Aufrecht – Aufrichtig – Richtung gebend - IGINO GIORDANI
Von einem Menschen lernen, der sich für Gerechtigkeit eingesetzt hat
Es ist für mich eine große Freude, Ihnen Igino Giordani vorstellen zu dürfen. Wir haben es bei ihm mit einem Gerechten zu tun, mit einem Menschen, der sich als Politiker und Familienvater für die Gerechtigkeit Gottes mit allen Fasern seines Lebens in heroischer Weise eingesetzt hat. Mich wundert nicht, dass der Bischof von Tivoli den Seligsprechungs-Prozess eingeleitet hat.
Igino Giordani wurde 1894 in Tivoli bei Rom geboren und starb 1980 in Rocca di Papa. Seit 1965, dem Jahr, in dem ich zur Fokolar-Bewegung gestoßen bin, habe ich ihn immer wieder gehört und auch persönlich kennen gelernt.
Igino Giordani ist in einfachen Verhältnissen groß geworden. Er lernte von seinem Vater das Handwerk des Maurers. Er fiel in der Schule durch seine große Begabung auf, so dass er schon bald in ein Internat und damit aufs Gymnasium kommen konnte. In seinen posthum erschienenen „Erinnerungen“ (Rom 1981; deutsche Fassung München 1991) hat er wichtige Etappen seines Lebens festgehalten.
Kurz nach seinem Abitur bekam er im Dezember 1914 eine Assistentenstelle im Justizministerium in Rom, wurde aber bereits im Mai 1914 als Soldat eingezogen und an die österreichisch-italienische Front geschickt. Er schreibt:
Die Front kennzeichnete für mich den Übergang von der Schulzeit ins Leben – das heißt in die Fänge des Todes, in ein Meer von Kanonen. Schlamm, Kälte und Dreck waren die Begleitumstände einer bitteren, aber für mich wichtigen Entdeckung: Die Soldaten waren gegen das Morden, das man Krieg nennt. Sie hassten es, Menschen zu töten, Jeder Krieg, ahnte ich damals, richtet sich gegen das Volk und untergräbt seine Freiheit. Wenn ein Staatsmann den Krieg erklärt, so kann man mit Recht sagen, dass er ein Feind des Volkes ist; denn er bereitet dem Volk sein sinnloses Elend und Gemetzel.
Ein Jahr später wurde er schwer verwundet. Dazu schreibt er:
Vor Sonnenaufgang machten wir, meine Männer und ich als Anführer, uns daran, die österreichischen Drahtsperren zu überwinden. Wir waren etwa 20 Mann. Hinter uns zogen wir eine Ladung mit Sprengstoff her, mit der wir das Geflecht der Stacheldrahtsperren zerfetzen sollten. Aber wir wurden gleich vom Feind gesichtet und unter Feuer genommen. In wenigen Minuten waren fast all die jungen Männer getötet oder verwundet. Mit der Hilfe meines Offiziersburschen gelang es mir, den Sprengstoff in den Wirrwarr der Stacheldrähte über unseren Köpfen hineinzumanövrieren. Jetzt ging es darum, die Explosion auszulösen. Während wir die Sprengladung scharf machten, spürte ich plötzlich einen leichten Stoß am rechten Bein, und gleich darauf sah ich, wie es sich von selbst bewegte und drehte, als ob es nicht mir gehörte. Ich nahm die rechte Hand, um es festzuhalten, und sah meine Finger stark bluten. Ich war verwundet, aber ich spürte keinen Schmerz. Der Offiziersbursche und ein anderer Soldat wollten mich aus der Schusslinie ziehen. Doch es war nicht leicht, mich aus den Sträuchern und Steinen zu befreien. Sie taten, was sie konnten, unter dem Einsatz ihrer ganzen Kraft — und sie taten es mit einer großen Liebe. Nun machte sich ein stechender Schmerz bemerkbar. Als der Offiziersbursche über mir kniete, wurde er am Kopf von einer Kugel getroffen. Er sackte auf mich, ein schwerer lebloser Körper. Ich war der Ohnmacht nahe, hatte aber noch genügend Kraft, um die Leiche dieser armen Kreatur von mir zu wälzen. Der andere Soldat hielt mein linkes Bein, das unversehrt war, und rollte mich den Abhang hinab. Als er mich in den sicheren Schützengraben tragen wollte, wurde auch er von einer Kugel getötet. Einigen Soldaten im Schützengraben, die uns beobachtet hatten, gelang es, mich hineinzuziehen. Erst als der diensttuende Sanitätsarzt herbeieilte, um mir Erste Hilfe zu leisten, merkte ich, was wirklich geschehen war. Als der Hauptmann eintraf, sagte ich ihm unter dem erstaunten Schweigen der Soldaten, dass der erteilte Befehl ein Irrsinn gewesen sei. Er antwortete mit einigen wohlgesetzten Worten der Anerkennung für den ihm untergebenen Verwundeten. Für meinen Heldenmut bei dieser Aktion und für meine Tapferkeit im Schützengraben ließ er mir das silberne Verdienstkreuz verleihen.
Die Verwundung war so schwer, dass er 3 ½ Jahre im Lazarett bleiben musste und lebenslänglich eine Behinderung behalten hat. Immer wieder ist auch später diese Wunde aufgebrochen oder vereitert. Ich habe überlebt, aber mit dem Nachlassen der Körperkräfte in den letzten Jahren hat der Schmerz an meiner Verwundung immer mehr zugekommen, und es gab Zeiten, in denen ich nicht mehr laufen konnte. Dieses Kriegserlebnis wurde bestimmend für sein politisches Denken und geistliches Leben. Zunächst aber gründete er ganz bewusst eine Familie, auf dem Fundament des Ehesakramentes. Er fand eine Frau, die diese christliche Grundsicht ganz mit ihm teilte. Er schreibt: Zu der Zeit hatte ich mich in jenes Mädchen verliebt, das meine Frau werden sollte: Mya Ora Finiamola Salvati.
Am 2. Februar 1920 heiratete er. Dem Ehepaar wurden vier Kinder geschenkt.
Igino Giordani interessierte sich sehr früh für die Politik und für den christlichen Glauben. Er arbeitete mit beim Partito Popolare. Diese Arbeit wurde jäh unterbrochen durch das Aufkommen des Faschismus in Italien, durch den Aufstieg von Mussolini und dessen Marsch nach Rom. Schon 1924 lernte er, schon im Untergrund arbeitend, den späteren großen italienischen Ministerpräsidenten De Gasperi kennen.
Seine journalistische Tätigkeit musste er einstellen, weil ihm das Schreiben verboten wurde. Er wurde später auch aus den Wahllisten gestrichen und konnte selber nicht mehr wählen. Er konnte nur überleben, weil er im Vatikan eine Anstellung als Bibliothekar gefunden hat. Der Vatikan schickte ihn zur Ausbildung in die USA, wo er von 1927 bis 1928 in New York unter einfachsten und manchmal auch primitivsten Verhältnissen lebte.
In dieser Zeit erwarb er das Diplom in Bibliothekswissenschaft. Aus den USA zurückgekehrt stellte er die gesamte Vatikanische Bibliothek auf das neue in den USA erlernte Katalogsystem um, was zur Folge hatte, dass viele europäische Bibliotheken dann im Vatikan ihrerseits dieses System studierten, so dass er schlussendlich mit Erlaubnis des Papstes eine Bibliothekarsschule einrichtete.
Am 26. Mai 1928 verließ ich diese „wunderbare Stadt“ New York und kehrte mit der „New Amsterdam“ zurück nach Europa. Im August begann in der Vatikanischen Bibliothek die Umstellung – in die älteste Bibliothek zog die neueste Technik ein. Ich wurde zum Leiter der Katalogisierung ernannt, das war die Abteilung, deren Reform am notwendigsten war. Die Arbeit begann so gut, dass selbst die Bibliotheken von Leningrad und Peking unsere Bibliotheksverzeichnisse abonnierten. Der Berliner Bibliothekar Harnack, ein Sohn des berühmten Theologen, hielt unser System für das fortschrittlichste in ganz Europa. Nach dem neuen Verfahren, das wir von den Amerikanern gelernt hatten, konnte man in wenigen Minuten jeden Titel finden, auch diejenigen, die zu antiken Sammelwerken gehörten.
Die Arbeit in der Vatikanischen Bibliothek war sehr intensiv. Unter meiner Leitung wurde die Katalogisierung auf den neuesten Stand gebracht. Dazu fertigte ich ein großes Handbuch mit international gültigen Normen der Katalogisierung an und gründete im Jahre 1934 die Vatikan-Schule für Bibliothekonomie. Tisserant trug diesen Vorschlag Papst Pius XI. vor: In ein paar Tagen war das Ganze in Gang gesetzt. Im Jahre 1938 hatte die Schule 80 Schüler aus mehreren Nationen.
Diese Arbeit im Vatikan, zu der er auch De Gasperi hinzuholte, hat ihm das Überleben in der langen Zeit des Faschismus ermöglicht. Immer wieder unterlag er Verfolgungen, aber er ließ sich nicht mundtot machen. Da er nun politisch nicht mehr schreiben konnte, wandte er sich seinem Lieblingsthema zu, den Heiligen und den Kirchenvätern. Er schrieb zahlreiche Bücher geistlicher Natur, die in versteckter Weise politisch gemeint waren.
Ich erwähne nur einige Titel:
Was für ein Werk!
Was für ein reiches und besonders spirituelles und kirchliches Interesse. Fast alle diese Bände hatten über 400 Seiten. Man könnte ihn mit Romano Guardini verglichen oder mit einem der Kirchenväter – nur dass er nicht wie jene ein Priester,sondern ein verheirateter Laie war.
Es sei hier schon erwähnt, dass heute viele daran arbeiten, dieses reiche Schrifttum zu sichern und zu bewahren. Auch eine Reihe „Ausgewählte Schriften“ in 10 Bänden wird gerade herausgegeben. Das italienische „Centro Igino Giordani“ unternimmt alles, um sein Erbe zu bewahren. Weitere Informationen unter
Schauen wir weiter in sein Leben: Durch die Arbeit im Vatikan und durch häufiges Umziehen und Sichverstecken konnte er den Häschern des Faschismus und später auch den Häschern des Deutschen Nationalsozialismus in Rom immer wieder entkommen.
Unter fremdem Namen schrieb er in der italienischen Tageszeitung „Avvenire d´Italia“ und in weiteren Zeitschriften, unter anderem in der Zeitschrift Fides, deren Leitung ihm 1928 anvertraut wurde. Er war auch informiert über den Widerstand von Kardinal von Galen:
Im Oktober 1941 traf ich in der Kirche Il Gesù in Rom Pater W. Ledòchowski, den Generaloberen der Jesuiten, einen hinkenden und schmächtigen Mann wie sein Ordensgründer, der heilige Ignatius von Loyola. Er erzählte mir von dem unerschrockenen Kampf des deutschen Kardinals von Galen gegen die Nazis und von den Aktivitäten der Nazis, die begonnen hatten, Alte und Geisteskranke zu töten.
Gegen Ende des Krieges – noch zur Zeit der Besetzung Roms durch die Nazitruppen - stieg er in der Politik ein, um ein neues Italien aufzubauen. Anfang 1944, als Rom noch von den Deutschen beherrscht war, hatte ihn der damalige Msgr. Montini (der spätere Papst Paul VI.) ins päpstliche Staatssekretariat gerufen und gebeten, die Leitung des „Quotidiano“, einer neugeplanten katholischen Tageszeitung zu übernehmen. Diese Zeitung sollte gleich nach der Befreiung Roms als Sprachrohr der Kirche erscheinen. Er dazu wörtlich: „Zum unmittelbaren Apostolat zurückzukehren, mich wieder in die ideologischen Auseinandersetzungen zu begeben, das war mein sehnlichster Wunsch. Begeistert nahm ich das Angebot an und rüstete meinen Kopf, der voll war mit den Anliegen der Bibliothek, für den Journalismus“.
Als im Mai 1944 die blumengeschmückten Panzer der Amerikaner, auf die weinende Mütter ihre Kinder gesetzt hatten, in Rom einrückten, erschien der Quotidiano und hatte einen Erfolg, den in keinem Verhältnis zu den vorhandenen Mitteln stand.
Als Direktor der Zeitung wurde ich des öfteren zu Pius XII. gerufen, um in freundschaftlichem Gespräch bestimmte Angelegenheiten zu besprechen. Eines Tages fragte dieser: „Giordani, was haben Sie da in der Zeitung geschrieben? Man hat sich bei mir beschwert. Die Leute sagen, Sie seien ein Umstürzler.“ Er zitierte dann einen Satz aus seinem letzten Leitartikel, in dem die Rede davon war, dass das, was die Reichen zuviel hätten, den Armen gehöre; ungerecht oder unsozial gebrauchtes Eigentum sei Diebstahl. „Heiliger Vater“, gab er zur Antwort, „das ist ein Wort vom heiligen Johannes Chrysostomus.“ — „Aber das hätten Sie dazuschreiben müssen.“ — „Heiliger Vater, wenn man einen solchen Artikel in kurzer Zeit verfassen muss, dann bleibt nicht viel Zeit fürs Bibliographieren.“ — „Ja, das ist sicher wahr“, erwiderte er und begann wieder zu lächeln. „Die Leute sagen, Sie seien ein Umstürzler. Machen Sie sich nichts daraus. Auch von mir sagen sie, ich sei ein Umstürzler. Wie sehen Sie das?“ „Sehen Sie“, antwortete ich, „ein Christ ist zwangsläufig ein Umstürzler: Will er nicht die Welt verändern? Nur, dass seine Revolution eine Wohltat ist; sie baut etwas auf und zerstört nicht. Sie bringt Liebe und nicht Hass und führt die Gesellschaft zur Solidarität zurück.“
Das erste Jahr als Journalist, der frei schreiben konnte, hatte mich zur Einsicht geführt, dass die Kirche von nicht wenigen Reichen ausschließlich als Wächter ihrer Geldschränke betrachtet wurde. In den ersten Monaten hatten mehrere reiche Herren Kontakt mit mir aufgenommen, aber die meisten haben sich bald wieder zurückgezogen, weil ich nicht verstand, was sie mir unterschwellig bei den Tischgesprächen zu verstehen geben wollten. Und so erlaubte ich mir, unabhängig und unerschrocken die Sache der christlichen Soziallehre weiter zu vertreten.
Schon bald gehörte er zu der Gruppe um De Gasperi, die eine neue christlich orientierte Partei gründeten, die „Democrazia cristiana“. Er wurde in die verfassunggebende Versammlung berufen. Später wurde er bei den ersten freien Wahlen nach dem Krieg als Abgeordneter ins italienische Parlament auf dem Montecitorio in Rom gewählt und blieb Parlamentarier bis 1953. Zeitweilig war er auch Stadtverordneter im römischen Stadtparlament. Jetzt konnte er all seine lange Jahre unterdrückte politische Kompetenz mit seinen christlichen Idealen verbinden und ins politische Leben der jungen Republik Italien einbringen. Die Leitung des „Quotidiano“ gab er daraufhin ab.
Bei den Diskussionen um die Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht brachte er seine Stimme unüberhörbar und fast revolutionär im Parlament ein. Seine Erfahrung aus dem ersten Weltkrieg und seine eigene Verwundung hatten bei ihm schon längst die tiefste Überzeugung wachsen lassen, dass Kriege das Schrecklichste sind, was es gibt, und dass sie auf jeden Fall verhindert werden müssen. In einem Artikel des Quotidiano schrieb er am 25.12.1945:
Der Krieg ist die Liturgie des Todes. (...)
Wenn er den Menschen der Freiheit beraubt und ihm durch Theorien und Giftgase auch den Verstand genommen hat, dann zieht er ihm die Haut vom Leib. Er errichtet Leichenhaufen als Kandelaber der Blutsauger des Volkes. Christus ist gekommen, um den Tod zu besiegen. Wie der Krieg in der heutigen Zeit sich verschärft und ausgebreitet hat, ist er in jedem Fall ein schlimmes Unheil. Eine Regierung, die ihn heraufbeschwört, führt das Volk in ein großes Unheil. (...)
Wie kann es noch Regierungen geben, die nicht begriffen haben, was nunmehr allen Völkern klar sein dürfte, dass die Kriege kein einziges Problem lösen und zu nichts dienen. Sie sind ein unnützes Massaker, wie Benedikt XV. gesagt hat; sie bringen nichts als Vernichtung, Tod und alle möglichen Formen des Elends, wie Pius XII. gesagt hat.
Es war nur konsequent, dass er zu den ersten Befürwortern der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen gehörte und schon im Dezember 1949 einen Gesetzentwurf zur Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorlegte. Es vergingen jedoch mehr als 20 Jahre bis schließlich Anfang 1973 ein entsprechendes Gesetz vom italienischen Parlament verabschiedet wurde.
Was stand dahinter? Hören wir ihn persönlich:
Als ich während des Ersten Weltkriegs nachts im Schützengraben Wache hielt, quälte mich immer wieder der Gedanke an das fünfte Gebot: „Du sollst nicht töten!“ Gott, der Urheber des Lebens, verbietet, dieses Leben, sein Werk, zu zerstören: Das Töten ist ein Verbrechen an ihm, dem Schöpfer, der der Gott der Lebenden und nicht der Toten ist. Das Töten ist eine Vernichtung des Ebenbildes Gottes. Im Laufe der Zeit hatte man durch feinsinnige exegetische Auslegungen dieses Gebot geradezu umkehrt; aber im Evangelium ist es Ausdruck für den Schutz des Lebens, das Töten des Bruders ist nicht zulässig, es ist — wie Kardinal Suhard erklärte — gleichbedeutend mit der Tötung Christi. Aber, so wird man mir entgegenhalten, durch die Anerkennung eines solchen Prinzips könnten sich viele der Pflicht, den Militärdienst zu leisten, entziehen; in dem neuen Gesetz fänden sie dazu eine simple und falsche Rechtfertigung. Doch dem ist nicht so: Wer den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert, wer aus religiösen oder moralischen oder menschlichen Gründen nicht den Bruder töten will, der weigert sich nicht, für ihn eventuell sein eigenes Leben zu geben. Er kann statt des Wehrdienstes einen Zivildienst ableisten und als Sanitäter oder in sozialen Diensten in gefährlichen Gebieten zum Einsatz kommen.
Dieser unerschrockene Mann, der sich für die Freiheit, für die Menschenwürde und für das Soziale mit aller Macht einsetzte, der immer wieder auch öffentlich Anstoß erregte, der sich dafür verfolgen ließ und aller Rechte berauben ließ, dieser Mann hat nach dem Krieg daran mitgearbeitet, das neue Italien mit aufzubauen.
Mitten in diese aufregende Zeit wurde ihm eine Begegnung zuteil, die sein Leben noch einmal zutiefst verändern sollte, auch deswegen, weil er dazu bereit war. Dieser Mann traf nach dem Krieg 1948 ausgerechnet im italienischen Parlament auf eine kleine Gruppe von Fokolarinnen aus Trient, die ihre Botschaft der gelebten Einheit dort weitergeben wollten. Er lernte „die Apostel der Einheit“ und unter ihnen Chiara Lubich kennen. Diese Begegnung gab seinem Leben noch einmal eine ungeheure Wende. Er begann in ganz entschiedener Weise den Weg nach innen.
Er fühlte sich im Innersten angesprochen. Er entdeckte, dass er als Verheirateter in gleicher Tiefe mit diesen jungen Frauen, die selber jungfräulich lebten, mitten in der Welt, auch des Parlaments, das Evangelium leben konnte – wonach er sich schon immer gesehnt hatte – gerade deswegen hatte er so intensiv sich mit den Heiligen in seinen Büchern beschäftigt. Viele Dienstreisen, die er als Parlamentarier ohnehin unternehmen musste, gaben ihm die Gelegenheit, immer wieder im Fokolar von Chiara Lubich in Trient mitzuleben - dies noch mehr, als Chiara Lubich ihren Wohnsitz nach Rom verlegte. Chiara selbst erkannte durch ihn, dass Verheiratete genau so wie jungfräulich Lebende von Christus berufen werden und einen unverwechselbaren Teil am Aufbau des Reiches Gottes übernehmen können. Sie hat später gesagt, dass durch Igino Giordani das Fokolar auf die Familien und auf die Gestaltung der Welt geöffnet wurde. Heute sieht sie in ihm einen Mitgründer der Fokolar-Bewegung.
In welche Tiefe er damals geführt wurde, zeigt ein Text aus dem Jahr 1951 in einer „Art Gedicht“, wie Giordani selbst diesen Text bezeichnet:
Ich will mir selber sterben;
und was auch geschieht, berührt mich nicht mehr.
Jetzt will ich mein Ich aufgeben
im verlassenen Herzen des Herrn.
All mein Sorgen aus Geiz und Eitelkeit
wird zunichte in der Liebe.
Ich habe die Freiheit gefunden.
Ich will mir selber sterben,
jenen Tod, nach dem man nicht mehr stirbt.
Ich will mich freuen
an Gott und seiner ewigen Jugend.
Diese Worte aus dem Jahr 1951 sind Ausdruck seines Innersten. Er kommentiert das Gedicht in seinen Erinnerungen so:
Ich hatte mich damals einer jungen religiösen Bewegung, den Fokolaren, angeschlossen. Sie war von Chiara Lubich 1943 in Trient ins Leben gerufen worden.
Bei den Parlamentswahlen 1953 wurde er nicht wieder gewählt. Zu seinem Freund Camillo Corsanego hatte er vor den Wahlen gesagt:
„Lieber Camillo, es ist besser, dass wir beide uns nicht mehr als Kandidaten zur Wahl aufstellen lassen. Wir haben nicht das nötige Geld, wir haben keine Lobby, wir haben keine Klientel…“ — „Das ist wahr“, hatte dieser mir erwidert, „aber ich möchte nicht, dass man denkt, ich trete aus Furcht vor der Verantwortung zurück. Die Wähler selbst sollen uns, wenn sie es für richtig halten, entlassen.“ Das Ergebnis: Und wir wurden beide entlassen.
Dazu kommentiert er:
Über diese Niederlage war ich nicht sehr betrübt. Konnte ich mich doch nun mit ganzer Kraft der Fokolar-Bewegung widmen. Ihr Leben, das ganz im Evangelium verwurzelt ist, brachte eine neue Art des Zusammenlebens hervor: Laien, auch verheiratete, die in gewisser Weise ein Leben der Vollkommenheit anstreben, wie es großen Kirchenvätern etwa Johannes Chrysostomus und großen Aposteln der Kirche wie Katharina von Siena und Girolamo Savonarola vorgeschwebt hatte.
Er übernahm wichtige Aufgaben in der Fokolar-Bewegung und widmete sich noch mehr dem, was die Fokolare das „Ideal“ nannten. Es war das Ideal des Evangeliums, der Kirche. Er übernahm die Leitung der Zeitschrift Città Nuova (Neue Stadt) und unterrichtete am Internationalen Institut Mystici Corporis in Loppiano bei Florenz. Später wurde ihm die ökumenische Kontaktstelle Centro Uno anvertraut. An vielen Projekten, die sich damals in der Fokolar-Bewegung entwickelten, war er maßgeblich beteiligt. Das Thema Familie, das Thema Aufbau einer Neuen Gesellschaft und die Ökumene waren seine Hauptbaustellen. Durch ihn wurden die im Entstehen begriffenen Kontakte zu Lutheranern in Deutschland, Anglikanern in England und Orthodoxen in Griechenland und in Konstantinopel auch durch regelmäßige Kontakte mit Bischöfen anderer Kirchen theologisch und spirituell vertieft, so dass sich ein gemeinsames Leben von Christinnen und Christen unterschiedlicher Konfession in Deutschland (Ökumenisches Lebenszentrum Ottmaring bei Ausburg) und in England (Ökumenisches Zentrum Welling Garden City bei London) entwickeln konnten und bis heute bestehen. Das Centro Uno war schon während des II. Vatikanischen Konzils eine wichtige Anlaufstelle an der Piazza Navona in Rom.
Natürlich behielt er auch Kontakt mit den Parlamentariern:
Ein reger und freundschaftlicher Austausch verband mich auch nach der Wahl von 1953 mit einer Reihe von Parlamentariern, die dem Ideal von Don Sturzo nahestanden. Ich erinnere mich, dass ich kurz nach den Wahlen im Bahnhof von Trient De Gasperi begegnet bin. Es war seine letzte Reise in seiner Funktion als Ministerpräsident. Als er mich sah, lud er mich ein, mit ihm im Waggon des Ministerpräsidenten mitzureisen.
Als im Jahr 1972 seine Frau starb, ist er ausgezogen und hat ganz selbstverständlich als verheirateter Fokolar seinen Platz in einer kleinen Gemeinschaft in Rocca di Papa in den Albaner Bergen bei Rom gefunden. Hier konnten wir ihn bei vielen Gelegenheiten sehen und treffen. Er strahlte eine ungemeine Güte und Klarheit aus, vollendete Gerechtigkeit.
Am 18. April 1980 ist er im Alter von 85 Jahren gestorben und angekommen.
Abschließend möchte ich ihn jetzt in kurzen Abschnitten selber zu Wort kommen lassen. Die Texte, außer dem ersten, sind seinem „Diario di fuoco“, das im Monat seines Todes 1980 veröffentlicht wurde, entnommen.
Wenn wir uns mit einem oder mehreren Mitmenschen im Namen Jesu vereinen, wird Jesus auf mystische Weise unter uns präsent, ähnlich wie er präsent wird auf dem Altar, wenn der Priester die Wandlungsworte spricht. Da wird die Begegnung mit dem Bruder, der Schwester zu einer Art Messe auf mystische Weise. Ich, der Bruder, Jesus: in dieser Dreiheit zirkuliert die Liebe des Dreifaltigen Gottes; denn er kommt und wohnt mit dem Vater und dem Heiligen Geist in dem Menschen, der liebt.
Und das kann zu Hause wie im Café, in der Werkstatt wie im Labor, im Krankenhaus wie auf einem öffentlichen Platz geschehen... Jeden Moment kann durch die Einheit von zweien oder mehr Christen Jesus gegenwärtig werden, so dass die Ideen oder die Gestaltung ihrer Zusammenkunft nicht mehr von einem Menschen kommt und die Meinungen nicht von Einzelpersonen ausgedrückt werden, sondern vom Herrn: da kommen egoistische Sichtweisen nicht mehr zum Tragen und man betrachtet alles aufgrund der Liebe vom Blickpunkt des Wohlergehens aller her.
Wenn Du in dieser inneren Haltung einem Menschen begegnest und er dir im Namen Jesu begegnet, „erkennst“ du ihn, auch wenn du ihn vorher nicht kanntest. Du entdeckst, du hättest ihn - gleichsam im Schoß des Vaters - von jeher gekannt. Unter Menschen zu verweilen, die auf diese Art vereint sind, wie immer sie auch heißen und welcher Klasse sie auch angehören mögen – äußere Kenntnisse treten zurück –, vermittelt den Eindruck von Familie, die aus fernen, oftmals traurigen Umständen zusammenkommt: eine schöne Familie, gleichsam Zusammensein von Menschen, die eine einzige Seele bilden, die Christus sind. Zusammensein mit ihnen bedeutet zusammen sein mit Jesus; und auf Grund seiner Anwesenheit brechen all jene menschlichen Faktoren zusammen, die Trennung bewirken...
Jene endlosen Sitzungen von Gruppen Abgeordneter, Studienkommissionen, Wirtschaftsgenossenschaften, Gemeinderäten..., die häufig ihren Abschluss finden –sofern überhaupt einer zustande kommt – mit einem Kompromiss, der ein Ergebnis von Müdigkeit ist, würden zur Ermittlung von fruchtbringenden neuen Mitteln werden, wenn dem ein Bewusstwerden vorausginge: dass jedes Mitglied ein Bruder, eine Schwester und dies ethisch gesehen gleichbedeutend mit Christus ist, und... dass „vor allem anderen“ die Liebe zählt.
Lieben bedeutet begreifen. Die Liebe ist göttliche Intelligenz. Es könnten Jahre, Jahrhunderte der Suche, Forschung und Mühen erspart werden, wenn eine Zusammenarbeit mit Brüdern und Schwestern in dem Bemühen gegeben wäre, Christus präsent werden zu lassen am Arbeitsplatz, so dass alles gleichsam aus seinen Händen kommt.
(Igino Giordani, Laientum und Priestertum, 1964, S. 225-226)
Jeden Morgen sage ich: ‚Jesus, ich möchte dir gehören, so wie du es dir vorstellst; mach mit mir, was du willst.‘ (Das habe ich gelernt von jemand, der mich anleitet). Aber erst jetzt verstehe ich, was das bedeutet: die Freiheit: Alles, was die Welt betrifft, hält mich nicht mehr fest. Nur Gott zählt. Jetzt fühle ich mich wirklich als ein Mensch, der Gott geweiht ist, der ihm gehört. Und er kann mit mir machen, was er will. (D, 136)
Im Juli 1963 schreibt er:
Das Leiden fehlt in keinem Lebensabschnitt, aber im Alter wird es stärker. Es vereinigt sich mit dem Leiden des Gekreuzigten, um das Fundament der Erlösung zu bilden. Dadurch wird das Gleichgewicht der Gerechtigkeit im Kosmos wiederhergestellt, das von der schlecht genutzten Freiheit verletzt wurde. So verhalten wir uns Gott gegenüber, wie Christus sich am Kreuz dem Vater gegenüber verhalten hat, von dem er sich auf dem Höhepunkt seines Leidens verlassen fühlte. Leiden also, und trotzdem Hingabe an den Willen Gottes: ‚Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.‘
Das ist eine fruchtbringende Haltung. Sie kostet schreckliche Schmerzen, Einsamkeit und Verlassenheit, wenn auch nur für einen Augenblick und nur scheinbar; verlassen sein von Gott, das heißt vom Sein.
Aber es führt zu einer tieferen Vereinigung unseres Lebens mit seinem Leben, unseres Daseins mit seinem Sein. Man wird zu neuem Leben geboren, gerade wenn man zu sterben scheint.(D, 156)
Leben bedeutet Sich-Öffnen; sterben bedeutet Sich-Verschließen. Wenn das Samenkorn sich nicht in der Erde auflöst und sich so entwickelt, aufblüht und Frucht bringt, stirbt es. Und der Mensch stirbt, weil er seine Zeit damit verbringt, um sich selbst zu kreisen. Er verschließt sich in sich selbst und erstickt unter vielen Nöten. Er lebt, wenn er sich in der Liebe entfaltet und nicht mehr an sich selbst denkt, sondern an den Nächsten, in dem er das Abbild Gottes sieht. Und in Gott, der Leben ist, wird auch er leben. (D, 158)
Wenn wir unsere Liebe auf Jesus in seiner Verlassenheit konzentrieren (der am Kreuz schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – Höhepunkt der Qual und der Liebe), wird der Schmerz zum Rohstoff, zum Brennstoff für die Liebe. Im Blick auf ihn kehren sich die Dinge um, wie in der Fotografie: negativ wird positiv, die Leiden werden zu Freuden. Alles wird unter dem Blickwinkel der Liebe gesehen. Und dann leidet man nicht mehr, denn man tut den Willen Gottes und ‚im Willen Gottes liegt unser Friede‘. (D, 158-159)
Am 25. Januar 1980 verschlimmert sich seine Krankheit:
Nie waren wir so sehr Jesus wie jetzt, wo wir – mit ihm gekreuzigt – ganz bei ihm sind.
Die Erleichterung durch eine kleine Schlaftablette ist wie der Schwamm mit Essig an den Lippen des Gekreuzigten.
Auf! Wir sind mit ihm vereint in der Erlösungstat für die Menschheit. Legen wir unseren Geist in seine Hände! (D,204)
Und am 11. April 1980, eine Woche vor der endgültigen Begegnung:
Ich bin einer der bevorzugtesten Menschen auf der Welt, denn ich kann jeden Tag zu Hause die Kommunion empfangen.
Leben ist für mich Christus.
Der Atem ist der Heilige Geist. (D,205)
Beitrag zum Katholikentag in Saarbrücken, Juni 2006