Im Zeichen des Ja - Das marianische Profil der Kirche

1. Pfingsten 1998: Ein öffentliches Ja

Viele Zeitgenossen kennen nur ein einziges Profil der Kirche, jenes der Hierarchie, das sich von Petrus ableitet. In diesem Vortrag möchte ich das marianische Profil der Kirche, das sich von Maria herleitet, vorstellen. Wir erleben heute eine Wende. Wir stehen praktisch vor einer Neuentdeckung des marianischen Profils der Kirche. Etwas Besonderes ist es, wenn beide Profile, das petrinische und marianische, gemeinsam zum Vorschein kommen und sich gegenseitig ergänzen können.

Am Vorabend des Pfingstfestes 1998 versammelten sich auf dem Petersplatz über 300.000 Mitglieder aus 180 verschiedenen Geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften, die eigens nach Rom angereist waren, um sich mit dem Papst zu treffen. Der Petersplatz hatte nicht ausgereicht, so dass die breite Straße, die Via della Conciliazione, bis zur Hälfte noch mit Pilgern angefüllt war. Es war eine junge und bunte Kirche, die hier sichtbar wurde. Papst Johannes Paul II. hieß die versammelten Gemeinschaften willkommen und sagte: „Was sich vor 2000 Jahren in Jerusalem ereignet hat, wiederholt sich gewissermaßen heute Abend auf diesem Platz, dem Zentrum der christlichen Welt“ und spielte damit auf das Pfingstfest an. In seinen Ausführungen bezeichnete der Papst das Zweite Vatikanische Konzil als neues Pfingsten für die Kirche, weil diese auf diesem Konzil die charismatische Dimension als wesentliches Element ihrer selbst wiederentdeckt habe. Er mahnte die notwendige Eingliederung in die konkrete Kirche vor Ort an. Doch die positive Annahme der neuen Bewegungen stand klar und erlebbar im Raum. Diese Vigilfeier von Pfingsten 1998 war ein großes Gemeinschaftserlebnis, weil die vielen Bewegungen zum ersten Mal in ihrer Geschichte zusammen kamen und vom Papst auf ihre gemeinsame Berufung angesprochen wurden. Bis dahin lebte jede Gemeinschaft parallel zur anderen, ohne echten Kontakt zueinander. Der Papst, also Petrus, hatte sie zusammen geführt.

Wörtlich sagte der Papst:
„Das war die unvergessliche Erfahrung des II. Vatikanischen Ökumenischen Konzils, in dessen Verlauf die Kirche – unter der Führung eben dieses Geistes – die charismatische Dimension als wesentliches Element ihrer selbst wiederentdeckt hat: Das Institutionelle und das Charismatische sind für die Konstitution der Kirche gleichermaßen wesentlich und sie tragen beide – wenn auch auf verschiedene Weise – zu ihrem Leben, ihrer Erneuerung und der Heiligung des Gottesvolkes bei. Aus dieser gottgewollten Neuentdeckung der charismatischen Dimension der Kirche ist, sowohl vor als auch nach dem Konzil, eine einzigartige Entwicklung der kirchlichen Bewegungen und neuen Gemeinschaften hervorgegangen.“ (1)

Welche Hoffnung der Papst auf diese vor ihm versammelten Gemeinschaften setzte und welche Zusage er ihnen gab, macht auch folgendes Zitat deutlich:

„In unserer Welt, oft von einer säkularisierten Kultur beherrscht, die Lebensmodelle ohne Gott verbreitet und für sie wirbt, wird der Glaube vieler Menschen auf eine harte Probe gestellt und oft sogar erstickt und ausgelöscht.
Man empfindet also das dringende Bedürfnis nach einer starken Verkündigung und nach einer soliden und vertieften christlichen Bildung.
Wie nötig sind doch heute reife christliche Persönlichkeiten, die sich ihrer Identität als Getaufte, ihrer Berufung und ihrer Sendung in der Kirche und in der Welt bewusst sind! Wie nötig sind doch heute lebendige christliche Gemeinschaften!
Und hier sind sie, die Bewegungen und die neuen kirchlichen Gemeinschaften: Sie sind die vom Heiligen Geist bewirkte Antwort auf diese dramatische Herausforderung gegen Ende des Jahrtausends.
Ihr seid diese Antwort der Vorsehung.“
(2)

Chiara Lubich war wie elektrisiert von diesen Worten des Papstes. Peter Wolf (3), der Generalrektor des Schönstatt-Instituts der Diözesanpriester berichtet:„Gerade von diesem Signal und dem Wunsch des Heiligen Vaters hat sich Chiara Lubich, die Gründerin der weltweiten Fokolar-Bewegung, besonders ansprechen und treffen lassen. Hatte der Papst damit doch ihr ureigenes Charisma berührt, das sie zusammen mit ihrer Bewegung seit vielen Jahren immer klarer als ‚Charisma der Einheit‘ erfahren und auf vielen Ebenen bewährt hat. Noch während dieser Vigilfeier verständigte sie sich mit Prof. Andrea Riccardi, dem Gründer von San Egidio und mit Salvatore Martinez, dem Leiter der Charismatischen Gemeinschaften in Rom darauf, sich für dieses Anliegen des Papstes zu engagieren. Zusammen haben sie seither immer wieder die Initiative ergriffen, verschiedene Gemeinschaften einzuladen, um miteinander Pfingsten 1998 nachzueifern. ... In diesem Kontext sind auch das große Treffen von Speyer mit Repräsentanten von 41 Gemeinschaften aus ganz Europa und der Besuch von Chiara Lubich und Andrea Riccardi in Schönstatt zu werten.“

Dieser Besuch ereignete sich am 10. Juni 1999 in Schönstatt.

Aus den gemeinsamen Gesprächen der verschiedenen Charismen, die jetzt regelmäßig in Rom stattfinden, hat sich ein tiefer Erfahrungsaustausch zwischen den Gründern dieser Gemeinschaften entwickelt, der seit dem Jahre 2000 auch führende Vertreter evangelischer geistlicher Gemeinschaften mit einbezieht. Aus der an Pfingsten 1998 entstandenen Initiative und Geistlichen Gemeinschaften hat sich dann das Projekt „Miteinander für Europa“, Stuttgart 8. Mai 2004 entwickelt, bei dem etwa 10.000 Christen aus ganz Europa sich in der Eberhard-Schleyer-Halle erwartet werden, um sich feierlich und gemeinsam zu verpflichten der großen europäischen Union darüber hinaus ganz Europa aus dem Evangelium kommende Impulse zu geben.

Aus dem Ja auf dem Petersplatz 1998 entwickelte sich ein kräftiger Impuls mitten in die Kirche und die Gesellschaft Europas.

2. Das marianische Profil aus der Sicht des Papstes

Wir gehen noch einmal einen Schritt zurück. Im Jahre 1987 hat Johannes Paul II. eine weithin beachtete Rede an die römische Kurie gehalten. Er sprach von dem Platz Marias in der Kirche. Bei dieser Gelegenheit vollzog der Papst praktisch so etwas wie eine kopernikanische Wende, weil er an die erste Stelle der Kirche nicht das Amt stellte, sondern die Liebe. Dabei unterschied er zwischen dem Charisma von Maria und dem Charisma des Petrus.

Deutlich sagte der Papst:
„Maria, die Immaculata, geht allen voran, auch dem Petrus und den Aposteln. Wie gut hat doch ein zeitgenössischer Theologe (hier spielte der Papst auf Hans Urs v. Balthasar an) Maria die Königin der Apostel genannt, die keine apostolische Vollmacht beansprucht. Sie hat eine andere Vollmacht und noch mehr. Denn die Jungfrau Maria ist der Archetyp der Kirche durch ihre göttliche Mutterschaft. Und die Kirche soll wie Maria, Mutter und Jungfrau sein. Die Kirche lebt von diesem authentischen marianischen Profil, von dieser marianischen Dimension. Dieses marianische Profil ist mindestens, wenn nicht noch mehr, ebenso fundamental und charakteristisch für die Kirche wie das petrinische Profil, dem jenes marianische Profil zutiefst verbunden ist. Die Verbindung zwischen diesen beiden Profilen der Kirche, jenem marianischen und jenem petrinischen ist ganz eng, tief und komplementär, wenn auch das erste, nämlich das marianische dem petrinischen vorangeht, sowohl im Heilsplan Gottes als in der Realität der Zeit. Das marianische Profil ist größer und herausragender, reicher an persönlichen und gemeinschaftlichen Implikationen. Im Lichte dieses marianischen Profils sollen wir alle leben. Maria geht uns allen voran, so wie sie auch der gesamten Kirche vorangeht, für die wir leben. Sie möge uns helfen, diesen Reichtum, der für uns, so möchte ich sagen, lebensnotwendig und entscheidend ist, immer besser zu entdecken und immer authentischer zu leben. Die Aufmerksamkeit auf Maria und auf ihr Beispiel möge uns immer mehr hinführen zu einer Liebe und zärtlichen Offenheit für die Stimme des Geistes.“ (4)

In dieser Rede des Papstes an die römische Kurie erscheint Maria wie eine Form, die die Kirche von innen her erbildet und alle kirchlichen Aufgaben umfasst. Als Mutter des fleischgewordenen Wortes hat Maria in einem gewissen Sinn die Fähigkeit, jede Berufung und jede kirchliche Mission zu tragen, insofern sie Ausdrucksweisen des einzigen Wortes Gottes sind.

3. Das marianische Prinzip bei Hans Urs von Balthasar

Im Hintergrund dieser Rede des Papstes steht ein Text von Hans Urs von Balthasar, den dieser bereits 1974 in seiner kleinen Schrift „Der antirömische Affekt“ veröffentlicht hat. Um das marianische Prinzip der Kirche besser zu verstehen, sei es nötig, das Gesamt jener Personen zu sehen, die Jesus in seinem irdischen Leben umgeben hätten: Petrus, Johannes, Jakobus, Paulus, Johannes d. T., Maria Magdalena, die Schwestern von Bethanien und eben auch Maria, die Mutter Jesu. Von Balthasar sieht in diesen Personen bestimmte Sendungen und Aufgaben der Kirche, die fortdauern.: Petrus z. B. repräsentiere die Leitung und das Amt, Johannes die Liebe, Paulus die Neuheit und die Freiheit im Geist, Jakobus die Tradition und die Treue zu ihr. So habe denn auch Jakobus den Vorsitz gehabt beim Apostelkonzil in Jerusalem, auf dem das Problem der Heidenmission positiv entschieden wurde. In diesen Personen sind also die fundamentalen Dimensionen der Kirche enthalten. Interessant ist dabei, dass es in der Ewigkeit nur noch die marianische Dimension der Liebe gibt; denn dort braucht es keine petrinische Leitung, keine Sicherung von Tradition durch Jakobus und keine Verteidigung der Freiheit im Sinne von Paulus.

Balthasar beschreibt die Mission und Aufgabe dieser Personen um Jesus so, dass alle zusammen jene Kirche sind, in deren Mitte sich Christus gegenwärtig zeigt Gleichzeitig sei ihnen auch etwas charakteristisch, nämlich ihre Einheit, so dass alle diese Dimensionen in einem wechselseitigen und, wie man theologisch heute sagt, perichoretischen Zusammenhang stehen. In dieser Sicht ist Maria nicht nur eine Dimension neben den anderen, sondern sie ist eine Dimension, die alle anderen enthält. Um sozusagen grafisch die Pluralität und Einheit dieser verschiedenen Ausdrucksweisen von Kirche darzustellen, zeichnete von Balthasar eine große Ellipse um die Funktionen von Petrus, Johannes, Jakobus und Paulus herum, um anzudeuten, dass dieses Maria ist, die alle anderen Sendungen umfasst. So stellt sich langsam jenes Profil heraus, das wir das marianische Prinzip in der Kirche nennen können.

Das marianische Profil umfasst bei Balthasar verschiedene Momente: Das Ja der Jungfrau zum Geheimnis Gottes (Ancilla Domini), die bräutliche Antwort auf das WORT, die die Menschwerdung ermöglichte (sponsa verbi) und die fortdauernde Aufgabe Marias als Mutter der Kirche (Mater dei). Von Balthasar arbeitet dann die Bedeutung zweier Prinzipien besonders heraus, das petrinische Prinzip und das marianische Prinzip, die beide in gleicher Weise der Kirche inhärent sind und sich gegenseitig ergänzen. Das petrinische Prinzip bezeichnet die Hierarchie, die Strukturen der Kirche und ihre Sakramente, sozusagen ihren objektiven Geist der Heiligkeit wie er durch die Schrift, die Sakramente, den pastoralen Dienst bis hin zur kirchlichen Ordnung sich schenkt. Das marianische Prinzip bezeichnet dann in diesem Sinne subjektiv genannten Geist oder die subjektive Heiligkeit, die in Maria gegenwärtig ist und die in den Heiligen der Kirche in beeindruckender Weise durch die Jahrhunderte hindurch zum Ausdruck kommt.

Das marianische Prinzip bezeichnet die gelebte Liebe sowohl in den kirchlichen Aufgaben und auch in der Heiligkeit des Alltags. Beide Prinzipien sind koextensiv mit der Kirche und beide sind Charismen, die vom Geist der Kirche geschenkt werden. So kann man sagen, dass das Volk Gottes dem petrinischen Prinzip „untersteht“, insofern das Amt die Funktion der Leitung hat, der Unterscheidung der Geister, als Garant des Leidens der Kirche in der Wahrheit. Auf der anderen Seite „untersteht“ das petrinische Prinzip dem marianischen, weil es seinen Dienst nur leisten kann, wenn es ganz in der Liebe ist, eben im marianischen Prinzip verankert ist.
So wird die Beziehung zwischen dem marianischen und petrinischen Prinzip zu einem dynamischen Kreislauf in der Kirche, deren Leben ja Liebe ist und Teilnahme am Leben des Dreifaltigen Gottes, der ebenfalls Liebe ist.

Im Blick auf diese Aussagen von Balthasars konnte Chiara Lubich kürzlich schreiben: „Die erste Ausgießung des Heiligen Geistes ist jene des gekreuzigten Jesus auf Maria und Johannes zu Füßen des Kreuzes. Dort entsteht die marianische Kirche, die Kirche der Liebe. Aber auch die institutionelle Kirche hat ihren Ursprung gerade in dieser Liebe des marianischen Prinzips. Darum fragt Jesus den Petrus: „Liebst du mich?“ (Joh 20,10). Ja – so sagt Chiara Lubich – die Kirche als Ganze ist gegründet auf der Liebe“.

4. Konsequenzen bei von Balthasar

Von Balthasar leitet von diesem Blick auf das marianische Prinzip von Kirche einige Konsequenzen ab. Das gelebte marianische Prinzip in der Kirche kann z. B. helfen, das Risiko eines Superaktivismus zu überwinden und sich der Gefahr zu erwähren, sich einseitig und zu stark auf Fragen struktureller oder juridischer Natur in der Kirche zu beschränken. Ohne das marianische Prinzip riskieren wir, die Kirche rein funktionalistisch zu sehen und zu gestalten, sozusagen ohne Seele, eine perfekte Maschine, ohne jeden Moment von Pause, was ja der Natur der Kirche total entgegensteht. Wo das marianische Prinzip fehlt oder nicht zur Geltung kommt, setzt sich Polemik, Kritik, Bitternis, Humorlosigkeit und schließlich auch Langeweile durch, so dass die Leute in Scharen von einer solchen Kirche weglaufen. (5)

Eine weitere Folge des gelebten marianischen Prinzips – immer noch nach Balthasar - ist eine neue Weise, Kirche zu sein, wo die Liebe den rechten Platz findet, wo die Beziehungen zwischen den Personen und den verschiedenen Berufungen vom Geist der Gemeinschaft und Liebe geprägt sind, wo der Reichtum der Charismen anerkannt wird und die Schönheit der Kirche in ihrer harmonischen Pluralität zum Vorschein kommt.

Darüber hinaus gibt das marianische Prinzip der Rolle der Laien durch die Wiederentdeckung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen und deren spezifischen Mission auf den unterschiedlichsten Feldern der heutigen Gesellschaft (Wirtschaft, Medien, Ökologie, Politik) eine neue Bewertung. So kann auch durch das marianische Prinzip, gemäß von Balthasar, eine Idee, die noch in vielen Köpfen der Katholiken steckt, korrigiert werden, dass eben nicht die Hierarchie im Zentrum der Kirche steht und die Laien folglich am Rand, sondern dass Christus und sein Evangelium die Mitte der Kirche ausmacht.

Hier können wir ein erstes Ergebnis unserer Überlegungen festhalten:
Das marianische Profil der Kirche zeigt sich in den großen Ordensstiftern und Heiligen der Kirche, im Charisma der Märtyrer, der Wüstenväter, von Heiligen wie Benedikt, Franziskus und Klara, Ignatius, Theresia von Avila und Johannes vom Kreuz, in deren Ordensgemeinschaften und in all den vielen Unbekannten, die aus deren Geist heute leben – und ebenso in den Charismen von heute, aus denen die Geistlichen Gemeinschaften, die in der romanischen Welt Kirchliche Gemeinschaften heißen, hervorgegangen sind. Es gab und gibt in der Kirche einen großen Reichtum an solchen Charismen, die unter dem Blickwinkel des marianischen Profils neu ins Bewusstsein der Kirche treten und immer mehr wahrgenommen werden.
Und: Das Petrinische und das Marianische müssen sich gegenseitig durchdringen.

5. Das marianische Profil der Kirche aus der Sicht der Spiritualität der Einheit

Am Anfang des Weges von Chiara Lubich stehen Studenten-Exerzitien in Loreto, wo das Haus von Nazareth verehrt wird. Bei den häufigen Besuchen in diesem Heiligtum versteht sie, dass sie vom Leben der Hl. Familie fast unmittelbar angezogen wird. Später sagt sie einem Priester, der sie nach ihrer Berufung fragt, dass sie einen „Vierten Weg“ gehen wolle wie die Familie von Nazareth: Ihren Weg sieht sie nicht im Kloster, nicht in der Ehe, nicht allein in der Welt als gottgeweihte Jungfrau. Denn wenn sie im Kloster sei, sei sie nicht in der Welt; wäre sie verheiratet, fehlte ihr ein Stück Radikalität; lebte sie wie in einem Säkularinstitut, hätte sie nicht die ständige Gemeinschaft. In der Gemeinschaft jungfräulicher Menschen, die wie die Familie von Nazareth mitten in der Welt lebten, käme für sie all das zusammen. Bei ihren Gebeten in Loreto spürt sie, als wenn ihr gesagt würde, dass sehr viele Menschen ihr folgen würden. Als sie am 7.12. 1943 ganz allein ohne Wissen ihrer Eltern, mit 23 Jahren, ihre Gelübde ablegt, also jetzt vor 60 Jahren, ist es ein Ja zu Gott im Zeichen eines Lebens im Sinne der Familie von Nazareth.

In den Kriegswirren 1943-1945, als ihre Heimatstadt Trient täglich mehrmals bombardiert wurde und sie immer wieder den Bunker aufsuchte, entdeckt sie mit ihren Gefährtinnen die Bibel, die Hl. Schrift, das Wort Gottes – und dazu die Tatsache, dass Wort Gottes die Kraft gibt, unmittelbar den Alltag in Liebe zu verwandeln. Sie entdeckt, dass sie mit dem Ja zum Wort Gottes auf der Spur Mariens ist. Ihr kommt diese Zeit vor wie eine Zeit der Verkündigung, dass nämlich ihr und ihren Mitstreiterinnen in der kleinen Mädchengruppe fast ebenso intensiv wie Maria durch den Engel Gabriel das Evangelium verkündet wurde und dass sie ein kräftiges Ja mit ihrem Leben zu dieser Botschaft sagten. Es war das gemeinsame Ja dieser Mädchen zu Gott durch das Leben nach dem Wort. Und wie Maria im Magnificat, das nur aus Sätzen des AT besteht, mit dem Wort Gottes bekleidet erscheint, so ließen sie sich auf das Wort Gottes ein, das Lebenswort wurde ihre Tracht.

Ja, das Wort machte es möglich, dass sie sich als versammelt im Namen Jesu erfuhren. Sie entdeckten Mt 18, 20, das die Realität der Gegenwart des Auferstandenen Jesus in der Mitte derer, die sich in seinem Namen versammeln, bezeugt. Sie setzten alles daran, dass sich diese Gegenwart Jesu schenkt und leben ganz entschieden allein dafür, ja sie sehen darin ihre erste Lebenspriorität als Gruppe. Sie machen so die Erfahrung, dass sie auf diese Weise wie Maria den lebendigen Jesus zur Welt bringen können. Sie erhalten als Laien mitten in der Kirche unmittelbar Zugang zum Wort und zur Gegenwart des Herrn unter ihnen und spüren an der Ausstrahlung und Kraft, die sich aus seiner Gegenwart ergibt, dass sie eine lebendige Zelle am Leib Christi sind, eine marianische Zelle.

In diesem intensiven Leben, das sich schnell in Trient ausbreitet und vom Bischof bald mitgetragen wird, bildet sich bald die Gemeinschaft von Frauen und später auch von Männern heraus, deren Lebensgemeinschaft von den Leuten in Trient spontan Fokolar genannt wird. In diesen Gemeinschaften reift die Erkenntnis, dass jede und jeder von ihnen seine je eigenen Gnadengaben empfängt, unterschiedliche, aber für dass Leben als Kirche im Kleinen unerlässliche Gaben und Charismen (für die Gütergemeinschaft, das Apostolat, die Spiritualität, die Gesundheit, das Wohnen, das Studieren, die Kommunikation und die Leitung). Diese helfen in ihrem Zusammen mit, gemeinsam den Christus in der Mitte darzustellen. So erleben sie ganz konkret, dass der Auferstandene, den sie unter sich glauben und leben, ihre Gruppe führt und vieles unmöglich Scheinende möglich macht.

Es ist, als ob sie immer tiefer in das christliche Mysterium hineingeführt würden. So fällt der Blick eines Tages auf den Gekreuzigten und Verlassenen Jesus und auf Maria unter dem Kreuz. Maria desolata, die Verlassene unter dem Kreuz, erschloss sich als jene Gestalt, die alles verliert und alles empfängt. Maria verliert im Tod des Gekreuzigten ihren Sohn, ihr ein und alles, den Sinn ihres Lebens. Sie wird in das Nichts gestürzt, auf den Nullpunkt gesetzt.

Gerade da aber, an diesem Platz des Nichts und der Leere, kann sie neu sich auf Gott einlassen und neu empfangen. Sie empfängt in Johannes die ganze Menschheit und wird Mutter der Menschheit. Sie verharrt mit den Aposteln und Jüngern im Abendmahlssaal und empfängt mit diesen an Pfingsten den Heiligen Geist. Von dieser Maria lernt Chiara, dass das Nichtsein tiefstes Sein ist, von Gott her gesehen. In dieser Leere ist sie mit den Jüngern das Gefäß, das Gott und sein Wort und Geist mit großer Bereitschaft aufnimmt. Mit dieser Maria bekommt Chiara Lubich einen besonderen Blick für das Geheimnis des Gekreuzigten, den sie als den Verlassenen ganz besonders in ihr Herz geschlossen hat.

Diese Liebe zum Gekreuzigten habe ich durch Maria, vermittelt vom Fokolar, gelernt.
Wenn er mir begegnet, möchte ich aufmerksam auf das hören, was er mir sagen will; denn er hat immer neue Dinge zu sagen. Er bedient sich aller Umstände, um mich und auch die Kirche zu formen, auch um die Ecken meines Charakters abzuschleifen, um mich für ihn zu öffnen. Das einzig Wichtige ist, alle diese Umstände wie Seine Stimme zu nehmen. Alles das, was um mich herum geschieht, geschieht für mich, ist ganz ein vom Herzen kommender Ausdruck der Liebe Gottes zu mir. Wenn ich so mit den Augen und dem Herzen Mariens auf die Kirche schaue, z.B. auf die weglaufenden Menschen, auf die leeren Seminare, auf die belastenden Probleme der Pfarreinzusammenlegung, finde ich Ihn, der sich im Kreuz mit unserem Schmerz und Leid verbunden hat. Und wenn ich Ihn dann erkenne und anrede, wenn ich ihn dann umarme, dann tut er das, was er am Kreuz Maria und Johannes schenkte: Er schenkt seinen Geist.

Hier liegt ein Schlüssel für das Leben im Fokolar und in der Kirche heute. Wo Menschen das „Nichts“ ihrer persönlichen oder ihrer kirchlichen Situation mit Maria unter dem Kreuz leben, kann die Kraft des „Allerhöchsten diese Menschen überschatten“ und neues göttliches Leben in der Kirche wachsen lassen.

6. Kirche als Schule der Gemeinschaft durch die gelebte marianische Dimension

Fassen wir noch einmal zusammen: Die Bedeutung des marianischen Profils für die Kirche ist6 nicht zuletzt durch Johannes Paul II. neu entdeckt und ganz öffentlich ins Spiel gebracht worden. Es gibt zudem Spiritualitäten, die sich die Förderung und Entwicklung der marianischen Dimension in der Kirche und in der Welt zur Aufgabe gemacht haben. Einen solchen Dienst leistet auch die Fokolar-Bewegung durch ihre Spiritualität der Einheit.

Welche konkreten Folgen es für die Kirche hat, wenn sie in ihren Gemeinden und Verbänden und Gemeinschaften, ja auch in den Orden das marianische Profil schärft, zeigt der zentrale Abschnitt Nr. 43 im Apostolischen Schreiben von Johannes Paul II. „Novo millennio ineunte“(6), in dem jene Spiritualität der Gemeinschaft in konkreten Schritten vorgestellt wird, die aus der Kirche eine Schule der Gemeinschaft macht.

Es lohnt sich, den Text des Schreibens im Einzelnen anzuschauen. Es ist ein Schulungs- und Lebensprogramm. Mir ist klar geworden, dass die Kirche, wenn sie mit dieser marianischen Dimension gelebt wird, sie jene Schule der Gemeinschaft werden kann, wie sie Johannes Paul II. für das neue dritte Jahrtausend erwartet.

Eine Spiritualität der Gemeinschaft

43. Die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen, darin liegt die große Herausforderung, die in dem beginnenden Jahrtausend vor uns steht, wenn wir dem Plan Gottes treu sein und auch den tief greifenden Erwartungen der Welt entsprechen wollen.

Vor der Planung konkreter Initiativen gilt es, eine Spiritualität der Gemeinschaft zu fördern, indem man sie überall dort als Erziehungsprinzip herausstellt, wo man den Menschen und Christen formt, wo man die geweihten Amtsträger, die Ordensleute und die Mitarbeiter in der Seelsorge ausbildet, wo man die Familien und Gemeinden aufbaut.

Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet vor allem, den Blick des Herzens auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu lenken, das in uns wohnt und dessen Licht auch auf dem Angesicht der Brüder und Schwestern neben uns wahrgenommen werden muss.

Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet zudem die Fähigkeit, den Bruder und die Schwester im Glauben in der tiefen Einheit des mystischen Leibes zu erkennen, d. h. es geht um „einen, der zu mir gehört“, damit ich seine Freuden und seine Leiden teilen, seine Wünsche erahnen und mich seiner Bedürfnisse annehmen und ihm schließlich echte, tiefe Freundschaft anbieten kann.

Spiritualität der Gemeinschaft ist auch die Fähigkeit, vor allem das Positive im anderen zu sehen, um es als Gottesgeschenk anzunehmen und zu schätzen: nicht nur ein Geschenk für den anderen, der es direkt empfangen hat, sondern auch ein „Geschenk für mich“.

Spiritualität der Gemeinschaft heißt schließlich, dem Bruder „Platz machen“ können, indem „einer des anderen Last trägt“ (Gal 6,2) und den egoistischen Versuchungen widersteht, die uns dauernd bedrohen und Rivalität, Karrierismus, Misstrauen und Eifersüchteleien erzeugen.

Machen wir uns keine Illusionen: Ohne diesen geistlichen Weg würden die äußeren Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden zu seelenlosen Apparaten werden, eher Masken der Gemeinschaft als Möglichkeiten, dass diese sich ausdrücken und wachsen kann.

Jede Gemeinde, oder sagen wir besser jedes Leitungsgremium und jede Lebensgruppe in Gemeinde und Kirche, bis hin zum Domkapitel und zum Priesterrat oder Diözesan-Pastoralräten könnten anhand dieses Textes jene marianische Dimension lernen, die für die Kirche als ganze lebensnotwendig ist.

7. Abschluss konkret: Das marianische Profil macht die Kirche schön

Ein Zitat aus dem Apostolischen Schreiben „Rosarium Virginis Mariae“ soll unterstreichen, dass es beim marianischen Profil um nichts anderes geht, als dass Christus zum Vorschein kommt als Offenbarung und Offenbarer Gottes. So dienst das Petrinische und das Marianische diesem einen Ziel, „Christus zu lernen“ und ihn als Fundament und Mitte des Lebens zu erfahren, sei es beim einzelnen oder bei den Gemeinden und bei der Kirche.

„Christus von Maria lernen

14.Christus ist der Lehrer schlechthin, der Offenbarer und die Offenbarung. Es genügt nicht nur, die Dinge zu lernen, die Er gelehrt hat, sondern „ihn selbst zu lernen“. Gibt es darin eine Lehrerin, die uns mehr sagen könnte als Maria? Wenn auf der göttlichen Seite der Geist der innere Meister ist, der uns zur Fülle der Wahrheit Christi führt (vgl. Joh 14,26; 15,26; 16,13), kennt unter den Geschöpfen niemand besser als sie Christus; niemand kann uns besser als seine Mutter in eine tiefe Kenntnis seines Geheimnisses einführen.“ (7)

So wird auch die Gefahr gebannt, dass die Kirche in ihren Strukturen nur als totes, wenn auch tragendes Skelett erfahren wird oder in einer bloß spirituellen Dimension die Erdenhaftung und Konkretheit verliert. Kommen aber beide Profile zusammen, da petrinische und marianische, dann wird die Kirche sogar schön und anziehend, ein Haus, in dem alle Generationen gern wohnen möchten.

So wird auch die Gefahr gebannt, dass die Kirche in ihren Strukturen nur als totes, wenn auch tragendes Skelett erfahren wird oder in einer bloß spirituellen Dimension die Erdenhaftung und Konkretheit verliert. Kommen aber beide Profile zusammen, da petrinische und marianische, dann wird die Kirche sogar schön und anziehend, ein Haus, in dem alle Generationen gern wohnen möchten.

Durch die marianische Dimension tritt ein Aspekt der Kirche besonders hervor, der mit der Schönheit zu tun hat und die Kirche in ganz frischer Weise wieder anziehend macht. In einem medialen Zeitalter kann es nur hilfreich sein, wenn die Kirche nicht nur als Hüterin der Wahrheit und der Einheit erlebt wird. Das marianische Profil lässt das ganze Potential an Weisheit und Schönheit der Kirche, eben ihre gottgeschenkte Herrlichkeit hervortreten, wie sie Peter Klasvogt in seinem mir unvergesslichen Vortrag anlässlich meines 40jährigen Priesterjubiläums so treffend geschildert hat. (8)

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(1) zitiert nach: Peter Wolf (Hrsg.), Lebensaufbrüche – Geistliche Bewegungen in Deutschland, Vallendar 2000, S. 19-20

(2) a. a. O., S. 57-58

(3) a. a. O., S. 10

(4) eigene Übersetzung

(5) vgl. Hans Urs von Balthasar, Klarstellungen, Freiburg 1971, S. 72

(6) in: NOVO MILLENNIO INEUNTE; 6. Januar 2001, Apostolisches Schreiben von Johannes Paul II., hrg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 150, Bonn 2003, S. 39-40.

(7) in: ROSARIUM VIRGINIS MARIAE, 16. Oktober 2002

(8) P. Klasvogt, Die Bedeutung Gottes für die Kirche, unveröffentlichtes Manuskript, Münster 2003

Vortrag im Priesterseminar in Paderborn, Dezember 2003

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