Charismen im Dienst an der Gemeinde

Themenstellung

Wie kann ich den Gemeindemitgliedern bewusst machen, dass sie Gaben, eine Berufung und eine Sendung empfangen haben? Wie kann ich sie anregen, ihre Gaben zu entwickeln und ihre Charismen und ihre Spiritualität in den Dienst der Gemeinde zu stellen?

0. Persönliche Vorbemerkung

Ich bin gerne zu Ihnen gekommen. Ich komme aus einem Land, wo die Kirche zurzeit sehr leidet. Täglich bekommen wir neue Schreckensnachrichten über Priester und Ordensleute, die Kinder missbraucht haben. Erfreulich ist, dass sich Bischöfe und Laien, auch Mitglieder der Regierung in Berlin um absolute Transparenz und fairen Umgang bemühen. Ich lerne daraus, dass wir als Kirche wirklich demütig werden sollen. Den bisher doch noch starken Triumphalismus – „wir sind gut, wir müssen die andern bekehren“ – müssen wir unbedingt abbauen und lernen, immer neu hinzuhören.

In diesen Tagen war ich auf einer Redaktionssitzung von DAS PRISMA – es ist eine Zeitschrift der Fokolar-Priester in Deutschland, für die ich verantwortlich bin. Das nächste Heft trägt den Titel „Dunkle Nacht“. Wir hatten den Eindruck, dass das genau unsere Situation als Einzelne, aber auch als Kirche beschreibt. Wir haben verstanden, dass wir vertrauen dürfen, dass Gott uns auch jetzt nicht verlässt und zu dem Zeitpunkt, den er vorgesehen hat, neues Licht schenkt. Wir fragten uns dann, was unsere Gemeinden heute brauchen. So fanden wir den Titel des übernächsten Heftes „Hörende Pastoral“. Wir wollen uns an dem Schriftwort orientieren, das in der Offenbarung des Johannes siebenmal vorkommt: „Hören, was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb 2,7).

Von diesen Gedanken bewegt möchte ich mit Ihnen ins Gespräch kommen.

1. Gemeinde neu aufbauen

Mir wurde ein interessantes Thema gestellt: Wie kann ich den Gemeindemitgliedern bewusst machen, dass sie Gaben, eine Berufung und eine Sendung empfangen haben? Wie kann ich sie anregen, ihre Gaben zu entwickeln und ihre Charismen und ihre Spiritualität in den Dienst der Gemeinde zu stellen?

Mir kommt sofort eine neue Frage: Gibt es diese Gemeinden noch? Bei uns in Deutschland schrumpft alles. Wir haben kaum Jugendliche im Gottesdienst. Wegen des Priestermangels werden neue Strukturen gebildet. Es entstehen Pfarrbezirke mit bis zu 20.000 Gläubigen (z. B. ganz in der Nähe in Geldern). Gemeinden im Sinne von Personen, die gemeinsam eine Kommunität bilden, gibt es schon lange nicht mehr. Oder sie sind eine große Ausnahme. Wir kommen nicht daran vorbei, uns klarzumachen, dass die Gemeinden neu aufgebaut werden müssen.

Zu den bisherigen Grunddiensten „Liturgie, Katechese, Diakonie/Caritas“ muss heute ein vierter Grunddienst hinzukommen: Gemeindeaufbau. In diesem Sinne habe ich als Regens „meine“ Seminaristen ausgebildet.

2. Blick auf die Situation in Westeuropa

Werfen wir einen Blick auf die Situation der Kirche in Westeuropa.

Viele Priester leben mit dem Gefühl, angesichts der gesellschaftlichen Situation sowie eigener Überarbeitung und Überforderung keinen Fuß an den Boden zu kriegen. Sie sind müde. Sie geben alles. Sie haben wenig Freude. Sie fragen sich, was kann aus unserer Arbeit noch herauskommen? Sozialdienst kommt an. Lebenshilfe auch. Weniger die Glaubenshilfe, diese ist selten gefragt.

Ein weiteres Dilemma: Die Priester werden bezahlt wie Beamte und haben keine finanziellen Sorgen im Gegensatz zu einem Großteil der Bevölkerung. Und dabei sollen sie als Zeugen leben für eine Botschaft, die revolutionär ist.

Sowohl die Kirche als auch der Priester befinden sich mit einem Schlag in einer gesellschaftlich ungemütlichen Lage: sie widmen sich öffentlich dem, was alle für privat halten. Trotzdem sind, quasi als Relikte der Vergangenheit, einige öffentliche religiöse Handlungen geblieben, bei denen der Priester unersetzlich scheint: Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen, Messen.

Die unbestreitbare Autorität, die dem Wort des Priesters zumindest in religiösen Dingen früher anhaftete, hat sich verflüchtigt. Der aufkommende religiöse Pluralismus führt dazu, dass er nicht mehr das einzige Wort hat, sondern auf paritätischer Ebene mit andern konkurriert.

Nicht nur die Institution Kirche ist unverständlich geworden, sondern auch das, wofür die Kirche steht: Gott. Der Pastoraltheologe Reinhard Feiter, der frühere Sekretär von Klaus Hemmerle, des verstorbenen Bischofs von Aachen, bringt die Situation Gottes in unserer Gesellschaft auf den Punkt, wenn er schreibt:

3. Gemeinden und Kirche: ein Werk des lebendigen Gottes

Diese Analyse öffnet noch keinen Weg. Sie löst bedrängende Fragen aus, die mancher von uns sich vielleicht selbst schon gestellt hat. Hat die Kirche vielleicht versagt? Sind unsere Gemeinden zum Aussterben verurteilt? Hat das Christentum wirklich gültige Antworten für die Situation der Menschen? Sind wir in die Irre gegangen?

Ich selbst habe im Laufe der letzten Jahre eine neue Gewissheit gewonnen. Gott steht zu seiner Schöpfung und zu den Menschen. Er ergreift immer wieder die Initiative, um mit uns zu sein und uns nicht allein zu lassen mit unserer Not. Ist es nicht sein Geist, der die Menschen weltweit bewogen hat, den Erdbebenopfern von Haiti und Chile in so umwerfender Weise beizustehen?

Ich kenne Menschen, die sich auch heute rufen lassen. Ich denke an die vielen Menschen, die sich für ein Volontariat zur Verfügung stellen, als Ärzte ohne Grenzen, als Mitarbeiter im Katastrophenschutz oder im Hospiz.

Und so gibt es auch immer mehr Personen, die sich für eine lebendige Kirche vor Ort einsetzen.

Mir wird immer klarer: Die Gemeinde kommt von Gott. Er entwickelt sie. Er beruft die Christen. Er weckt die Charismen. Er leitet die Gemeinde. Gott ist ein Gott des Anfangs. Er gewährt immer neue Anfänge. „Im Anfang war das Wort…“ (Joh 1; vgl. Gen 1). Die Begegnung mit dem Gott, der spricht (durch die Bibel, durch die Ereignisse, durch die Schöpfung), legt etwas Neues frei. Die folgenden Beispiele zeigen solche Anfänge.

Was können wir an diesen Erfahrungen ablesen?

In bestimmten Notsituationen verstehen Menschen wie von selbst, dass sie eine Aufgabe haben und erkennen ihre Sendung. Sie sind keine heroischen Einzelkämpfer, sondern wünschen sich eine tragfähige Beziehung untereinander. Sie suchen im Alltag, ganz nahe an ihrem normalen Leben, einen Raum, in dem sie auftanken und Orientierung finden können. Fast von selbst entwickeln sich „Hauskirchen“, die zunächst keinen Priester brauchen, sondern nur die Bibel. Die Bibel, in der Gottes Wort gespeichert ist, wird ihnen zum „Handbuch“.

Diese Urerfahrung von Kirche, der gemäß Mt 18,20 die immer neue Gegenwart des auferstandenen Christus versprochen ist, fängt bei zwei oder drei Menschen an, die sich auf das Abenteuer Gott einlassen.

Chiara Lubich hat schon 1975 von „beweglichen“ Kirchen gesprochen, die sich überall zum Wohl der Menschen „einnisten“ können:

4. Kirche im Wandel – offen für Neuaufbrüche

Ein unerwarteter neuer Anfang wurde der Kirche durch das II. Vatikanische Konzil geschenkt. Die Bedeutung der Konzilstexte für das Leben der Kirche und der Gemeinden nimmt im Abstand der Jahre immer noch zu. Wie Kirche sich hier versteht, kann nur umgesetzt werden, wenn alle mittun, Priester und Laien, Orden und Geistliche Gemeinschaften. Deswegen hat Johannes Paul II. zusammen mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger einen neuen Schwerpunkt gesetzt. Pfingsten 1998 wurden zum ersten Mal die Mitglieder der Geistlichen Gemeinschaften nach Rom eingeladen. Unvergesslich ist die Begegnung am Vorabend von Pfingsten auf dem Petersplatz, bei der der Papst den Geistlichen Gemeinschaften und den Orden ihren Platz in der Kirche gezeigt hat. Er unterschied den petrinischen amtlichen und den marianischen charismatischen Aspekt der Kirche, beide unverzichtbar und unableitbar voneinander. Das war ein ganz großer Schritt, der bis heute nachwirkt.

Im Lichte von Pfingsten 1998 wird die zentrale Botschaft von Lumen Gentium noch deutlicher:

In dieser Kirche zeigt sich eine immer neue Christuspräsenz. Er ist es, der die Menschheit eint. Er will durch sie allen Geschöpfen das Evangelium bringen. Wenn die Gemeinde sich als ein Teil der Kirche weiß, darf sie auf diese Gegenwart Christi, welche die Kirche ausmacht, vertrauen. Durch ihn kann sie Sakrament, Sauerteig, Zeichen und Werkzeug für Vereinigung mit Gott und den Menschen sein. Es wird verständlich, dass die Gemeinde einen Auftrag für alle Menschen hat, die auf ihrem Territorium leben.

Auf diesem Hintergrund erschließen sich die Worte von Gaudium et Spes umso mehr:

Wie lässt sich Kirche in diesem Sinn verwirklichen?

Da helfen die Charismen, also Neuaufbrüche, die der Kirche geschenkt sind. In unserer Zeit sind unerwartet viele neue Gemeinschaften entstanden. Ich darf einige aus meinem deutschen Kontext nennen: Fokolar, Charismatische Erneuerung, Gemeinschaft Emmanuel, Schönstatt, die Schwestern vom Lamm, Katholische Integrierte Gemeinde, die Gemeinschaft von Jerusalem, die Gemeinschaft Jesus Caritas, Sant’Egidio, Fazienda-Gruppen. In Holland kennen Sie sicherlich noch viele andere, die hier ergänzt werden könnten.

Nicht vergessen möchte ich an dieser Stelle die Aufbrüche geistlicher Art in der evangelischen und reformierten Kirche, die im Prozess „Miteinander für Europa“ mit den katholischen Gemeinschaften zusammen arbeiten. Ich denke besonders an die Bruderschaft des Gemeinsamen Lebens in Ottmaring/Augsburg, die zusammen mit dem Fokolar seit 1968 in einer ökumenischen Siedlung einen Raum anbieten, wo Gemeinden und Einzelne sich erneuern können. Ähnliche Impulse gehen weltweit von der Comunauté Taizé aus, die in vielen Gemeinden eine ökumenische Offenheit und Spiritualität bewirken.

Die Charismen stehen im Dienst der Kirche und helfen der Kirche, mehr sie selbst zu werden. So hat es Johannes Paul II. verstanden. So sagt es auch Benedikt XVI.

Wenn die Gemeinden heute Kirche sein wollen, können sie auf die Zusammenarbeit mit den Geistlichen Gemeinschaften nicht verzichten. Die Charismen der Bewegungen wirken im Radius der ganzen Kirche. Sie dürfen nicht auf eine Gemeinde eingeschränkt werden, können ihr aber wesentliche Horizonte eröffnen: Den Weltdienst und die Diakonie, den Bezug zur Weltkirche, besondere Formen der Spiritualität, das Streben nach Heiligkeit, das Bewusstsein der Berufung.

Wenn Charismen und das Amt in Gemeinde/Kirche sich gegenseitig frei lassen und Wert schätzen, hat es positive Auswirkungen auf die Gemeinde und die Kirche einerseits und andererseits auf die Welt und die Nöte der Menschen.

5. Notwendigkeit einer neuen Sammlung der Charismen

Die Kirche hält faktisch an der Struktur von territorial umgrenzten Räumen fest. Sie sieht auch in den Gemeinden einen Schatz, der nicht aufgegeben werden darf. Manchmal erscheint die Gemeinde leblos und passiv, ich sehe in ihr schlafendes Leben, das geweckt werden will. In ihr schlummert ein Same, der ein lebendiges Erdreich braucht, um zu keimen und zu blühen.

Warum ist es an dieser Stelle die verstärkte Kooperation zwischen Gemeinden und Geistlichen Gemeinschaften so wichtig? Ich habe miterlebt, dass Besuche von Gemeindenmitgliedern auf Veranstaltungen Geistlicher Gemeinschaften große Rückwirkung auf das Gemeindeleben selbst hatten.

Pfarrer G. fuhr regelmäßig mit einem ganzen Bus voller Gemeindemitglieder auf die so genannte Mariapoli, dem Sommertreffen der Fokolare. Dabei entdeckte er, wie „seine Leute“ sich ansprechen ließen und welche Gaben ihnen geschenkt waren. Die Atmosphäre eines solchen Treffens hatte dann die Kraft, die Gemeindemitglieder zu motivieren, sich mehr und mehr in den Dienst des Evangeliums zu stellen.

Pfarrer W. ermöglichte jungen Leuten seiner Gemeinde einen Besuch auf der Fazienda bei Berlin. Der Kontakt mit den Rekuperanten aus der Drogenszene und mit deren geistlichem Leben machte die Jugendlichen wach und weckte Sehnsucht nach Kontakt zu Gott und einem Weg mit ihm.

Pfarrer S. lud Jugendliche der Gemeinschaft Emmanuel in seine Pfarrei zu einer Gemeindemission ein. Daraus entwickelten sich Hauskreise von Jugendlichen und Erwachsenen.

Pfarrer L. führte seine Gemeinde auf einer Romfahrt nach Trastevere zum Abendgebet der Gemeinschaft Sant’Egidio. Aus diesem Erstkontakt entwickelten sich einfache soziale Aktivitäten im Umfeld der Pfarrei. Diese waren mit einem regelmäßigen Abendgebet verbunden, das nur von Laien gestaltet wurde.

Schon vor 35 Jahren habe ich mit meiner damaligen Gemeinde, in der ich erst seit sechs Monate tätig war, eine Busfahrt in die 120 Kilometer entfernte Großstadt unternommen, um am Frühjahrstreffen der Fokolar-Bewegung teilzunehmen. Danach entwickelte sich spontan ein Kreis von jungen Familien, die miteinander Kirche leben wollten und sich zu regelmäßigen Bibelgesprächen trafen. Aus diesem Kreis kamen die Katecheten, die Mitglieder des Besuchskreises für die Kranken und die Jugendlichen, die in Eigenregie Kindergruppen entwickelten. Nachzulesen in meinem neuen Buch.

Wenn Pfarrer und Geistliche Gemeinschaften zusammen arbeiten, kommt es zu einer neuen Sammlung der Glaubenden und Suchenden. Dann werden die Gaben der einzelnen Gläubigen in Blick genommen und Ernst genommen. Die Pfarrei entdeckt Personen, die etwas wollen, die sich einbringen und nicht darauf warten, geführt zu werden. Sie sind selbst aktiv. Hier begegnen wir dem Phänomen der Berufung mit ihrer besonderen Dynamik.

Kardinal Rylko, verantwortlich für den Päpstlichen Laienrat, hat im Januar dieses Jahres in Rom treffen bemerkt, dass die Kirche einen „neuen Stil der Zusammenarbeit zwischen Priestern und Laien aus den Geistlichen Gemeinschaften“ brauche. Wörtlich sagte er:

6. Neue Aufgabenstellung für den Pfarrer

Die Kirche hält fest an der parrochialen Struktur. Weil Kirche sich immer zugleich an einem Territorium fest macht, ergibt sich, dass die Christen eine Berufung vor Ort, für den Wohnbezirk haben. Es kommt darauf an, Christen zu finden, die bereit sind, sich lokal zu engagieren. Dafür müssen im Bezirk kleine Gemeinschaften gebildet werden, in denen die gemeinsame Berufung zum Christsein gelebt wird und Gaben, die Einzelne einbringen, gepflegt und begleitet werden können.

Es gibt unterschiedliche Gaben. Sie sind nicht nur geistlicher Natur. Solche Gaben sind zum Beispiel: Auto/Fahrdienste anbieten, das eigene Haus für andere öffnen, berufliche Kompetenz (Kochfrau) teilen, freie Zeit zur Verfügung stellen, Sensibilität für Arme haben, sich für die Integration ausländischer Mitmenschen einsetzen, Kranke besuchen.

Es gibt geistliche Gaben, die bisher in den Gemeinden nicht sehr ausgeprägt sind und die der Pfarrer zur Entwicklung der eigenen Gemeinde einsetzen kann. So zum Beispiel der Sinn für Gebet, die Leitung von Bibelkreisen, der Fürbitt-Dienst, die Unterscheidung der Geister, die Tröstung, die geistliche Begleitung, der prophetische Sinn für die Zeichen der Zeit.

Der Pfarrer versteht sich in diesem Prozess als Mitarbeiter Gottes. Er hilft, die Charismen zu entdecken. Er schenkt Vertrauen und lässt die Charismen kommen. Er schenkt Freiheit, damit jeder seine Gabe einbringen kann.

Seine wichtigste Aufgabe, noch vor der Spendung der Sakramente, ist die geistliche Begleitung der Charismen. Der Pfarrer wird um diese Gaben beten, weil er weiß, dass die Gemeinde sie braucht. Es ist seine dringlichste Aufgabe, die Personen mit geistlichen Gaben zu begleiten. Dabei kommt es darauf an, dass die gemeinsame Berufung von Priestern und Laien zum Christsein an erster Stelle steht. Die Menschen dürfen nicht vereinnahmt werden. Alles muss in Freiheit geschehen.

Ein Priester, der so für die Gemeinde da sein will, braucht selbst Gemeinschaft und Begleitung. Denn wie schwer diese Begleitung der Gaben und das immer neue Freilassen sind, habe ich selbst in meinem Priesterfokolar erlebt. Ähnlich wie die Gemeinschaft Jesus Caritas treffen wir uns regelmäßig in einer festen kleinen Gruppe von Priestern und teilen miteinander das Gebet, unsere geistlichen Erfahrungen, Erholung und auch die theologische Fortbildung. Oftmals waren die Mitbrüder, mit denen es mir als Verantwortlichem der Gruppe am schwersten gefallen ist, diejenigen, die besondere Talente und Gaben hatten. Nicht immer scheinen sie in die Gemeinschaft zu passen oder sich ihr unterordnen zu wollen. Etwas drängt sie, eigene Wege zu gehen. Meist habe ich erleben dürfen, dass, wenn ich sie stützte und förderte, sie ihre eigene Begabung für die Kirche und die Menschen fruchtbar machen konnten.

7. Neue Lebensformen für Laien in den Gemeinden

Von Indien und Afrika können wir lernen. Dort haben sich die small christian comunities entwickelt, die mittlerweile auch in europäischen Ländern Verbreitung finden. Sie bilden lockere Gruppen, ohne starre Strukturen, wo einzelne Menschen andocken können und den Erstkontakt mit dem Glauben oder eine Wiederbelebung ihres Kinderglaubens finden. Typisch für die kleinen christlichen Gemeinschaften ist, dass sie von Laien getragen und geleitet werden, dass sie miteinander, auch über größere Entfernungen in Austausch und lebendiger Verbindung stehen und dass sie mitten hinein wirken in das lokale, oft nicht christliche Umfeld, in dem sie angesiedelt sind.

Die Grundpfeiler ihres Selbstverständnisses sind:

Der anfangs von mir im Zusammenhang mit der Gottleere unserer Gesellschaft zitierte Pastoraltheologe Reinhard Feiter sieht in der Qualität der Beziehungen der Christen die Antwort für unsere heutige Zeit. Nicht so sehr die Worte sind es, sondern die Beziehungen, die in die Gesellschaft ausstrahlen können. Wörtlich sagt er:

In der Tat: Wenn Gott zur Leerformel wird, reicht es nicht aus, ihn verbal gültig zu bezeugen. Er muss sichtbar werden im Leben. Christus muss sichtbar werden in unserem Leben. Hier leisten die small christian comunities einen wichtigen Beitrag.

Ein alternativer christuszentrierter Ansatz, den ich kurz erwähnen möchte, ist das Projekt Weggemeinschaft, das Bischof Klaus Hemmerle 1989 mit einem Fastenhirtenbrief auslöste. Darin hatte er das ganze Bistum aufgerufen, sich auf eine ganz bestimmte Weggemeinschaft einzulassen in den Gemeinden und zwischen den Gemeinden, um auf diese Weise missionarische Gemeinde zu werden. Er selber wollte sich in einer konkreten Form mit Priestern und Laien unter dem Wort Gottes versammeln. Er nannte diese Gemeinschaft „Freunde im Wort“. Sie ließen sich leiten von der schlichten Fragestellung: „Was sagt uns der Geist Gottes in diesem überlieferten Text und wohin will er uns führen?“ Und Klaus Hemmerle ermunterte die Christen und wies die Richtung: „So wirken Sie mit an dem, was uns als gemeinsame Verantwortung aufgetragen ist: Weggemeinschaft gegenseitigen Zeugnisses und Dienstes zu werden, in deren Mitte der Herr selber uns in die Zukunft führt“.

Und Reinhard Feiter erklärt hierzu: "Weggemeinschaft stellt uns vor die Gottesfrage; und sie stellt uns die Gottesfrage als eine Frage nach unserem (Zusammen-)Leben. Der genaue Sinn des Wortes Weggemeinschaft ist: Wenn wir nicht miteinander unterwegs bleiben, dann werden wir nicht Zeugnis geben können für Gott: wenn wir nicht miteinander unterwegs bleiben, werden wir nicht gott-erfahrene Menschen sein."

Gott will nicht den schweren Weg, sondern den echten Weg. Woran kann man diesen erkennen? Eine Wegmarke ist die Einheit, und zwar unter denen, die ihn gehen, und mit denen, die eine übergeordnete Verantwortung tragen. Hier gilt die alte Regel: besser das weniger Vollkommene in Einheit als das Vollkommene ohne Einheit. Alles kann auch danach beurteilt werden, ob es der Gegenwart des Herrn förderlich ist. Dies hängt davon ab, ob die Entscheidung für einen bestimmten Weg die Liebe fördert, die Freiheit achtet und die Gemeinschaft vertieft. Gemeinden sollten sich zusätzlich fragen, ob der einzuschlagende Weg zum Nächsten, zu den Notleidenden und Armen führt.

Heute stehen wir in den Gemeinden vor der Chance, uns in kleinen Gruppen, also in lokalen Weggemeinschaften auf den Weg in eine neue Zukunft einzulassen. Die Israeliten, die der Prophet Mose durch die Wüste ins Gelobte Land führen sollte, fanden immer dann auf ihren Weg zurück, wenn sie sich der Weisung Gottes neu zuwandten.

Ohne zu hören, ohne miteinander auf das Wort Gottes zu hören, ist ein solcher Weg nicht möglich. Die Gaben des Geistes, die Gott auch heute reichlich verteilt und sät, sind zugleich unsere Verantwortung und unsere Sicherheit für eine Zukunft, in der die Gottesleere sich mit Licht und Hoffnung füllen wird.

Vortrag beim Pastoralkongress in Helvoirt (NL) am 14. März 2010

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