Klaus Hemmerle und das Wort Gottes

Vorbemerkung:

Klaus Hemmerle hat seine Wirkung auf viele, auch heute. Das bezeugen Briefe, die ich immer wieder empfange, in denen Menschen mitteilen, dass sie durch Klaus Hemmerle Gott gefunden haben. Jugendliche der Fokolar-Bewegung Köln haben kürzlich zwei DVD veröffentlicht, eine von der EU mitfinanzierte Spurensuche zu Klaus Hemmerle „Mensch, Klaus“. Der Klaus Hemmerle-Hemmerle-Werk e.V. hat auf der Internetseite www.klaus-hemmerle.de seit 2009 alle gedruckten Werke von Klaus Hemmerle, seine Aquarelle und seine Predigten im Aachener Dom als Audio-Dateien veröffentlicht. Der Klaus Hemmerle-Hemmerle-Preis, alle zwei Jahre von der Fokolar-Bewegung vergeben, hält durch die Ehrung der Preisträger die Erinnerung an den „Brückenbauer“ Hemmerle wach.

An den Anfang stelle ich eine steile Aussage:

Jesus ist für Klaus Hemmerle das Wort Gottes schlechthin. Was dieses für ihn konkret bedeutet, drückt er präzise mit diesen Worten aus:

Wiederholte Anfänge

Klaus Hemmerle hatte seine Theologie ebenso gut wie seine Philosophie studiert. Durch seine theologischen Lehrer, die Freiburger Theologieprofessoren Anton Vögtle (NT) und Alfons Deissler (AT), war er sehr tief vertraut mit der historisch-kritischen Methode der Exegese und mit einer vom Glauben der Kirche gespeisten Bibeltheologie. Aber erst durch Chiara Lubich, der Gründerin der Fokolar-Bewegung ging ihm auf, dass das Wort Gottes dann wirklich seine Kraft entbirgt, wenn es gelebt wird. Durch Chiara Lubich wurde ihm klar, dass das Leben nach dem Wort, mit dem Wort und aus dem Wort dieses selbst erschließt und auch eine neue Exegese und Erkenntnis freisetzt. Das Wort, das in das Leben des Menschen hinein agiert und ihn dadurch verändert, erschließt in diesem Prozess des Lebens seinen tiefsten Sinn. Das Leben nach dem Wort wurde für Klaus Hemmerle dadurch zum hermeneutischen Schlüssel des Alten und Neuen Testamentes.

1958, auf einem der großen frühen internationalen Sommertreffen des Fokolars, der Mariapoli in den Dolomiten, lernte er das Charisma der Einheit kennen. Er machte dabei eine fundamentale Entdeckung: Das von Jesus angekündigte Reich ist jetzt schon da, im Hier und Jetzt, weil das neue Gebot, die gegenseitige Liebe gelebt wird. Hören wir seine Worte:

Durch das Charisma trat offensichtlich eine neue Dimension in sein Leben: Das Wort leben, vivere la Parola – er sprach das Wort „Parola“ mit ganz tiefer Ehrfurcht, ja mit Ergriffenheit aus. Er machte seine Erfahrungen mit dem Wort und gab sie weiter, wie es damals zu Anfang der 60-er Jahre vielleicht noch stärker üblich war als heute. Jeden Monat schrieb er seine Erfahrungen mit dem Wort auf. Der damalige Verantwortlicher vom Züricher Männerfokolar, Carl Antonio Tomassin (+ 2002) – Freiburg gehörte damals zum Züricher Fokolar erinnert sich deutlich:

Was das Wort mit ihm machte, wie das Wort als eigentliches Subjekt seines Lebens ihn veränderte, das berichtete er mit tiefer Freude und großem Ernst, sowohl im Priesterfokolar, als auch später bei den Bischöfen. Das Wort war die Grundlage seiner Predigten, die wegen ihrer Gelehrsamkeit und intellektuellen Klarheit und ihrer Nähe zum Leben sich dem Leben nach dem Wort verdankten. Es war am Ende der 80-er Jahre, dass Chiara Lubich ihn noch einmal besonders herausforderte. Im Blick auf die angedachte theologische Arbeit an ihren mystischen Texten, was in der Scuola Abba in Zusammenarbeit mit Bischof Hemmerle geschehen sollte, bat sie ihn, noch intensiver als bis dahin das Wort zu leben und darüber ganz unmittelbar mit ihr in Verbindung zu bleiben und ihr auch zu berichten, was in seinem Leben, durch das gelebte Wort veranlasst, passiere. So wie sie Chiara Lubich von 1943 bis 1949 „nur“ das Wort gelebt habe und dann mit ihren mystischen Erfahrungen, die sie „Paradisi“ nannte, beschenkt worden sei, solle er es auch tun. Klaus Hemmerle begab sich daraufhin erneut auf einen geistlichen Weg unter ihrer Anleitung und schrieb Tag für Tag auf, was ihm im Leben mit dem Wort begegnete. Jeden zweiten Tag gab er nach dem Frühstück in einem Telefongespräch Chiara Lubich weiter, was passiert war. Er schrieb es jeden Tag auf. Und Chiara Lubich gab ihm dann weitere Orientierung. Ich habe die Hefte gesehen, in denen er dieses eintrug und habe immer wieder erlebt, wie er sich daran machte, ihr alles vorzulegen. Er ging ganz konkret in ihre Schule, so wie es Kardinal Lehmann beim Begräbnisgottesdienst in Aachen 1994 gesagt hat:

Worte der Schrift, die ihn getroffen haben

Ich möchte einfach sechs Schrift-Worte vorstellen, die Bischof Hemmerle besonders ans Herz gewachsen sind.

Zwei Worte der Schrift waren ihm besonders wichtig, weil sie ihm von Chiara Lubich geschenkt wurden. 1969 hatte er Chiara Lubich, wie es damals viele taten, um ein Lebenswort gebeten, um ein Wort, in dem sich das eigene disegno sozusagen kristallisiert. Ich erinnere mich noch genau an seine Freude über den Brief, in dem sie ihm sein Wort mitteilte: Joh 14,20, ein Wort aus den Abschiedsreden, in der das gegenseitige inne-sein von Vater und Sohn und von Jesus und seinen Jüngern beschrieben wird:

Als die Erwählung zum Bischof von Aachen ihn erreichte, war eine seiner ersten Überlegungen, unter welches Wort er seinen bischöflichen Dienst stellen sollte. Er fragte Chiara Lubich, und sie gab ihm das Wort: Joh 17,21. Klaus Hemmerle goss dieses Wort in die Formulierung: Omnes unum, ut mundus credat. Die bei der Bischofsweihe ausgesprochene Einladung an das Bistum, mit ihm dieses Wort zu leben, hat er persönlich ganz buchstäblich eingelöst. Dieses Wort bedeutete für ihn, dass es Gott um alle ging, und dass er als Bischof darum nicht anders konnte, als sich allen zuzuwenden. Dies hatte Folgen bis in seinen Arbeitsstil im Alltag. Er beantwortete alle Briefe. Er war bereit mit jedem zu sprechen. Er war telefonisch erreichbar, noch bis spät am Abend. Die ungeheure Last, die er damit auf sich nahm, war ihm durchaus bewusst. Er hat auch daran gearbeitet, den Tag einzuteilen, Aufgaben zu delegieren, für Ruhezeiten zu sorgen. Aber er achtete sehr darauf, dass für solche Maßnahmen nicht andere abgeschnitten oder sich selbst überlassen wurden.(6)

Bei der Bischofsweihe erklärte er seinem Bistum dieses Wort aus dem Johannesevangelium, alle eins – damit die Welt glaubt. Ihm war nur eines wichtig: Er will Wort sein, Wort Gottes, zusammen mit den Gläubigen der Diözese. Darum spricht er so „direkt“:

Und dann kommt immer wieder dieses Jesus-Wort über seine Lippen: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe“ (Joh 13,34). Dieses Wort faszinierte ihn ganz besonders, das Wort Jesu zum neuen Gebot Jesu. Dabei war es ihm wichtig zwei Wörter richtig zu deuten, das Wort Neu und das Wort Wie. Neu heißt hier kainos, nicht neos. Nicht der Gegensatz alt - neu ist angepeilt, sondern die Kraft zum Echten, zum neuen Anfang, der sich denen erschließt, die sich gemeinsam auf das neue Gebot der gegenseitigen Liebe einlassen. Und dann das Wort „Wie“: Liebt einander wie ich euch geliebt habe. Das Wort Jesu ist eine Zusage. Dieses Wort gibt die Kraft, wie Jesus lieben zu können. Es ist schöpferisch, kreativ wie das Wort im Schöpfungsbericht (Gen 1): „Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht“. Davon war er durch seine eigene Erfahrung zutiefst überzeugt:

Die „Spitze“ aller Worte Jesu, die Summe dessen, was Jesus schenkt, war für ihn Jesus der Verlassene mit seinem Wort „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mt 27,45). In Jesus dem Verlassenen sah er die höchste Offenbarung des Gottes, der die Liebe ist. (9)

Vielfach hat er berichtet, wie Chiara Lubich ihm diese Realität geschenkt hat. Jesus der Verlassene ist die größte Entdeckung des 20. Jahrhunderts, so sagt er zusammen mit Reinhard Pünder, den er in den „Wegmarken der Einheit“ indirekt zitiert. In diesem Buch liefert er eine theologische Exegese des Textes von Chiara Lubich „Ich habe nur einen Bräutigam hier auf Erden“. Er erklärt, wie Jesus der Verlassene das Wort Gottes schlechthin ist. Es ist deutlich zu erkennen, dass er selbst aus der Gemeinschaft mit Jesus in seiner Verlassenheit lebte, und darum auch zu einer eigenen Sprache fand:

Das Wort „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20) durchzieht das gesamte Handeln und Leben von Klaus Hemmerle. Man könnte sagen, in diesem Wort erfüllte sich für ihn alles, was er für die Kirche und mit der Kirche lebte. Durch dieses Wort wusste er sich mit allen Bischöfen, Priestern und Laien auf einer Ebene. Dieses Wort eröffnete ihm den Raum, in dem sich Christus immer neu, Tag für Tag, schenkt. Das war für ihn einerseits ein hoher Anspruch:

Dieses Wort zeigte sich für ihn noch mehr durch den Blick auf Maria. Ihm ist klar geworden: Menschen, die das „Wo zwei oder drei“ leben, nehmen teil an der Mutterschaft Mariens für Jesus:

Abschließend erwähne ich ein weiteres Lieblingswort, diesmal aus dem Alten Testament, aus dem Buch Exodus:

Er kommentiert dieses Wort so:

Zusammenfassend möchte ich feststellen:

In nuce steht in diesen Lieblingsworten von Klaus Hemmerle, das Gebirge einer Theologie des Wortes vor uns, an der er zeit seines Lebens gearbeitet hat. Ich zitiere nur einige Sätze aus den „Wegmarken der Einheit“:

Bischöfliche Pastoral im Umgang mit dem Wort

Klaus Hemmerle hatte immer das griechische Neue Testament in der Ausgabe von Nestle auf dem Tisch oder bei sich, wenn er auf Reisen ging. Wenn es ging, las er die Bibelstelle im Original auf Griechisch. In den Ferien, z.B. mit Toni Weber in Zermatt 1978, lasen wir einmal das Markus-Evangelium gemeinsam.

Das monatliche Wort des Lebens samt Kommentar von Chiara Lubich gehörte ebenfalls zum Reisegepäck. Wenn wir uns bei Tagungen oder Veranstaltungen trafen, erinnerte er zuerst das Wort des Lebens, das gerade im Fokolar gelebt wurde. Es ist bei ihm in Fleisch und Blut übergangen, das Wort zu hören, es zu leben und sich dann darüber auszutauschen. Der Austausch am Abend über das Wort des Lebens war ihm ganz selbstverständlich wie das Beten der Komplet.

Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die Pastoral, auch seine bischöfliche Pastoral, im Wort Gottes gründete. Das gab er in seiner ersten Predigt als Bischof zu erkennen. Sein erstes Hirtenwort – in Deutschland wird in allen Diözesen zu Beginn der Fastenzeit in den Gemeinden das bischöfliche Hirtenwort verlesen – lud er eindringlich ein, das Wort Gottes zu leben. Er schlug vor, aus der Lesung des jeweiligen Sonntags ein Wort zu nehmen und es gemeinsam zu leben. Er gab kein Wort vor, sondern verwies auf die Schriftworte, die die Kirche durch ihre Leseordnung vor gibt: Er schloss den Brief an sein Bistum mit dem einfachen Satz: „Ich würde mich sehr freuen, gelegentlich von solchen Erfahrungen zu hören“. Dieser Hirtenbrief löste eine Kettenreaktion aus. Acht Wochen später schrieb er an jene, die ihm ihre Erfahrung mit dem Wort geschrieben hatten den fast berühmten Brief „Liebe Freunde im Wort“. Darin schlug er ganz konkrete Schritte vor, die er jedem und jeder ans Herz zu legen wagte:

Und später, als sein Brief angekommen war und viele geantwortet hatten, bekennt er in einem Brief seine besondere Freude:

Das Wort „arbeitete“ im Bistum, indem es Gemeinschaft stiftete unter den Gläubigen im Bistum und mit dem Bischof. Es entwickelte sich die spirituell geprägte Gemeinschaft „der Freunde im Wort“, denen er brieflich seine eigenen Erfahrungen und Erklärungen regelmäßig mitteilte und die er einmal im Jahr nach Aachen einlud zu einem großen Treffen und Erfahrungsaustausch.

Durch dieses Leben nach dem Wort in seinem Bistum ging ihm noch mehr auf, dass dem Wort Gottes eine starke Bindekraft innewohnt, die den Auferstandenen gegenwärtig setzt unter denen, die in seinem Namen versammelt sind. Die Verknüpfung dieser pastoralen Erfahrung mit den Nöten des Bistums, wie Priestermangel und auch Gläubigenmangel (viele verließen damals die Sonntagsgottesdienstgemeinde), schenkte ihm die Einsicht, dass das Wort Gottes, gelebt in den Gemeinden und zwischen den Gemeinden, eine ganz besondere Art von Communio ermöglicht, die er Weggemeinschaft nannte. Eine solche „Weggemeinschaft unter dem Wort“ verwandelt menschliche Beziehungen von Grund auf und hat eine besondere Chance in einer Gott-leeren-Zeit, von der heutzutage auch die Kirche selbst nicht verschont bleibt. (19)

In einem späteren Hirtenwort beschreibt, was sich entwickeln kann:

Ihm wurde immer klarer, dass sich die Weggemeinschaft unter dem Wort in viele Richtungen weiter entwickeln kann. Das Leben nach dem Wort bekam für ihn eine immer deutlicher werdende ökumenische Dimension. Er hatte dabei sowohl die evangelischen Superintendenten im Aachener Revier als auch die evangelischen Bischöfe in Deutschland im Blick. Dies war, so darf man wohl sagen, ein wichtiger pastoraler Schwerpunkt seiner bischöflichen Pastoral.

Eine besondere Bezugsperson war für ihn der damalige Bischof Martin Kruse von Berlin. Immer wieder hat Klaus Hemmerle erzählt, dass er 1980 in Mainz beim Treffen von Johannes Paul II. mit den deutschen evangelischen Bischöfen anwesend war. 30 Minuten nach dieser Begegnung wurde er von Bischof Kruse gebeten seinen eigenen Namen in dessen Bibel zu schreiben. Jahre später berichtet er:

Auf diese Unterschrift bezugnehmend hatte Klaus Hemmerle schon bald an Bischof Kruse Folgendes geschrieben:

Dies war für ihn eine tiefe Erfahrung jener Einheit, die im Wort Gottes gründet. Jahre später kommentiert er dieses Ereignis noch einmal bei einem Treffen von 200 evangelischen und katholischen Pfarrern im Ökumenischen Lebenszentrum Ottmaring:

Abschluss

Wir können tatsächlich feststellen:. Das Wort Gottes ist für Klaus Hemmerle die Achse des Lebens. Das Wort Gottes ist für ihn ein unergründliches Thema. Ich kann wirklich nur sagen: Er war verliebt in Gottes Wort.

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(1) Vgl. Wilfried Hagemann, Verliebt in Gottes Wort, Würzburg 2008, S. 165
(2) Vgl. Ebd., S. 308
(3) Vgl. Ebd., S. 50
(4) Vgl. Ebd., S. 293
(5) Vgl. Ebd., S. 98-99
(6) Vgl. Ebd., S. 99
(7) Vgl. Ebd., S. 258
(8) Vgl. Ebd., S. 163
(9) Vgl. Klaus Hemmerle, Wegmarken der Einheit, München 1982, S. 28
(10) Vgl. Ebd., S. 42-43
(11) Vgl. Ebd., S. 37-38
(12) Vgl. Ebd., S. 64
(13) Vgl. Ebd., S. 66
(14) Vgl. Ex 19,4-6
(15) Vgl. Klaus Hemmerle, Wegmarken der Einheit, S. 16
(16) Vgl. Ebd., S. 82
(17) Vgl. Ebd., S. 44
(18) Vgl. Wilfried Hagemann, Verliebt in Gottes Wort, S. 106
(19) Vgl. Ebd., S. 166
(20) Vgl. Ebd., S. 166
(21) Vgl. Ebd., S. 203
(22) Vgl. Ebd., S. 204

Vortrag in Trient (Italien) für Bischöfe, Freunde der Fokolar-Bewegung, am 12. August 2011

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