starkes Vertrauen in Gott haben, so wie ein Kind seinem Vater vertraut. Und man braucht eigentlich immer nur den gegenwärtigen Augenblick zu leben.‘ Und das bedeutet für mich: in jedem Moment ganz da zu sein für den, der mir gerade begegnet. So, wie ich jetzt ganz für euch da sein möchte. Dieser ,gegenwärtige Augenblick‘ hilft mir sehr in meinem Leben als Bischof.“ (10)
(Seiten 110 - 111)
Franz Rosenzweig hat durch seine Schriften, besonders durch den „Stern der Erlösung“, den er im Ersten Weltkrieg in Frankreich im Schützengraben als Soldat niederschrieb, Hemmerle wichtige Einsichten geschenkt. Gern nannte Hemmerle, wenn es darum ging, jemandem den Weg zum Glauben zu erschließen, den Namen Rosenzweig und verwies auf dessen messianische Erkenntnistheorie: „Ich kann nur mit dem Blut erkennen, wenn es um das Letzte geht; ich vermag nur mit den Gebeinen zu glauben, wo es um das Letzte geht.“ (11)
Über seine eigene, bis in die tiefste theologische Existenz hineinreichende Begegnung mit dem Denken von Franz Rosenzweig berichtete Hemmerle bei einem Symposium des Gesprächskreises „Juden und Christen“, das unter dem Thema „Judentum und Christentum nach Franz Rosenzweig“, im Congres-Centrum Rolduc/Niederlande stattfand:
„Ich kann nur mit dem Blut erkennen, wo es um das Letzte geht; ich vermag nur mit den Gebeinen zu glauben, wo es um das Letzte geht. Diese Einsicht hat mich so tief berührt, dass ich im Grunde von ihr her den Weg ins Glauben und auch ins christliche Glauben für den Menschen meine erschließen zu können, wenn ich mich in die Aporie der Gedanken hinein zu verflüchtigen drohe. Merkwürdigerweise ist das, was Rosenzweig auf den Weg des Judentums führt, etwas, was mich als Christ auch Eucharistie verstehen lässt: Jesu Liebe zu mir ist die Liebe mit dem Herzen, mit dem Blut und mit den Gebeinen. Deswegen kann ich zuletzt nur glauben mit den Gebeinen. Rosenzweig hat mich so auch bei der Begegnung mit dem Evangelium befreit von einem bloß metaphysischen Verstauen in fertige Begriffe. Auch bis in jenes dem Juden wohl fremde Mysterium von Trinität hinein habe ich aus dem, was ich bei ihm an lebendiger Beziehentlichkeit, an Zeitlichkeit und an der Nicht-Substituierbarkeit von Zeit und Beziehung zum anderen entdeckt habe, tiefer mein Eigenes verstehen können. So verdanke ich ein Stück des Verstehen-Könnens und Verantworten-Könnens meines Christentums Rosenzweig.“ (12)
(Seite 154 – 155)
(…)
Als es anstand, des tragischen furchtbaren Datums der Reichspo-gromnacht 1938 zu gedenken und sich der Schändung so vieler Synagogen und erst recht so vieler jüdischer Mitbürger in Deutschland durch Deutsche zu erinnern, war es für Klaus Hemmerle selbstverständlich, im Aachener Rathaus am 9. November 1988 dabei zu sein. Er wagte es, in diesem öffentlichen und politischen Rahmen ein Gebet zu sprechen, in dem er die Synagoge als das „Haus meines Gottes“ bezeichnete, die Juden als jene vorstellte, die ihm den Namen Gottes schenkten, und von den Tätern, den Verantwortlichen dieser Verbrechen, so sprach, dass er selbst sich zu ihnen rechnete: „und die Meinen haben es getan“:
Man hat meinem Gott das Haus angezündet
- und die Meinen haben es getan.
Man hat es denen weggenommen,
die mir den Namen meines Gottes schenkten
- und die Meinen haben es getan.
Man hat ihnen ihr eigenes Haus weggenommen
- und die Meinen haben es getan.
Man hat ihnen ihr Hab und Gut, ihre Ehre,
ihren Namen weggenommen
- und die Meinen haben es getan.
Man hat ihnen das Leben weggenommen
- und die Meinen haben es getan.
Die den Namen desselben Gottes anrufen,
haben dazu geschwiegen
- ja, die Meinen haben es getan.
Man sagt: Vergessen wir’s und Schluss damit.
Das Vergessene kommt unversehens, unerkannt zurück.
Wie soll Schluss sein mit dem, was man vergisst?
Soll ich sagen: Die Meinen waren es, nicht ich?
- Nein, die Meinen haben so getan.
Was soll ich sagen?
Gott sei mir gnädig!
Was soll ich sagen?
Bewahre in mir Deinen Namen, bewahre in mir ihren Namen,
bewahre in mir ihr Gedenken, bewahre in mir meine Scham:
Gott sei mir gnädig. (13)
(Seiten 158 – 159)
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(1) Wort und Wahrheit. Martin Heidegger. 1948, in: Bernhard Welte und Martin Heidegger. Zur Stellung Bernhard Weltes im christl. Denken des 20. Jahrhunderts. Bernhard Casper, in: Fragend und Lehrend den Glauben weit machen. Zum Werk Bernhard Weltes anlässlich seines 80. Geburtstags. Klaus Hemmerle (Hrsg). Freiburg (Kath. Akademie) 1987, S. 13-14
(2) non solum a parte objecti sed a parte intellectus = nicht nur von Seiten des Objekts, sondern auch von Seiten des denkenden Subjekts
(3) „Bernhard Welte und Martin Heidegger“. Zur Stellung Bernhard Weltes im christlichen Denken des 20. Jahrhunderts. ..., S. 22
(4) Klaus Hemmerle erzählt von seiner Berufung auf der Mariapoli (Sommertreffen der Fokolar-Bewegung) in Oudenbosch/Holland. 1969 (unveröff.)
(5) Ebd.
(6) Klaus Hemmerle 1988 vor einem internationalen Kreis von Theologiestudenten auf einem Kongress der Fokolar-Bewegung in Castelgandolfo (unveröff.)
(7) „Die Gotteserfahrung von Chiara Lubich“, in: Das Prisma 1/1994, S. 17-19
(8) Leben aus der Einheit. Eine theologische Herausforderung. Peter Blättler (Hg.). Freiburg (Herder), S. 36-37
(9) Nur handschriftlich überliefert und unvollständig.
(10) „Haben Sie auch mal Ferien, Herr Bischof“, in: Weite Welt, 12/1991, S. 30
(11) Judentum und Christentum nach Franz Rosenzweig. Ein Gespräch zwischen Emmanuel Levinas, Klaus Hemmerle, Hans Hermann Henrix, Bernhard Casper, Heinz-Jürgen Görtz und Herman J. Heering, in: Zeitgewinn. Messianisches Denken nach Franz Rosenzweig. G. Fuchs, H.H.Henrix (Hg.), Frankfurt, 163-183; jetzt in: AS Band.5, S. 169
(12) Judentum und Christentum nach Franz Rosenzweig, S. 169
(13) Ansprache von Klaus Hemmerle im Aachener Rathaus am 9.11.1888; jetzt in: Ausgewählte Schriften, Bd. 5, S. 169
Vortrag im Zentrum Frieden in Solingen, April 2009