Trinität – Die Suche nach dem Ursprung bei Klaus Hemmerle
Vielleicht geht es Ihnen wie mir, dass ich unwillkürlich in mir die Sehnsucht trage, ursprünglich zu leben und nicht von den vielfältigen Bildern und Impulsen um mich herum einfach bestimmt oder sogar verfälscht zu werden.
Das vom Bistum Münster neu erbaute Exerzitienhaus Gertrudenstift beeindruckt viele Besucher allein durch die Tatsache, dass es nüchtern ist, mit einem Minimum an Bildern auskommt und den Menschen einlädt, seine eigenen Bilder, seine eigenen Wünsche und Sehnsüchte wahrzunehmen und zu verstehen. Das Chaos, das viele Menschen in ihrem Alltag hindert, zu sich selbst zu kommen, möchte in diesem Haus aufgebrochen werden und dem Besucher die Freiheit ermöglichen, sich neu zu fragen: Woher komme ich? Wer bin ich? Was macht mich aus? Was macht mich glücklich?
Die Frage nach der persönlichen Identität begleitet viele Menschen. Der ausschließliche Umgang mit dem Ich und dem Privaten scheint der letzte Rückzugsort inmitten zahlreicher Verunsicherungen unserer Zeit zu sein. Mein sozialer Ursprung, meine Familie, meine Kultur, meine Kirche, mein Beruf geben eine vorläufige Antwort auf die Frage nach mir selber. In den Fragen: Wer bin ich und woher komme ich, finde ich mich nicht nur als Individuum, sondern auch in meiner Bezogenheit in Kirche und Gesellschaft. Genau an dieser Stelle setzt das Denken von Klaus Hemmerle an. Er versteht – radikal gefasst – den dreifaltigen Gott als den ursprünglichen und bleibenden Ort jedes Menschen und jeder menschlichen Beziehung.
Durch die Geschichte Israels und auch durch die über die Erde verstreuten ‚Samenkörner’ des Wortes in den anderen Religionen hat sich Gott immer mehr den Menschen genähert. Mit der Menschwerdung Jesu hat sich etwas grundsätzlich Neues ereignet: Gott ist selbst einer von uns Menschen geworden.
Es ist anders als im Alten Bund. Dort hat Gott die Geschichte gelenkt und gewandelt, indem er von oben seine Hand ausstreckt, um den Menschen zu tragen und zu führen. Im Neuen Bund ist Gott selber dort, wo wir unsere Antwort zu geben haben. Das Schicksal Jesu ist Gottes Solidarität mit uns und seine Nähe zu uns, mitten im Raum unserer Erfahrung, genau an der Stelle unserer Ohnmacht.
Folglich hat sich die Position Gottes in der Religion verwandelt: Nicht Gott über uns, der uns in unser eigenes Nichts hinein drückt oder uns in sein eigenes Alles aufsaugt, sondern Gott über uns, der dem Gott antwortet und begegnet, der unter uns ist, der uns trägt, auffängt, annimmt: wir zwischen Gott und Gott.
Was den Gott über uns und den Gott unter uns eint, ist die unbedingte Liebe, ist die Kommunikation, ist der Heilige Geist. In diesem Geist ist Gott Wort und Ant-Wort zugleich.
In allem, was Jesus tut und sagt, lassen die Evangelien etwas Wesentliches durchscheinen: die wechselseitige Nähe und Liebe von Sohn und Vater, erkennbar auch daran, dass der Vater ständig bei seinem Sohn ist und durch ihn spricht und handelt. Gerade im Johannes-Evangelium weiß sich Klaus Hemmerle angesprochen durch das gegenseitige Innesein von Vater und Sohn.
Was geschieht, wenn ich die Beziehung von Vater und Sohn als einen ‚Raum’ wahrnehme, den beide offen halten? Wenn ich mich von seinen einladenden Worten, diesen Ort zu betreten, treffen lasse? Dann finde ich mich in einem Raum unendlicher Liebe, die mich persönlich meint und meinem Person-Sein eine neue Qualität gibt. Es kann zu einer völlig neuen Gotteserfahrung werden, die auch die Beziehung der Menschen untereinander prägt. Wie Klaus Hemmerle es erlebt, klingt in folgenden Aussagen nach:
Das gegenseitige Innesein als Lebensbewegung Gottes (1)
Erst wenn wir so leben, dass ‚du’ mein Leben in mir bist und ‚ich’ dein Leben in dir bin, erst wenn Trinität sich zwischen uns ereignet, ist der Sinn der Sendung Jesu erfüllt und ist das Leben Gottes Leben der Welt geworden.
Unser Einssein miteinander ist der entscheidende Punkt, an dem für die Welt ‚Trinität’ sichtbar wird. Eine Trinität, die nur über uns schwebt, kann kaum mehr als lebensrelevant verstanden werden. Sie öffnet sich uns erst dann wieder, wenn wir bereit sind, zwischen uns Trinität zu leben. (…) Johannes spricht immer wieder (…) von einem gegenseitigen ‚Innesein’ der Personen:
du in mir – ich in dir;
ich im Vater – der Vater in mir;
ihr in mir – ich in euch;
einer im andern – der andere im Einen.
Dieses vielgestaltige gegenseitige Innesein wird mit einem klassischen Ausdruck der Theologie ‚Perichorese’ genannt. Perichorese ist ursprünglich der Name für einen Tanz: Einer umtanzt den andern, der andere umtanzt den einen, und so fließt alles ineinander.
Und in der Tat, so geht Leben in der Dynamik jener Liebe, die Jesus lehrt und schenkt:
Der andere wird die Achse meines Lebens,
ich bin die Achse seines Lebens.
Gott ist die Achse meines Lebens,
ich bin die Achse seines Lebens.
Alles entfaltet sich in diesem ‚axialen Umspielen’.
Wir können mit der großen griechischen Theologie der ersten Jahrhunderte sagen, dass die Perichorese der göttlichen Personen sich offenbart und mitteilt in der Perichorese von Göttlichem und Menschlichem in Jesus Christus.
Und wir müssen ergänzen, dass diese Wirklichkeit sich eben in unserer gegenseitigen Perichorese ereignet. Bis wir diese sich gegenseitig ‚umtanzende’, sich gegenseitig – in jeder Gabe und jedem Auftrag des andern – umspielende und Ernst nehmende Liebe als Kirche entfaltet haben, muss noch eine große ‚Tanzschule’ absolviert werden. Aber von ihr gibt es keine Dispens. (…)
Dieses gegenseitige Sein im andern ist die Lebensbewegung Gottes. Ich bin, dass du bist – und gerade dies ist mein Sein. Und so dürfen wir in einem gewissen, analogen Sinne sagen: Trinitarisch leben heißt für uns, dass der eine Geist in uns aufgeht und zum Leuchten kommt – und gerade er wird uns in unserer Einheit und Unterschiedenheit zum Leuchten bringen. (…)
Damit aber scheint die Liebe – das gegenseitige Einssein als das innerste Geheimnis des dreifaltigen Gottes auf. Aber es bleibt nicht allein bei dieser neuen Sicht und bei diesem neuen Sein Gottes, sondern darin sind auch unser eigenes Sein und das Sein überhaupt verwandelt. Unser persönliches Sein ist hinein genommen in die Lebens- und Liebesgemeinschaft von Vater, Sohn und Geist; damit aber kann aber gar nicht mehr ich selbst und ich allein den einzigen Ausgangs-, Mittel- und Zielpunkt meines Seins darstellen, ich kann das trinitarische Sein nur leben im Miteinander, im Wir, das jedoch das Ich und Du nicht auslöscht, sondern konstituiert. (…)
Das Seinsverständnis selbst wird neu, wenn das Sein neu wird. Sein ist Liebe, ist Beziehung. Dann aber ist Sein Sich-Schenken und – recht verstanden – Sich-Verlieren im je anderen, um so freilich gerade aufzugehen und zu ‚sein’: unlösbar einer und doppelter Ausdruck des Ereignisses ‚Gott’, des Ereignisses ‚Sein’, des Ereignisses ‚Mensch’.
Ich muss mich nicht als Monade verstehen, wie es Leibniz einmal gedacht hat, also als eine in sich selbst verschlossene Person. Ich darf mich wissen als eine Person, die in die Liebe von Vater und Sohn hinein genommen ist. Wenn Descartes auf der Suche nach einer Formel für das Mensch-Sein einmal formulierte ‚cogito, ergo sum’ – ich denke, also bin ich, darf ich mit Klaus Hemmerle weiterführend sagen ‚amor, ergo sum’ – ich bin geliebt, also bin ich.
Weil ich geliebt bin, bin ich. Weil ich hinein genommen werde in den Raum des dreifaltigen Gottes, kann mich das Gott-Sein Gottes bis ins Innerste berühren: Alle Erfahrungen, die ich mache, alle Abgründe, in die ich versinke, alles Dunkel, das ich erleide und alle Schuld, die ich auf mich lade, werden umfangen von der Liebe Gottes, der sich mir ganz zuspricht, auch wenn ich selbst kein Wort mehr habe.
Es gilt festzuhalten: In diesem Geliebt-Werden von Vater, Sohn und Geist bin ich nicht allein für mich, sondern verbunden mit allen Menschen. Mein Sein ist nicht nur mein Sein. In meinem Sein ist mir die Beziehung zu allen Menschen von vorneherein als Möglichkeit und Potenz mitgegeben. Mein Sein wird offen zum Du und Er oder Sie, zum Ihr und zum Wir. Was zwischen dem Vater und dem Sohn geschieht, das soll die Realität zwischen uns werden, das ist das Lebensmaß unseres Miteinanders.
Daraus ergibt sich bei Klaus Hemmerle eine weitere Steigerung des Ansatzes von Descartes: ‚Amo, ergo sum’ – ich liebe, also bin ich. Das Sein ist kein statisches Sein, sondern eine gelebte Beziehung, die grundsätzlich offen ist für jeden Menschen.
Abschließend sei noch bemerkt, dass es für Klaus Hemmerle frappierend ist, dass die unterschiedlichen Modelle von Kirche bei Matthäus, Lukas und Paulus auf dieselben elementaren Grundzüge eines trinitarischen Lebens hinaus laufen. Wie Gott selbst Sich-Geben, Sich-Empfangen, Sich-Verschenken ist, können Menschen in der Gemeinde so leben, dass sie wechselseitig sich geben, sich empfangen und sich verschenken. Das Sein wird dynamisch und entfaltet seine Kraft.
Dies verdeutlicht ein weiteres Originalzitat von Klaus Hemmerle:
Leben im Raum des Ja zwischen Vater und Sohn (2)
Ich: Wo bin ich? Wenn ich an diese Liebe Gottes glaube, obwohl ich vieles in meinem Leben nicht verstehe; wenn ich mich auf jenen innersten, oft verborgenen und verschütteten, gestörten Grund besinne, in dem ich sagen kann:
Ich übernehme mich,
ich empfange mich,
ich glaube an den Ruf,
der mich ins Dasein hebt, der mich begleitet und mich nicht mehr verlässt;
wenn ich schließlich mein Leben als ein Gerufensein verstehe,
nicht als ein ‚Ich kann machen, was ich will!’ oder
‚Ich bin dazu verdammt, der zu sein, der ich bin!’,
sondern als ein ‚Ich bin gerufen. Ich bin ins Sein erwählt!’:
dann lebe ich so, wie der Sohn mit dem Vater lebt.
Dann lebe ich die Erfahrung dessen mit, der in der Taufe im Jordan und auf dem Berg Tabor hört: ‚Das ist mein geliebter Sohn’ (Mt 3,17; 17,5) Und wenn ich dann mit ihm ‚Ja’ sage, dann sage ich nicht nur ‚Ja’ zu einer aktuellen Verpflichtung – das gehört dazu -, sondern ich spreche mit Jesus, vertrauend – und nicht resignativ -, aber entschlossen und bereit: ‚Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.’ (Mt 26,39) Er hat dieses Ja mit seinem Leben und Sterben gesprochen und es so mitgebracht in diese Welt. Genau das ist der Ursprung, aus dem Er stammt.
Sein Leben ist von Anfang an Antwort, ist von Anfang an ‚Ja’. In ihm fallen Ursprung-Sein und Antwort-Sein absolut zusammen. Er ist gefragt worden, ob er Mensch werden will. Und er hat gesagt: ‚Ja, ich komme, um deinen Willen zu tun.’ (Hebr 10,9). So sind wir von Anfang an hinein genommen in diese Wirklichkeit der Beziehung zwischen Sohn und Vater. Dieses Ja zwischen Vater und Sohn ist der Raum, in dem auch wir bejaht, gemeint, ermöglicht, geschaffen und erlöst sind. Das Ja zwischen Vater und Sohn gründet und umschließt in Freiheit mich und alle und alles.
Hier begegnet uns ein anderer Gott.
Ein anderer Gott als jener, der einsam an der Spitze steht und bloß Befehle und Gunsterweise austeilt.
Ein anderer Gott als jener, der jenseits der Kreuzlinie aller Erfahrungen liegt, der nirgendwo fassbar ist und von dem wir nichts Genaues wissen.
Ein anderer Gott als jener, der letztlich nur als eine erklärende und rechtfertigende Formel dient für alles, was geschieht.
Ein anderer Gott freilich auch als jener, der als der je Größere geachtet wird, aber in seiner Unsäglichkeit eingeschlossen bleibt.
Welch ein anderer Gott!
Ein Gott, der mich ganz umfängt.
Mein ‚Ich glaube an die Liebe’ und mein ‚Da bin ich! Ich bin bereit! Er liebt mich!’ sind eingebettet und eingelassen, ermöglicht und begründet in dem Verhältnis von Vater und Sohn. Dieser lässt solches ewige Geheimnis aufstrahlen in seinem Menschsein, in seinem Beten zum Vater und Ringen mit dem Vater.
Wenn wir diese neue Weise des Lebens und Denkens lernen, wird alles anders und neu.
Klaus Hemmerle fasst das ‚ich denke’ von Descartes noch weiter. Er setzt beim Königsberger Philosophen Immanuel Kant an. Dieser schreibt in der ‚Kritik der reinen Vernunft’, die Klaus Hemmerle bereits mit 15 Jahren gelesen hat: ‚Das ‚ich denke’ muss alle meine Vorstellungen begleiten können (…) Ich nenne sie die (…) ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewusstsein ist, das, indem es die Vorstellung ‚ich denke’ hervorbringt, (…) von keiner weiter begleitet werden kann.’
Diesen Satz interpretiert Klaus Hemmerle folgendermaßen: ‚ Kant sagt also, alle Vorstellung muss begleitet werden können vom ‚ich denke’. Das, was mir widerfährt, kann nur in mich eindringen, kann nur in mir Folgen haben, kann nur Gestalt und Gedanke werden und kann nur Erkenntnis werden, wenn ich es mit der Vorstellung ‚ich denke’ begleiten kann. (…) Aber ist das ‚ich denke’ alles? Ist es wirklich nur das ‚ich denke’, das alles begleiten können muss?’ Klaus Hemmerle stellt sich die Frage: Was geschieht mit mir, wenn ich, ausgehend von der Frage nach der Einheit, Rechenschaft gebe über mein ‚ich denke’? Ihm geht auf, dass sein ‚ich denke’ von vier Koordinaten bestimmt ist.
1. Denken ist Andenken: Wenn wir denken, denken wir mit, dass wir uns selbst zugesprochen sind: ‚ Ich bin nicht irgendein Ich, das nur vom Nullpunkt ausgeht, sondern ich bin mir gegeben, ich bin mir zugedacht, und ich bin gerufen. Als Christ kann ich sagen: Ich bin geliebt. Ich bin, wenn ich denke, und ich denke, wenn ich andenke, an das, an den, der mich ins Sein ruft. Mein ‚ich denke’ ist begleitet von diesem Ja zu mir, an das ich andenke.’
2. Denken ist Gedenken: Wenn ich denke, denke ich immer gleichzeitig auch an meine Verantwortung: ‚ Indem ich das Wort annehme, in dem ich mir zugeworfen und zugerufen bin, ist mein Denken nicht nur eine formale Sache, sondern Verantwortung vor dem, der mich mir zugerufen hat; ich glaube an die Liebe, die mich mir gegeben hat. Mein ‚ich denke’ ist begleitet vom Gedenken der Verantwortung dem Willen Gottes gegenüber.’
3. Denken ist Zudenken: Wenn ich denke, dann habe ich notwendigerweise den andern mit im Blick: ‚ Mein Denken und mein Sprechen hat etwas zu tun mit dem anderen, wie der andere ist, wie das Du ist, dem ich zudenke. (…) Indem ich denke, denke ich dem anderen, der ist wie ich, das Ja zu, das mein ‚ich denke’ als Andenken und Gedenken begleitet.
4. Denken ist Mitdenken: Wenn ich denke, habe ich darüber hinaus die Gemeinschaft und das Wir im Blick: ‚ Ich denke nicht nur dem andern zu und den anderen zu, sondern im Denken ist etwas wie ein Einverständnis. Im Denken ist etwas wie ein Wort, das uns verbindet und uns je gemeinsam ist. (…) Da ist wirklich dasselbe Licht in dir und in mir. Da ist wirklich etwas da, das auf die eine und selbe Mitte dieses Wir zugeht. Das ist dieses Einssein, dieses Das-eine-Wort-Haben, auf dass es in unserer Mitte lebe.’
Klaus Hemmerle zieht aus diesem Denkmodell praktische Konsequenzen:
Die vier christlichen Sätze der Einheit als Lebensstil (3)
(…) Andenken, Gedenken, Zudenken und Mitdenken. Ich komme zurück auf die Bitte, die ich zu Beginn formuliert habe: Nur wenn wir uns einander im eigenen Denken und im eigenen Leben aussetzen, wird ein Weg möglich zu einem anderen Umgangs- und Lebensstil. Ich möchte dieser Bitte nun vier christliche Sätze hinzufügen, die von Jesus Christus her etwas fundamental Humanes aussagen:
Einheit als Lebensstil heißt nichts anderes, als diese vier christlichen Sätze so zu inhalieren, so hinein zu nehmen ins Eigene, dass unser ‚ich denke’ von ihnen begleitet wird. Wenn unser Denken und Leben sich so erweitert, dann haben wir eine Grundlage, wie Kirche heute und wie Menschsein heute in der einen Welt gehen. Vielleicht stehen wir wirklich am Anfang, so dass uns die Botschaft vom dreifaltigen Gott etwas ganz Neues zu sagen hat. Vielleicht stimmen wir uns (…) ein auf einen trinitarischen Lebensstil, auf ein Leben im Raum der Dreifaltigkeit, damit in unserer Welt so etwas beginnt wie Leben aus der Einheit.
Dieses gerade beschriebene Leben der Einheit ist jedoch gefährdet, bedroht, der Angst ausgesetzt. Viele Menschen entbehren die Weite des „Ich denke“ im Sinne von Hemmerle. Für sie ist Gott weit weg, für sie ist die Zukunft ein dunkles Loch. Die modernen Erkenntnisse der Astronomie zeigen an, dass unser Sonnensystem und auch das Milchstraßensystem und überhaupt das gesamte ‚einseh-bare’ Universum, endlich sind. Obwohl sie sich nach dem Urknall weiter ausdehnen, ist das Ende berechenbar. Die gesamte Materie und Wirklichkeit wird verschluckt von einem schwarzen Loch, aus dem eventuell neue Welten entstehen.
Wie soll sich da ein Mensch noch vorstellen können, dass er als Einzelner, als Individuum, als Person oder eben auch als Gemeinschaft oder Familie eine echte personale Zukunft haben kann? Es wird am Ende doch alles verschluckt. Wenn unsere Zukunft ‚weg’ ist, können wir dann noch unsere Toten, anders als unsere Voreltern es getan haben, einfach der Erde anvertrauen, in der Hoffnung, dass Gott sie herausholen und auferwecken wird? Kann man es den Menschen verdenken, dass sie anonym bestattet werden wollen oder das Ausgestreut-Werden auf hoher See bevorzugen?
Ein weiteres Problem, das in unseren Tagen immer greifbarer wird, ist die Komplexität der globalisierten Welt. Ich kann in großer Sparsamkeit und in einem alternativen Lebensstil für meine eigene Zukunft im Alter Rücklagen bilden und Geld anlegen – und muss dann erfahren, dass wegen einer Finanzkrise in einem fernen Land, meine Bank ins Trudeln gerät und zahlungsunfähig wird. Meine Ersparnisse verschwinden in einem schwarzen Loch.
Wir haben gebundene Hände. Wir meinen, nichts ausrichten zu können. Wir erleben sehenden Auges, dass die Welt irgendwo hinläuft, wohin wir nicht wollen. Alles läuft nach einem von uns nicht kontrollierbaren Programm ab, erscheint vorprogrammiert. Ich kann verstehen, dass Menschen an der Zukunft verzweifeln. Ich kann verstehen, dass Jugendliche das Wort von der absoluten Zukunft, die Gott ist, nicht aufnehmen können, ja, dass es sie einfach nicht erreicht. Viele Menschen erleben die Freiheit, die ihnen das Grundgesetz zuspricht und die sie von der Gesellschaft einfordern, als Schein-Freiheit. Jeder Mensch stößt in seinem Leben immer wieder an Grenzen, die mit seiner Herkunft, seiner Erziehung, seiner Religion und seiner Bildung zusammen hängen. Die Begrenzungen durch die Lebensgeschichte können so stark sein, dass der Mensch daran verzweifeln kann und es ihm nicht gelingt, seinem eigenen Leben eine persönlich verantwortete Gestalt zu geben. Dies gilt gerade auch für Menschen, welche die Religion unter dem Vorzeichen des Fundamentalismus erlebt haben. Der Druck der scheinbar religiös motivierten Gesellschaft auf das Individuum bewirkt in vielen Fällen Resignation, Rückzug ins Säkulare und extreme Hoffnungslosigkeit. Es ist verständlich, dass Menschen in dieser Situation einfach keine Chance haben, an Gott als ihre Zukunft zu glauben.
In diesem Zusammenhang zeigt das Denken von Klaus Hemmerle einen ungeheuren Spagat an. Er formuliert: ‚Umkehr zum Ursprung, der Zukunft ist, dies ist die Gangart des Lebens’. Für ihn liegt diese Zukunft im dreifaltigen Gott.
Ich möchte die Frage nach der Zukunft zuspitzen und vertiefen. Ist mit dem schwarzen Loch alles aus, die Zukunft ausgelöscht? Die Antwort von Klaus Hemmerle ist provozierend: Im schwarzen Loch beginnt die Zukunft.
Klaus Hemmerle hat im Laufe seines Lebens ein besonderes Verhältnis zum ‚Nichts’ gewonnen. Gern zitierte er ein chinesisches Gedicht von Laotse, den Spruch XI aus dessen heiligen Buch "Vom Wissen um den Weg des Lebens“:
„Dreißig Speichen stehen auf einer Nabe,
doch dort, wo sie nicht sind,
ist des Rades Sinn.
Lehm knetet man zum Becher,
doch dort, wo der Becher nicht ist,
ist des Bechers Brauchbarkeit.
Man stemmt Tür und Fenster aus zur Wohnung,
doch dort, wo nichts ist,
ist der Wohnung Wesen.
Also gilt:
Erfasst du etwas in seiner Brauchbarkeit,
so erfasse: das Nichts macht alles aus.“
Klaus Hemmerle ist angesichts des Kreuzestodes Jesu Christi die positive Bedeutung des Nichts aufgegangen.
Schauen wir zunächst einmal darauf, wie Klaus Hemmerle diesen Kreuzestod verstanden hat. In dem elementaren Ausruf ‚Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?’ (Mt 27,46) kommt für ihn auf unüberbietbare Weise zum Ausdruck, was Jesus im Kreuz getan hat: ‚Er geht ganz nach unten, er geht in die größte Entfernung zu Gott, er geht in die Erfahrung der Ferne Gottes. (…) Wie immer ich das Evangelium im Einzelnen deute und verstehe, so erblicke ich doch eine fundamentale Linie, die hinein führt in diese Mitte, die der Schrei der Gottverlassenheit Jesu ist. Diese Linie möchte ich als das Evangeliumhafte des Evangeliums bezeichnen, als jenes ganz Typische, das das Evangelium gerade abhebt von anderen Weisen der Botschaft von Erlösung, Heil und Rettung, was den Jüngern von allem Anfang an fremd war und zu schaffen machte und von allem Anfang an zu einer Provokation wurde.’
Für Klaus Hemmerle war klar, dass die Botschaft vom Kreuz nie bequem ist und auf Widerstand bei den Menschen stößt, die sich unwillkürlich fragen, ob denn alles so negativ sein müsse und ob das Kreuz nicht ihre Aktivitäten lähme. Er hält diesen berechtigten Fragen entgegen: ‚Die Gottverlassenheit Jesu bis zum Letzten ist der Ernstfall Gottes. Es ist die innere Logik der Liebe, die Gott ist. (…) Jesus geht dorthin, wo Gott nicht ist und lässt die reine Abwesenheit durch die sie teilende Liebe zur höchsten Nähe Gottes werden.’
Für Klaus Hemmerle ist die Gottverlassenheit Jesu zum Ernstfall seines eigenen Glaubens geworden ist. Es ist ein ungeheuerlicher Gedanke, dass Klaus Hemmerle Abwesenheit und Nähe Gottes zusammen denken und selber in sein eigenes Glaubensleben übernehmen kann. Radikal gedacht heißt dieses, dass in einem solchen Denken ein erfahrener Atheismus gleichzeitig Platz hat und überwunden wird. Es lässt erahnen, dass Klaus Hemmerle das gefürchtete ‚schwarze Loch’ mit dem Licht Gottes erfüllt sieht.
Klaus Hemmerle bringt das Kreuz Jesu in Verbindung mit einer neuen Seins-Lehre, die er ‚trinitarische Ontologie’ nennt. Er entdeckt im Kreuz und in der Verlassenheit Jesu von seinem Vater eine merkwürdige Logik, die er so beschreibt:
‚Gott ist die Liebe;
Liebe ist Sich-Geben;
Sich-Geben heißt Verlieren und Nichts-Werden;
Nichts-Sein aber ist Ausdruck der Liebe, die Gott ist.’
Es kommt zu einer neuen Fülle aus dem Nichts.
Für Klaus Hemmerle ist im Nichts und im Verlieren - Gott, die Fülle. Diese Fülle ist wiederum Sich-Geben und Sich-Verlieren ins Nichts: ein Kreislauf des Lebens, ein beständiges immer neues Zugehen auf Ostern, ein neuer Zugang zum Leben.
Klingt das nicht abstrakt und theoretisch? Für Klaus Hemmerle ist dieser ‚Kreislauf des Lebens’ gegründet in seiner Begegnung mit dem gekreuzigten und verlassenen Christus. Diese ist für ihn so real, dass er in Ihm ‚den unverwechselbaren Ort erkennt, an dem sich dreifaltiges Leben unserem Leben offenbart und öffnet. Wörtlich formuliert er: ‚Wir können anders auf die Abgründe in uns schauen, (…) die Ratlosigkeiten und Ausweglosigkeiten. Auch ich weiß manches Mal nicht, wie ich umgehen soll mit den schwierigen Dingen. (…) Im Grunde stehen wir alle oft genug an dieser Grenze. Aber wir dürfen dort stehen, denn Er steht dort.’
An dieser Stelle seines Denkens stellt Klaus Hemmerle neu die Frage nach der Zukunft, nach der Zukunft, die Gott ist.
Bei der Frage „Wie ‚geht’ Zukunft?“ handelt es sich um eine Lieblingsformulierung von Klaus Hemmerle. Gerne formuliert er: Wie geht das? Glauben, wie geht das? Lieben, wie geht das? Spielen, wie geht das? Dreifaltig leben, wie geht das? Er stellt Fragen und schaut hin. Er nimmt Fragen an, er nimmt Fragen auf, er öffnet sich jeder Fragestellung genauso, wie er es bei seinem Lehrer Welte gelernt hat.
Da wird für ihn das weltbekannte Bild der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle Roms zur Brücke einer tieferen Gewissheit. Er bedient sich der Methode der Phänomenologie: Er schaut hin. Ihm fällt auf, wie Michelangelo - von der bisherigen Tradition abweichend – die abgebildeten Gestalten angeordnet hat. Adam ist in der linken Bildhälfte, der Schöpfergott, der in seinem Gewandbausch schon Eva ‚bereithält’, ist auf der rechten Bildhälfte zu sehen. Folgt man der abendländischen Leseordnung – wir lesen ja von links nach rechts anders als die Hebräer –, dann erscheint der Schöpfergott an zweiter Stelle nach Adam. Würde hier der Vorgang der Erschaffung Adams in reiner Kausalität dargestellt, dann müsste der Schöpfergott – wie oft in der Buchmalerei des Mittelalters – links von Adam sein.
Nun aber ist der Schöpfergott auf der rechten Seite, Adam gegenüber, die Zukunft von Adam. Es kommt zu einer Mehr-Kausalität oder – wie Klaus Hemmerle mit dem von ihm verehrten und geschätzten früheren Würzburger Philosophen Heinrich Rombach gerne sagte – ‚Mehrursprünglichkeit’. Gott hat also den Menschen nicht nur einmal geschaffen, am Anfang, sondern er erschafft und er bildet und formt den Menschen heute, im Jetzt. Gott, der Schöpfer ist die Zukunft des Menschen. Das heißt für Klaus Hemmerle: Der dreifaltige Gott – es gibt keinen anderen – erschafft und bildet und formt heute den Menschen.
Die Stelle, an der Gott den Menschen neu schafft, ist genau dort, wo der Mensch in absoluter Aporie vor seinem eigenen Abgrund, vor seinem Nichts, vor seinem Out steht. Hier will ihn der Finger Gottes berühren. Zentrales Vorbild und gleichzeitig zentrale Verheißung für dieses ständige Neu-Schaffen des Menschen ist für Klaus Hemmerle der Kreuzestod und die Auferstehung Jesu Christi. Sie ist in der Geschichte geschehen und übersteigt sie gleichzeitig. Das Neu-Schaffen des Menschen hat seinen Ursprung sowohl auf unserer Erde und in unserer Zeitlichkeit als auch im Schaffensakt des dreifaltigen Gottes. Es führt gleichzeitig über dieses Universum und die Jetzt-Zeit hinaus in eine neue Dimension des Seins.
Ich möchte mit Ihnen die entscheidenden Textpassagen lesen:
Interpretation der ‚Erschaffung des Adam’ von Michelangelo (4)
Mir selbst ist an diesem Bild und seinen Verhältnissen eine nicht unerhebliche Korrektur selbstverständlich mitgebrachter Schöpfungs-, ja Gottesvorstellungen widerfahren oder zumindest konkret geworden. Denken wir uns nicht die Schöpfung in etwa wie folgt? Auf der linken Seite, am Anfang der Schriftzeile, steht als Ursache Gott. Und dann stößt er, sozusagen vom Rücken her, das Geschöpf und auch den Menschen an. Geschöpf und Mensch gehen weiter in die Bildfläche und Schriftzeile hinein, haben eine offene Zukunft vor sich – und Gott ist im Rücken, seine ‚Hauptzeit’ ist die Vergangenheit. Die Bewegung läuft von ihm weg, auch wenn er sie natürlich im Blick behält und inszenierend verfolgt.
Gemäß der an Michelangelos Fresko beobachteten Bildlogik aber – und mir scheint das die Logik des Vorganges selber zu sein – ist Gott in der Richtung des Aufbruchs in die Zukunft dem Menschen je schon voraus. Er ist die Zukunft ohne Ende, ist sie ganz und gar auf einmal, in einem ewigen Augenblick – und er erweckt etwas, das nicht ist, damit es aufbreche und Zukunft, ihn als Zukunft, habe. Sicher, das Endliche hat nicht aus sich die Kraft der Zukunft ohne Maß und Grenze, aber sofern das Endliche Zukunft hat, sofern das Sterbliche Leben hat, kommen Sein und Leben ihnen zu aus dem, der Zukunft ist und gibt.
Die Zukunft beugt sich zurück zu mir, ruft mich, rührt mich an. Das erste, was geschieht, wenn das Geschöpf, bildhaft oder im eigentlichen Sinne gesprochen, seine Augen aufschlägt, ist der Blick nach vorne, ist das Schreiten in die Zukunft. Zukunft zugesprochen bekommen, damit fängt es an. Aus der Zukunft wird die Schöpfungsbrücke in meine Gegenwart, sodass ich zur Zukunft hin aufzubrechen vermag.
Schon immer ist Zukunft. Wenn uns dies aufgeht, können wir atmen. Ob meine Zukunft unbegrenzt ist, wie sie sein wird, sicher beschäftigt mich derlei Sorge von Anfang an. Doch sie ist bereits eingetragen in jene Urerfahrung, dass es weitergeht und der ungewisse, unverfügbare, je nur tropfenweise in die Gegenwart hinein fließende Strom der Zeit eine Quelle hat; und diese Quelle liegt vor mir, Zeit und Leben kommen mir zu. Leben als das meine ist Antwort, die dem Wort entgegen läuft, das von vorne, in meinem Antlitz mich ereilt hat: Komm und sei!
Die Gegenerfahrungen sind gewichtig und gerade heute drückend. Ist es indessen nicht fällig, sich dem zu stellen, dass alle diese Gegenerfahrungen erst Gegen-Erfahrungen sind, Widersprüche, Defizite gegenüber einer ihnen zuvor laufenden Grundtendenz, ja Grunderfahrung?
Das hat christlicher Glaube mit anderen Formen religiösen Lebens gemein: Der Grundvollzug ist das Vertrauen, Vertrauen aber geht weiter, wagt sich nach vorne, weil von vorne her die Einladung, die Ermutigung zum Sein, die Gewähr des Seins und des Lebens, die Verheißung der Zukunft kommt. Und solches ‚Komm her! Brich auf! Wage es!’, das hat seine äußerste Konsequenz und höchste Erfüllung dort, wo in das Entzogene, Unsichtbare hinein, das doch vor mir liegt, das Wort ‚Vater’ hinein gesagt werden darf.
Der ‚unbekümmerte’ Umgang mit dem eigenen Nichts und das Vertrauen auf den lebendigen Vatergott zeigte sich mir exemplarisch an jenem Karfreitag, als sein Hausarzt ihn über seine unheilbare Krankheit aufklärte. Es drängte ihn, als der Arzt gegangen war, einfach ans Klavier. Statt etwas zu sagen, spielte er Mozarts c-moll Fantasie (KV 475). Er erklärte mir, dass er sich in den bedrängenden, abgrundtiefen, von Hoffnungslosigkeit geprägten Partien dieses Stückes ebenso wieder finde wie in den hellen, strahlenden, der Hoffnung Raum gebenden Passagen. Danach sagte er sein inneres Ja im Blick auf die Zukunft, die ihn ereilen sollte.
Die Philosophie und Theologie Klaus Hemmerles möchte ich auf eine Kurzformel bringen: Unsere Hinkehr zu unserem Ursprung, zum dreifaltigen Gott, ist unsere Zukunft als Menschen in der Einheit mit Gott und untereinander. Nur darin ist unser Menschsein gefüllt, ja geheiligt.
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(1) Hemmerle, Klaus: Leben aus der Einheit, S. 43 ff.
(2) Hemmerle, Klaus: Leben aus der Einheit, S. 35 ff.
(3) Hemmerle, Klaus: Leben aus der Einheit, S. 27 ff.
(4) Klaus Hemmerle, Unterwegs mit dem dreieinen Gott, Ausgewählte Schriften, Bd. 2, S. 239 – 241
Eine Abbildung des Freskos ist auf den Seiten der Vatikanischen Museen zu finden unter: http://mv.vatican.va/6_DE/pages/x-Schede/CSNs/CSNs_V_StCentr_06.html.
Vortrag bei der Tagung der Bischöflichen Akademie Aachen zum Thema
„Freiheit – Spielräume des Menschen und Spielraum Gottes“, 9. Mai 2009