Maria und die Kirche

1. Aus einer beiläufigen Bemerkung von Erzbischof em. Gunnar Wemann wird uns ein Thema zugespielt. Es war ein Satz von Herbert Lauenroth fast am Ende unseres dritten Treffens im Jahre 2012 im Kath. Bildungshaus Marialund: „Maria ist nur, um Jesus das Leben zu geben“. Dieses Wort, gefallen im Gespräch über den Text von Chiara Lubich "DIE GROSSE SEHNSUCHT UNSERER ZEIT" schlug in unserer damaligen Situation ein wie ein Blitz. Es kam die Frage auf: Ist Maria nicht ein Modell für eine Kirche, die in einer säkularisierten Gesellschaft Jesus bringen will und soll? Auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation der Kirche in Westeuropa ist dieses Thema brennend und hochaktuell.
Nicht wenige Theologen vertreten die Ansicht, dass die Kirche in Westeuropa einen Karsamstag durchlebt. Der Karsamstag, der in der katholischen Kirche keine liturgische Handlung kennt, sondern durch ein Kirchengebäude geprägt ist, in dem der Altar entblößt ist, ohne Kerzen und Blumen, an dem die Türen des Tabernakels als Ort der Eucharistie offen stehen, er ist leer. Dieser Karsamstag zeigt an, dass Gott tot ist, dass Jesus weg ist, dass die Sehnsucht und Hoffnung auf ihn fast verloren gegangen sind. Schon der Theologe Hans Urs von Balthasar hat im Karsamstag diese Leere ausgemacht, dieses Fehlen Gottes, das unsere Zeit auf weite Strecken hin kennzeichnet.

2. Unsere Tagung hier in Stockholm hatte etwas Besonderes, das merkten wir schon am Tag davor beim Besuch des Schwedischen Rates der Kirchen (SRK) in Stockholm. Wir führen in diesen Tagen eine ökumenische Tagung durch, in Kooperation von Fokolar-Bewegung Schweden und Zentrum für Spiritualität in Ottmaring (ZSP). Wir stehen dabei in der Tradition von drei vorangegangenen Treffen.

3. Der Blick auf Maria lohnt sich. Maria gehört zum Heilsplan Gottes. Sie empfängt Jesus, nachdem der Erzengel Gabriel sie nach ihrer Bereitschaft gefragt und sie ihre unbedingte Bereitschaft kundgetan hatte. Aber unter dem Kreuz verliert Maria ihren Sohn. Wir möchten von vornherein klar machen, dass für uns Katholiken Maria keine Ersatzgöttin ist, sie ist für uns auch keine Magna Mater. Im Gegenteil: Maria stellt sich in den Willen Gottes, sie stellt sich in den Bund, den Gott mit seinem Volk Israel geschlossen hat. Dies passiert auch unter dem Kreuz. Maria verliert „Gott“, weil Gott es will - so könnte man es knapp zusammengefasst ausdrücken. Hier liegt für mich der Anknüpfungspunkt für unser Denken über die Kirche und unser Leben als Kirche. Es kommt darauf an, dass wir mitleben, was Maria gelebt hat. Wir lassen
uns darum in diesen Tagen unter das Kreuz der Kirche von heute führen, unter das Kreuz einer Kirche, die gespalten ist, die in ihrem Wirken ohnmächtig und schwach erscheint. Dieses sich „unter das Kreuz der Kirche führen lassen“ tun wir gemeinsam, als Glieder unterschiedlicher Kirchen.

4. In diesen Tagen wollen wir bewusst gemeinsam ein sichtbares Zeichen der Einheit setzten. Wir leben für eine Kirche, die kommt. Wir schauen nicht nach rückwärts, wir wollen nicht alle alten Probleme aufmischen und kontrovers bearbeiten. Wir wollen nach vorne schauen. Wir möchten eine Kirche sein, die als Pilgerin unterwegs ist. Für diesen neuen Weg von zwei Kirchen braucht es, lassen sie es mich so sagen, eine Emmauskompetenz. Unter Emmauskompetenz verstehe ich Folgendes: unterwegs sein mit Jesus, mit ihm in unserer Mitte, unterwegs mit ihm, der uns anspricht. Wir möchten mit Christus unterwegs sein, dem Ursprung der Kirche und ihrer mitgehenden Mitte.

5. Kirche ist für mich ein Raum der Beziehung, ein Raum der Gegenseitigkeit, ein Raum der gegenseitigen Liebe. Mein Freund Klaus Hemmerle hat die Bedeutung der Kirche als Raum von Beziehungen immer wieder heraus gestrichen. Hemmerle sprach von trinitarischen Beziehungen, von Beziehungen, die sich an dem dreifaltigen Gott orientieren. Dabei kann die Beziehung des Vaters als ein Geben beschrieben werden, die Beziehung des Sohnes zum Vater als ein Empfangen, und die Beziehung des Heiligen Geistes, der vom Vater und vom Sohn gemeinsam geschenkt wird, als ein Mitsein. Eine Kirche, die von solchen Beziehungen durchdrungen und geprägt ist, öffnet sich wie von selbst für Gott und für die Menschen. Sie öffnet sich für Gott, für Jesus in ihrer Mitte. Eine solche Kirche kann sich in Dienst nehmen lassen für die Verkündigung des Evangeliums. Dies könnte eine besondere Art von Diakonie sein an unserer heutigen Gesellschaft.
In der letzten Woche war ich in Aachen, wo der international bekannten Lepraärztin, der 84-jährigen Ordensschwester Dr. Ruth Pfau, der Hemmerle-Preis verliehen wurde. In dieser Frau kommt die schlichte konkrete Diakonie der Kirche zum Vorschein. Ruth Pfau hat sich um das Leben von Leprakranken in Pakistan in außerordentlicher und vor allem erfolgreicher Weise bemüht hat.
Der am letzten Samstag in Dillingen verliehene Ulrichspreis weist in eine andere Richtung. Bei dieser Preisverleihung wurde der bündnishafte Zusammenschluss von etwa 250 geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen aus allen christlichen Kirchen Europas geehrt, eben das MITEINANDER FÜR EUROPA. Dieser anlässlich der Unterschrift unter die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung v. 31.10.1999 gegründete große Zusammenschluss übt ebenfalls eine diakonische Funktion an der Gesellschaft in unseren Ländern aus.

6. Noch einmal möchte ich unterstreichen: Die Kirche sollte Maß nehmen an Maria, wenn es um die Bezeugung des Evangeliums geht. Wie tut dies Maria? Sie empfängt Jesus, sie gibt Jesus, sie ist mit ihm unter dem Kreuz. In Maria fallen die trinitarischen Beziehungen deutlich auf. Ein erstes Verstehen dessen, was damit gemeint ist, könnte man am Fokolar ablesen. Der "kirchliche" Name der Fokolar-Bewegung heißt Werk Mariens. Das Fokolar biete eine ekklesiale Spiritualität an. Den Fokolaren ist bewusst: Wir können Gott nicht machen, aber wir können ihn wie Maria empfangen, wir können ihn gebären, wir können ihn zur Welt bringen. An diesem Punkt können wir verstehen, dass die Kirche und Maria eine proportional ähnliche Funktion haben: Christus in der Welt präsent machen und bezeugen.

7. Auch das kirchliche Amt kann und soll sich an Maria orientieren. Ein kirchliches Amt, das sich an Maria orientiert, lernt hinzuhören, ist bereit, sich in den Bruch zu stellen, kann warten und erwarten. Gerade diese Eigenschaften von Maria können dem kirchlichen Amt, das in unserer Gesellschaft so sehr angefochten ist, eine unmittelbare Hilfe sein.

8. Hans Urs von Balthasar hat im Blick auf die Kirche verschiedene Profile ausgemacht, die er an den Personen, die Jesus umgeben haben, abgelesen hat. Besonders nahm er das Profil des Petrus und von Maria in den Blick. Papst Johannes Paul II. und mit ihm zusammen Kardinal Joseph Ratzinger haben 1998, als sie auf dem Petersplatz in Rom die ihnen bekannten geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen zusammen geführt haben, gerade diese beiden Profile als unabdingbar für die Kirche beschrieben. Sie sprachen davon, dass das petrinische und marianische Profil zusammen die Kirche ausmachen, sozusagen ko-essentiell sind. Unter dem petrinischen Profil wird die Hierarchie verstanden, die Ordnung der Kirche, ihr Dogma, die Objektivität. Das marianische Profil hingegen nimmt das Charismatische in den Blick, die Geistesgaben, das Prophetische, das, was wir auch an Maria sehen.

9. Wir wollen in diesen Tagen das marianische Profil einer Kirche von Morgen erarbeiten. Wir möchten dies auch ganz praktisch untereinander tun. Ich lade ein, sich neu darauf einzustellen, die Gesprächspartner, alle Gesprächspartner anzuhören, ihnen zuzuhören, einfach so, wie wir es bei Maria in der Verkündigungsszene sehen können. Ich möchte einladen, dem Gedanken des Anderen Raum zu geben, auch den Worten und der Art des Anderen. Falls wir uns darauf einlassen, wird das Fremde zu einer Gabe. Wenn wir es schaffen, das Befremdliche des Anderen zuzulassen, öffnet sich ein neuer Raum unter uns, ergibt sich eine Weite, die der Kirche einfach gut tut.
Klaus Hemmerle entdeckte in diesem Zusammenhang eine sehr hilfreiche Unterscheidung. Er ging aus von der Frage: Wie kann jemand Gott denken, wie kann ein Mensch dem Heiligen begegnen, wie kann jemand das Gegenüber Gottes überhaupt verstehen? Die Unterscheidung, die Hemmerle gefunden hat, fasste er in die prägnanten Worte: fassendes Denken und lassendes Denken. Mit fassendem Denken meinte er ein Denken, das sich der Gedanken des anderen bemächtigt, sie einordnet, vielleicht sogar eingrenzt, so dass er damit fast unfähig wird, das Göttliche im anderen wahrzunehmen, ernst zu nehmen oder auch als Anfrage an sich selber zuzulassen. Für Hemmerle wird klar, dass dieses von ihm so genannte fassende Denken Gott im tiefsten Sinne nicht fassen kann, denn Gott selber ist unfassbar. Anstelle eines fassenden Denkens lädt Hemmerle ein, zu einem lassenden Denken zu kommen. Dies bedeutet für ihn: das Herz zu öffnen, die Hände zu öffnen, den Anderen, das Andere, Gott sozusagen "kommen" zu lassen und sich vom Anderen "berühren" zu lassen. Wer sich auf das Risiko des lassenden Denkens einlässt, ist einer neuen Gotteserfahrung nahe. Wenn jemand in dieser Weise berührt wird von der Heiligkeit Gottes, von der Gegenwart Gottes im Anderen und in der Versammlung, dann kann es bei ihm zum Danken kommen. Solches nennt Hemmerle „das sich verdankende Denken“.

10. Wie können wir in diesen Tagen miteinander umgehen? Wir sind eingeladen, zueinander in Beziehung zu treten. Ich lade ein, dem Anderen Raum zu geben und einen ökumenischen Stil zu entwickeln, der die Kirche neu werden lässt, dort, wo wir stehen. In diesem Sinne rufe ich auf zu einem Dienst. Diese Tage sollen uns zurüsten zum Dienst an der einen Kirche, zum Dienst an der Einheit der Kirche. Wir werden merken, dass der Blick auf Maria der Kirche tut gut. Wer da mittun will, muss sich um die Emmauskompetenz bemühen. Ich bin gespannt, in welche Tiefe und in welche Weite uns diese Tage führen werden.

Vortrag beim Ökumenischen Priestertreffen in Stockholm, 9. Mai 2014

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