Wie kann die Kirche einen neuen Platz in der Gesellschaft finden?
Wir erlebten kürzlich das Ringen der Bischofssynode angesichts der Bedrohung der Familie durch einige Tendenzen der modernen Gesellschaft. Dazu gehören, wie in den letzten Wochen häufiger zu lesen war, die Schwächung des Glaubens und der Werte, der Individualismus, die Verarmung der Beziehungen und ein frenetischer Stress, der das Nachdenken ausschließt.
Auch wenn die Mitte unserer Dörfer und vieler Städte von Kirchengebäuden geschmückt sind, befindet sich die Kirche als Gemeinschaft keineswegs in der Mitte der Gesellschaft, geschweige denn dass man von ihr Wesentliches erwartet. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn wir sehen müssen, dass viele junge Erwachsene und Jugendliche sich mehr und mehr dem kirchlichen Leben entfremden. Hinzu kommen Phänomene wie Gläubigenmangel, Rückgang an Priester- und Ordensberufen, Richtungskämpfe in der Kirche, immer neue Skandale. Dies alles führt zu einem Ansehensverlust und zum Schwinden von Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Für nicht wenige Zeitgenossen ist der Zugang zur Kirche und zu Gott verschüttet. Darum ist die Suche nach Wegen, wie die Kirche einen neuen Platz in der Gesellschaft finden kann, einfach dringend. Noch einmal: Lassen wir diese Frage an uns heran?
Papst Franziskus ruft uns seit über einem Jahr auf, herauszugehen, an die Ränder zu gehen, zu den Armen. Zu Beginn der Bischofssynode hat er die Synodalen aufgerufen, den Schrei des Volkes zu hören. Er hat unterstrichen, dass die Kirche herausgehen soll, dorthin, wo die Not ist, wo die Menschen sind, die leiden. Bei der Vigil auf dem Petersplatz in Rom, am Vorabend der Synode, am 4. 10. 2014, sagte er: "Lasst euch von der Not der Menschen imprägnieren!". Von diesem Aufruf ausgehend möchte ich nach einer neuen Positionierung der Kirche in unserer Gesellschaft fragen.
Wir stellen heute die Frage, wie unsere Kirche in der Gesellschaft einen neuen Platz finden kann. Um welche Kirche geht es da? Wie muss eine Kirche beschaffen sein, die einen neuen Platz in der Gesellschaft findet? Es lohnt sich, gemeinsam einen Blick auf die Kirche zu werfen.
Das deutsche Wort "Kirche" kommt vom griechischen "ekklesia kyriaké", die um den HERRN versammelte Gemeinde. Interessant ist, dass die westeuropäischen Sprachen für das Wort Kirche die griechischen Worte unterschiedlich rezipiert haben. Die Deutschen haben sich an das Wort "kyriakè" festgemacht und das Wort "Kirche" gebildet, ähnlich die Engländer (church) und die Skandinavier (Kirke). Die romanischen Sprachen bezogen sich auf "ekklesia" und nannten sie daraufhin chiesa, église, ecclesia.
Unser deutsches Wort "Kirche" betont den KYRIOS. Kyriaké bezeichnet dann Personen, die auf den HERRN bezogen sind, die dem HERRN gehören. Schauen wir noch genauer das Wort KYRIOS an. Es ist ein christologischer Hoheitstitel. Johannes verwendet den Titel nach der Auferstehung Jesu. Thomas bekennt: "Mein Herr und mein Gott!". Der jünger, den Jesus liebte, erkennt im Unbekannten am Ufer den HERRN! Hier machen die Exegeten darauf aufmerksam, dass bei der Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Griechische, etwa um 70 vor Christus in Alexandrien, sich die Übersetzer entschieden, den hebräischen nicht aussprechbaren Gottesnamen "Jahwe" mit KYRIOS, der HERR, zu übersetzen. Wenn also Jesus als HERR bezeichnet wird, dann wird in diesem Titel seine Gottessohnschaft bezeugt.
Ich komme zurück zum Wort Kirche: Mit "Kirche" werden also in diesem Zusammenhang Menschen bezeichnet, die gemeinsam Jesus als den HERRN bekennen, die den Auferstandenen als ihren HERRN bezeugen und darum um Seine Gegenwart unter ihnen wissen, wie es Mt 18,20 bezeugt.
Was kann dies für uns Christen bedeuten? Wir Christen, die wir Kirche sind, brauchen ein neues Bewusstsein für unsere Würde. Wir gehören zu ihm, wir glauben den HERRN in unserer Mitte. Von der romanischen Sprache her kommend, können wir auch sagen: Wir sind die Versammelten, die um den HERRN Versammelten. Wir sind die, die HERR sendet. Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich Euch.
Es sind die Versammelten, die Gesammelten. Damit ist eine Kirche gemeint, die sich um den HERRN sammelt und wegen IHM sich um seine Gesandten sammelt, die Apostel, die Bischöfe den Papst. Sie lassen sich hineinstellen in die Ursendung der Kirche, die in Jesus ihren Anfang nimmt (Der Geist des HERRN ruht auf mir - Lk 4, 17-19), sich fortsetzt in der Aussendung der 72 Jünger(Das Reich Gottes ist euch nahe - Lk 10, 1-16) und in der Aussendung der Jünger bei Mt 28, 16-20 mündet in dem Ziel, "damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und ich in ihnen" (Joh 17, 26).
Eine Kirche, die nach draußen gehen soll, die ihren Platz an der Peripherie sucht, ist eine Kirche, die sich neu aufstellt.
Eine Kirche, die einen neuen Platz in der Gesellschaft sucht, muss von Jesus her kommen, von ihm gesammelt und gesandt sein. Es ist das Gottesvolk, das sich um den Bischof schart, das sich in der Eucharistie mit dem Wort Gottes und dem Leib und Blut des HERRN ernährt und so die innere Form erhält, die sie befähigt, sich allen Menschen zuzuwenden und zu den Armen und Gequälten zu gehen.
Wer kann dabei helfen, wenn die Christen der Kirche so herausgehen, wie es Papst Franziskus so sehr einschärft?
Hier ist ein Blick auf Maria eine große Hilfe. Denn Maria steht unter dem Kreuz, unter dem Gekreuzigten. Johannes steht neben ihr. Beide haben sich zu IHM hin bewegt, trotz aller Ängste und trotz des mannigfachen Verrats in ihrem Umfeld.
Dies könnte für die Kirche heute ein starkes kräftiges Zeichen sein: dorthin gehen, wo Er ist - und ER ist dort, wo die Menschen leiden. Die Heiligen haben es uns vorgelebt.
Es ist weiterhin entscheidend, dass die Christen dorthin, wo der Herr leidet, als Kirche hingehen, als "Zwei oder Drei". Es können einzelne sein, die diese Kirche darstellen, es können Gruppen von Menschen sein, die sich auf den Weg machen.
Auch Priester können sich da neu auf den Weg machen, vielleicht pro Monat oder Woche einen Hausbesuch bei einer "armen" Familie... einplanen.
Sie können ihre Gemeindemitglieder darin bestärken, die schon bestehenden Besuchsgruppen zu verstärken und Besuche an den Rändern der Gemeinde zu machen. Sie brauchen jedoch dann auch eine gute Begleitung, auch in dem Sinn, dass Nöte, die so wahrgenommen werden, weiter "bearbeitet" werden. Solche Besuche verlangen eine Nacharbeit, auch einen Austausch und geistliche Vertiefung, dass eben wirklich der HERR in diesen Besuchen mitgeht.
Es lassen sich auch kleine "Wallfahrten" denken etwa zu einem Gefängnis, zu einem Krankenhaus von besonderer "Schwere", oder zu einer Moschee oder zu gerade eingetroffenen Asylanten. Es müsste herausgearbeitet werden, was diese Menschen uns Christen geben können, welcher geistliche Reichtum bei ihnen zu finden ist. Gerade dabei könnten die Gemeinden auch praktisch von Papst Franziskus lernen. Er hat seine Besuche im Gefängnis, in Lampedusa oder im Kinderkrankenhaus richtig vorbereitet. Solches muss vorbereitet werden, mehr als eine normale Wallfahrt. Für solche Aktivitäten kann vonseiten der Caritas Begleithilfe kommen.
Es muss neu gelernt werden, wie in solchen Begegnungen sich der HERR zeigt, damit es nicht nur beim Gestus bleibt wie manchmal beim Martinszug. Es entwickeln sich Gespräche bei diesen Begegnungen. Es wird möglich, direkt von Jesus zu sprechen, der uns heilt, der uns liebt, der uns nicht verlässt.
Mir ist dies bei Besuchen der Fazenda da Esperanza begegnet, dass ich von jungen Leuten, die ich dort traf, den Impuls mitnahm, selber neu ins Evangelium einzusteigen. Dort leben Drogenabhängige, junge Erwachsene, die miteinander aus der Kraft des jeden Morgen gelesenen Tagesevangeliums den Impuls aufnehmen, am Tag diese Worte Jesu zu leben und so diese auf ihr gemeinschaftliches Leben anzuwenden. Das ins Leben übersetzte Evangelium lässt sie aus der Sucht herausfinden.
Ab und zu treffe ich auf Bürgermeister, die deshalb die Kirche schätzen, weil sie Gemeinden erleben, die das Gemeinwohl, das Wohl der anderen, suchen.
An Maria, wie sie in den Evangelien gezeichnet wird, fällt besonders auf, dass sie zuhören kann; sie hört zu, sie nimmt wahr und drängt sich nicht auf. Das wird besonders deutlich bei den Vorgängen bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2). Christen können wie Maria erspüren, wenn der Wein ausgeht, wenn die Freude verschwindet, wenn der Aggressionspegel ansteigt.
Maria kommt auch als die Mutter der missionarischen Kirche in den Blick. Sie lässt uns heute den Geist der neuen Evangelisierung gut verstehen. Zusammen mit den Aposteln erwartet sie den Geist Gottes. Sie sitzt inmitten der Jünger (Apg 1,14), und so ist sie an der missionarischen Explosion an Pfingsten beteiligt (Vgl. EG 284).
Manche Mutter schafft in ihrer Familie, gerade bei den Heranwachsenden, eine Atmosphäre des Zuhörens und Wartens, die dem Reich Gottes die Bahn öffnet. Ich habe dies bei einer Frau erfahren, die erleben musste, dass ihr Mann und ihre Söhne sich von der Kirche abwandten. Sie lernte langsam immer mehr, dass gerade in dieser Leere, in dieser eigenen Ohnmacht, ihr die Gnade zuwachsen kann. Die Familie begann, die Mutter als Glaubende zu respektieren und zu schätzen.
An dieser Stelle muss auch angesprochen werden, dass die Kirche gerade dann einen neuen Platz in der Gesellschaft finden wird, wenn sie sich auf den Dialog einlässt, so dass aus ihm gegenseitige Achtung, aber auch gesellschaftliche Zusammenarbeit erwächst.
Wo evangelische und katholische Christen aufeinander hören und zusammenarbeiten, wächst ihnen ein neuer Platz in der Gesellschaft zu. Dasselbe ereignet sich im interreligiösen Dialog. Ebenso wichtig ist heute in unserer Gesellschaft der Dialog mit Nichtglaubenden, bei dem wir als Kirche noch ganz am Anfang stehen. Jeder Dialog beginnt mit dem Hören, mit einem Offensein, das vom anderen lernen will, wie es das II. Vatikanische Konzil in Gaudium et Spes zum Ausdruck bringt:
Unbefangen schätzt zudem die katholische Kirche all das hoch, was zur Erfüllung derselben Aufgabe die anderen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in Zusammenarbeit beigetragen haben und noch beitragen.
Zugleich ist sie der festen Überzeugung, dass sie selbst von der Welt, sei es von einzelnen Menschen, sei es von der menschlichen Gesellschaft, durch deren Möglichkeiten und Bemühungen viele und mannigfache Hilfe zur Wegbereitung für das Evangelium erfahren kann (GS 40).
Ich zitiere zwei Spitzensätze. Wenn wir uns auf die Problemfelder der Gesellschaft als kleine christliche Zellen zubewegen, dann werden wir jenes Sakrament, von dem LG 1 spricht:
Christus ist das Licht der Völker. Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündet (vgl. Mk 16,15). Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit. (LG 1)
Wenn unsere Gemeinden die Not des Menschen angehen, entweder gemeinsam als kleine Gruppe oder mit einer klaren bischöflichen Unterstützung, dann ereignet sich, was Gaudium et Spes 1 sagt:
Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.
Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist.
Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden. (GS 1)
Christen, die in dieser Weise herausgehen, werden wie das Salz oder das Licht mit ihrem Leben in der Gesellschaft wirksam sein und den geistlichen Hunger vieler stillen.
Christen, die so sich auf den Weg machen, haben etwas mit der Eucharistie gemeinsam. Sie empfangen nicht nur die Eucharistie, sondern sie bekommen so sehr Anteil am Leib Christi, dass sie ihrerseits ausgeteilt werden mitten in die Gesellschaft hinein. Ohne ein Wort zu sagen, allein durch ihr gemeinsames Tun, werden sie für andere Brot des Lebens, eben Eucharistie.
Wie in den kleinen Kapillaren das Blut im Körper fließt, so kann in solchen Menschen die Liebe Christi sich fruchtbar und heilsam weiterschenken. Wir können verstehen, dass Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben EVANGELII GAUDIUM eine solche Kirche des Heilens beschreibt.
Aber - es braucht unseren Glauben. Wir müssen die Mentalität überwinden, die immer wieder anzutreffen ist, nicht mit dem lebendigen Gott zu rechnen. Papst Franziskus spricht in diesem Zusammenhang von einem beklagenswerten "Pragmatismus des kirchlichen Alltags, der handelt, als gäbe es Gott nicht" (EG 80,83). "Unser Glaube ist herausgefordert, den Wein zu erahnen, in den das Wasser verwandelt werden soll" (EG 86).
Papst Franziskus endet sein Apostolisches Schreiben mit einem neuen Blick auf Maria, die er den Stern der neuen Evangelisierung nennt:
Die Mutter des lebendigen Evangeliums bitten wir um ihre Fürsprache, dass diese Einladung zu einer neuen Phase der Verkündigung des Evangeliums von der ganzen Gemeinschaft der Kirche angenommen werde. Sie ist die Frau des Glaubens, die im Glauben lebt und unterwegs ist, und »ihr außergewöhnlicher Pilgerweg des Glaubens stellt so einen bleibenden Bezugspunkt dar für die Kirche«. Sie ließ sich vom Heiligen Geist auf einem Weg des Glaubens zu einer Bestimmung des Dienstes und der Fruchtbarkeit führen. Heute richten wir unseren Blick auf sie, dass sie uns helfe, allen die Botschaft des Heils zu verkünden, und dass alle neuen Jünger zu Verkündern des Evangeliums werden. Auf diesem Pilgerweg der Evangelisierung fehlen nicht die Phasen der Trockenheit, des Dunkels bis hin zu mancher Mühsal, wie sie Maria während der Jahre in Nazaret erlebt hat, als Jesus heranwuchs: »Dieser ist der Anfang des Evangeliums, der guten, frohen Botschaft. Es ist aber nicht schwer, in jenem Anfang auch eine besondere Mühe des Herzens zu erkennen, die mit einer gewissen „Nacht des Glaubens“ verbunden ist – um ein Wort des heiligen Johannes vom Kreuz zu gebrauchen –, gleichsam ein „Schleier“, durch den hindurch man sich dem Unsichtbaren nahen und mit dem Geheimnis in Vertrautheit leben muss. Auf diese Weise lebte Maria viele Jahre in Vertrautheit mit dem Geheimnis ihres Sohnes und schritt voran auf ihrem Glaubensweg.«
Es gibt einen marianischen Stil bei der missionarischen Tätigkeit der Kirche. Denn jedes Mal, wenn wir auf Maria schauen, glauben wir wieder an das Revolutionäre der Zärtlichkeit und der Liebe. An ihr sehen wir, dass die Demut und die Zärtlichkeit nicht Tugenden der Schwachen, sondern der Starken sind, die nicht andere schlecht zu behandeln brauchen, um sich wichtig zu fühlen. (EG 286-87)
Wie kann die Kirche einen neuen Platz in der Gesellschaft finden? Sie muss zuerst auf Gott und Jesus Christus schauen. Sie muss hinausgehen, gemeinsam, zu den Menschen am Rande. Dort lernt die Kirche, hört sie , nimmt sie wahr, es ist eine neue Schule für die ganze Kirche, auch für die Pfarreien und die Geistlichen Gemeinschaften. So kommt es zum Austausch vieler Gaben.
Vortrag vor der Marianischen Priesterkongregation Augsburg,
im Priesterseminar St. Hiernomymus, 20. Oktober 2014