Wofür steht die Kirche, wofür stehen die katholischen Verbände heute?
Die katholischen Verbände stehen auf dem Prüfstand. Das gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Engagement von Katholiken und katholischen Vereinigungen wird heute nicht nur in der Gesellschaft angefragt, es unterliegt auch in der Kirche selbst einer starken Kritik. Innerkirchlich lauten die Vorwürfe: Christen und Verbände gleichen sich zu stark dieser Gesellschaft an. Sie übernehmen politisch vorgeprägte und ökonomisch marktwirtschaftliche Verhaltensmuster und unterliegen damit der Gefahr einer zu starken Anpassung an außerkirchlich gesellschaftliche Entwicklungen. Profilierung, Identitätsfindung, ja Absetzung von gesellschaftlichen Vorgängen wird heute vielfach gefordert. Darum stellt das Diözesanforum des Bistums Münster 1998 in seinem Beschluss Caritas und sozialpolitische Verantwortung – Kirche und Gesellschaft lapidar fest: „Die Kirche mit den Verbänden, Diensten und Einrichtungen zieht heute in vielem, was von ihren Auffassungen und ihrem Handeln in der Öffentlichkeit bekannt wird, Unverständnis, Gleichgültigkeit und auch Ablehnung auf sich.“ (Kom. X, S. 27) (1). Demgegenüber beruft sich das Diözesanforum auf das Gemeinsame Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (2) „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, wo es heißt: „Die Kirche und die Verbände, Dienste und Einrichtungen existieren nicht für sich selbst. In der Nachfolge Christi haben sie eine Sendung für alle Menschen.“ Das Forum fährt fort: „In diesem Auftrag hat sich die katholische Kirche in Deutschland unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen in das Gesamtsystem von Gesellschaft, Politik und Staat eingefügt. Verbände, Dienste und Einrichtungen haben wichtige soziale und kulturelle Aufgaben übernommen, welche teilweise öffentlich gefördert werden“ (Kom. X) (3).
In den Auseinandersetzungen um die Schwangerschaftskonfliktberatung, die das ganze Jahr 1999 öffentlich in den deutschen Diözesen und unter den deutschen Bischöfen, aber auch zwischen dem Vatikan und der Deutschen Bischofskonferenz ausgetragen wurden, ging es genau um diese Frage: Wie weit darf die Kirche sich auf die Welt einlassen, wie weit ist ihr Weltdienst wirklich Dienst an der Welt und wann ist die Grenze erreicht, dass ein christliches Profil und ein klares Zeugnis nicht mehr aufscheint?
Tatsächlich: Die katholischen Verbände und auch die katholische Kirche in Deutschland stehen deutlich auf dem Prüfstand. Dies zeigen auch einige Äußerungen, die bei einem Symposion des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in der Katholischen Akademie in Berlin im September 1999 gefallen sind. Das Symposion stand unter dem Titel: „Kritische Zeitgenossenschaft – Standortbestimmung der katholischen Kirche in Deutschland“(4). Ich beziehe mich auf Aussagen, die ich persönlich während dieses Symposions mitgeschrieben habe:
Ulrich Ruh, Chefredakteur der Herder Korrespondenz stellt fest: Der katholischen Kirche steht in den nächsten zwei Jahrzehnten eine gewaltige Zäsur bevor. Sie kann eigentlich nur von zwei Perspektiven leben: 1. Die Kirche sollte auch in Zukunft für alle Menschen und alle Schichten der Bevölkerung da sein, ohne der Illusion anzuhängen, sie könne die Menschen, mit denen sie auf die eine oder andere Weise in Kontakt kommt, mehrheitlich fest an sich und an ihre Botschaft binden. 2. Die Kirche muß bei allem, was sie tut, den Menschen klaren Wein darüber einschenken, wofür sie steht. Sie ist eben nicht einfach ein religiöses Dienstleistungsunternehmen, eine Großagentur für Sinn und Lebenshilfe. Sie verweist die Menschen auf das Geheimnis Gottes, der sich in Jesus Christus offenbart hat und in seinem Geist weiterwirkt.
Der Schriftsteller Konrad Weiß wünscht sich eine kampagnenfähige Kirche und stellt die Frage, ob die Kirche heute noch missionieren könne. Er meint, dass sie im Wohlstand ersticke, dass es ihr an Spiritualität fehle, dass die Quellen verschüttet seien und dass es einen Mangel an Transzendenz gebe.
Der Theologe Prof. Hans-Joachim Höhn/Köln erklärt: Wo Kirche drauf steht, muss auch Kirche drin sein. Bitte keine Mogelpackung!
Der bisherige Chefredakteur der Zeit, jetzt Präsident der Evangelischen Akademie Berlin Robert Leicht fragt an: Wir brauchen den Sonntag, es muss mal Pause sein! Fundamental müsse gefragt werden: Wofür sind wir da? Das Wichtigste an der Rechtfertigungsbotschaft: Wir sind mehr als die Summe unserer Untaten und unserer Leistung.
Christa Nickels, Bundestagsabgeordnete von den Grünen, stellt fest: Wenn man auf die Kirche draufklopft, ist wenig Spiritualität drin. Die Katechismusfrage: „Wozu sind wir auf Erden? Warum existiere ich?“ wird immer wichtiger. Die Kirche bemüht sich sehr den Ofen abzudichten, aber sie vergisst das Feuer zu schüren. Wie rettet man das Feuer?
In all diesen Aussagen wird deutlich, dass unser Thema, wofür steht die Kirche, wofür stehen die katholischen Verbände heute außerordentlich aktuell ist.
Wofür die Kirche steht, wofür Christen heute stehen können, kann ich mir am besten klar machen, wenn ich auf konkrete Personen schaue.
Johannes Paul II., Primas Carey von der anglikanischen Kirche Englands und der orthodoxe Metropolit Athanasius von Konstantinopel öffnen gemeinsam mit Vertretern von weiteren 22 nichtkatholischen Kirchen am 18. Januar 2000 die Heilige Pforte der Kirche von St. Paul vor den Mauern in Rom. Gemeinsam wollen sie in die Pauls-Kirche hineingehen. Ohne es verabredet zu haben, fallen sie gemeinsam auf die Knie.
P. Alfred Delp SJ, Jesuit und Sozialwissenschaftler, Philosoph und Theologe, wegen seiner gegen den Nationalsozialismus gerichteten Tätigkeit inhaftiert und am 02. 02. 1945 in Plötzensee hingerichtet, und Pastor Dr. Dietrich Bonhoeffer, evangelischer Pfarrer und Theologe, ebenfalls inhaftiert 1944 in Berlin-Tegel und hingerichtet am 08. 04. 1945 in Flossenbürg/Bayern sind miteinander befreundet und leben die schwere Zeit im Gefängnis in tiefer gegenseitiger Gebetsgemeinschaft.
Edith Stein, Schwester Teresia Benedicta vom Heiligen Kreuz, sagt bei ihrer Festnahme durch die Gestapo: Ich gehe für mein Volk – die Juden!
Charles de Foucauld, katholischer Priester und Freund der Moslems, lebt als Einzelner in einem muslimischen Dorf in der Sahara. Er lebt den Dialog und er erlebt auch die Grenzen des Dialogs, von Feinden der Moslems seines Dorfes wird er 1916 ermordet.
Ordensschwestern der Münsteraner Kongregation der Mauritzer Franziskanerinnen arbeiten in Berlin/Prenzlauer Berg für einen sozialen Brennpunkt, besonders für Aids-Kranke und HIV-Infizierte.
Am 31. 10. 1999 zieht eine große Prozession vom katholischen Dom zur evangelischen St. Anna-Kirche in Augsburg, an der Spitze der Präsident des Lutherischen Weltbundes, Christian Krause, Bischof von Braunschweig, und Kardinal Cassidy, Vertreter des Vatikans und verantwortlich für den Päpstlichen Rat der Einheit der Christen, um die in einem Arbeitsprozess von über 30 Jahren erarbeitete Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre an eben diesem Tag zu unterschreiben. Das gemeinsam gesungene „Großer Gott wir loben dich“, von mehreren Tausend Christen in St. Anna und in einem Zelt vor St. Anna, sind auch ein Bild für Kirche von heute.
Was lese ich an diesen Personen ab? Es geht um ganz bestimmte Werte, die für die Welt und unser Land sehr wichtig sind. Versöhnung, bewusstes Leben in der Welt, Dialog mit allen, Einheit, Verbindung mit Gott, Gemeinschaft im Leiden, positive Sicht des Schmerzes und Hoffnung über den Tod hinaus – Solidarität mit den Armen, angstloses Dasein auch unter größten Gefahren – dafür steht die Kirche in diesen Personen. Meine Frage: Stehen dafür heute auch die Verbände?
a) Gesellschaft heute
Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist geprägt von großen Umbrüchen. Sie ist hineingezogen in die oder auch bedroht von der Globalisierung. Die zunehmende Alterspyramide und die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, die Arbeitslosigkeit und die weltweite Armut in den Ländern der Dritten Welt bei gleichzeitiger Ressourcenknappheit und Finanzknappheit führen zu Engpässen und Ängsten und stellen eigentlich alle Ordnungen in Gesellschaft, Gewerkschaft, Betrieben, Schulen usw. auf den Prüfstand. Viele kämpfen darum, dass aus Gruppenegoismus und Bestandswahrung eine neue Beteiligungsgleichheit erarbeitet werden kann und auch Chancengleichheit. Viele nachdenkliche Mitbürgerinnen und Mitbürger fragen: Woher soll die Kraft kommen, die Kraft zum Teilen, zu einer neuen Bescheidenheit, zu einem neuen Sinn für das Gemeinwohl? Und wie kann die Familie wieder ein Ort der Erneuerung der Gesellschaft werden? Diese und andere Fragen durchziehen heutiges gesellschaftliches und politisches Geschehen in Deutschland. Positiv ist anzumerken, dass dieses alles auf dem Hintergrund eines ungemeinen europäischen Einheitsprozesses – man denke nur an den Euro und an die Ost- und Süderweiterung der Europäischen Union – geschieht.
Auf dem erwähnten Symposion in Berlin stellte der bereits zitierte Robert Leicht fest: Warum halten wir so fest am Wohlstand, am Versorgungsstaat? Bevor Christen in der Gesellschaft etwas tun und aktiv werden, müssen sie passiv sein; passiv meint, sich einassen, auf das Wort. Das Wort stellt mit uns etwas an. Wir müssen das Wort gemeinsam leben (Ökumene).
Und Annette Schavan, Kultusministerin in Stuttgart, erklärte: Berlin vergrößert wie mit einer Lupe die Fragen, die sich heute die Menschen stellen. In dieser Stadt können wir heiter, kritisch und gelassen sein. Die Freiheit ist die einzige Möglichkeit, Kirche in der Gesell-schaft zu leben. Wir brauchen Beteiligungsgerechtigkeit statt Chancengleichheit. In der Zeit raschen gesellschaftlichen Wandels kann man Einfluss nehmen auf die Gesellschaft durch den Blick auf die Tradition. Denn die Tradition ist Lernerfahrung.
b) Kirche in Deutschland heute
In der Kirche Deutschlands, sowohl in der katholischen wie evangelischen, gibt es heute die Notwendigkeit großer Konzentrationsprozesse. Im Hintergrund steht ein sich immer mehr anbahnender Finanzmangel und auch Personalmangel. Dazu kommt ein Mitgliederschwund, der seit Jahren anhält und auch im Augenblick nicht gestoppt ist. Gleichzeitig muss festgestellt werden, dass die Plausibilität des Glaubens schwindet und dass die Sprachfähigkeit der Menschen, über ihren Glauben zu sprechen, abnimmt. Atheismus und Glaubensschwund sind hier schmerzliche Stichworte.
Um neue Kraft zu gewinnen, um nicht einfach hinter der Entwicklung hinterherzulaufen, besinnen sich heute viele Diözesen darauf, die Strukturen und die Größen der Gemeinden zu verändern. Es geht darum, neu den Raum, in dem die Kirche wirken soll, in den Blick zu nehmen, es geht um die Schaffung neuer pastoraler Räume. Das ist nur möglich, wenn die absolute Autonomie der Pfarrgemeinden aufgebrochen wird und einer relativen Autonomie weicht. Es geht darum, durch Fusion oder durch Seelsorgeeinheiten größere und wirksamere pastorale Räume zu schaffen, um sich den vielfältigen Aufgaben einer Stadt mit neuer Kraft widmen zu können.
Besonders zugespitzt hat sich die Situation in den neuen Bundesländern. Bei dem erwähnten Symposion in Berlin stellte der Erfurter Theologe Prof. Dr. Eberhard Tiefensee fest, dass es in den neuen Bundesländern in den letzten 50 Jahren einen Supergau der Kirche gegeben habe. Der Osten sei das einzige Land auf der Welt, wo die Nichtreligiösen eine Mehrheit von 70 % stellen. Das sei weder in Russland noch in Polen noch in Jugoslawien noch in China der Fall. Eine Situation, wie sie heute im Osten sei, habe die Kirche noch nie erfahren. 70 % der Leute wüssten nicht, wer Gott ist. In diesem Zusammenhang zitiert Prof. Tiefensee den evangelischen Religionssoziologen Erhart Neubert, der vor der Enquetekommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED Diktatur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages über die Situation der Kirchen in der ehemaligen DDR befragt folgendes aussagte: „Was wir 1990 an Kirche übernommen haben aus der DDR, ist eine weitgehende Zerstörung. Ich lasse mich nicht durch eine Illusion beruhigen. In Berlin Ost gehören nur noch unter 1 % der jungen Leute zur Kirche, ich könnte noch vieles andere sagen, denn der Erosionsprozeß ist ja längst weiter. Wir wissen ja, auch zu DDR Zeit war die Kirche organisatorisch zusammengebrochen ohne das Westgeld, und heute wären wir auch nicht lebensfähig. Das ist ein Supergau der Kirche. Warum nehmen wir das nicht einfach wahr! Aus diesen Trümmern, diesen Schmerzen, die ich empfinde, müssen wir suchen, warum das gewesen ist, und wie wir da herauskommen.“ (5)
Die Probleme, die sich in Ostdeutschland stellen, dürfen nicht die Probleme des Ostens bleiben. Es ist notwendig, dass wir als ganze deutsche Kirche, uns dieser Situation stellen.
In diesem Zusammenhang wendet sich der Blick von Tiefensee dem Apostel Paulus zu und dessen Begegnung mit den Griechen auf dem Areopag, dem Marktplatz von Athen: Paulus sei geprägt vom Respekt vor den Leuten. Er suche einen Anknüpfungspunkt, indem er einen Heiden zitiere. Das Neue Testament zitiert einen Heiden! Das müsse auch heute wieder geschehen. Die Theologen und Christen unterschätzten die enorme Sprachbarriere zwischen uns und den anderen. Die Rede von Gott müsse neu auf den Areopag gebracht werden. In Röm 11 werfe Paulus sein Leben in die Waagschale für den christlich jüdischen Dialog. Wer wirft heute sein Leben in die Waagschale für den Glauben. ... Wir müssten tun, was Paulus getan hat: Durch die Stadt gehen, mit den Leuten reden, hinhören, herausfinden was los ist. Wir dürften nicht mit fertigen Kategorien kommen, sondern hinschauen und absichtslos von Gott reden. Christen bekämen in dieser Gesellschaft eine Leuchtturmfunktion.
Der Negativliste muss aber auch eine Positivliste an die Seite gestellt werden. Hier ist vor allem das Zweite Vatikanische Konzil zu nennen. Es setzte ungeahnte Kräfte frei für die Ökumene, für den Dialog mit den Weltreligionen und für eine neue Verantwortung für den Weltdienst der Christen. Die Gedanken des Zweiten Vatikanischen Konzils wurden in Deutschland weitergeführt durch die Würzburger Synode. Parallel dazu haben sich auch neue Aufbrüche geistlichen Lebens in den Kirchen gebildet. Ich denke an die neuen geistlichen Gemeinschaften, angefangen von Schönstatt bis hin zur Fokolar-Bewegung, aber auch kleinere Gemeinschaften, die jetzt gerade im Bistum Münster Fuß fassen. Da sind zu nennen: Gemeinschaft der Seligpreisungen, Verbum Dei, Brot des Lebens Pain de Vie, Gemeinschaft Emmanuel.
Unter den Katholiken Deutschlands hat sich ein Bewusstsein weltweiter Solidarität Bahn gebrochen, wie wir es bisher nicht gekannt haben. Dafür stehen: Misereor, Adveniat, Renovabis. Ausgelöst durch das Konzil hat sich eine ganz große Schar von Ehrenamtlichen in den Gemeinden entwickelt, die aus dem heutigen Gemeindeleben nicht mehr wegzudenken sind: Besuchsdienste in den Krankenhäusern, Wohnviertelbesuchsdienste, Lektoren und Kommunionhelfer, Gruppenleiter und Gruppenleiterinnen, Caritashelferinnen, Pfarrgemeinderäte, Verantwortliche in den katholischen Verbänden, Mitarbeiter in den Dritte-Welt-Gruppen, in Asylgruppen, in Gruppen, die sich um ausländische Mitbürger und Mitbürgerinnen kümmern.
Darüber hinaus ist es gerade in Deutschland zu einem großen ökumenischen Schub gekommen. Aus einander nicht zur Kenntnis nehmenden Kirchen sind Schwesterkirchen geworden. Katholische und evangelische Gemeinden arbeiten vor Ort zusammen. Man kann sagen: die Kirchen wachsen zusammen. Wenn ich die Positivliste der Kirche in Deutschland zusammenfassen soll, würde ich sagen: Es gibt geistliche Zentren, eine neue Einheit zwischen den Kirchen entwickelt sich und die Option für die Armen ist konkret.
Auch hier möchte ich an den Anfang einige Beispiele stellen, die uns deutlich machen, worum es geht.
Die Kirche steht bei den Armen:
Ich denke an einen Militärpfarrer im Kosovo, an den Notfallseelsorger in Brühl, an Gut Neuhof von Berlin. In Neuhof leben Franziskanerinnen einer deutschen und österreichischen Kongregation und gottgeweihte junge Männer aus Brasilien und Deutschland zusammen mit drogenabhängigen Männern und Frauen. Durch ein neues Leben in Gemeinschaft mit Gott und miteinander setzen sie Kräfte frei, die stärker sind als die Droge.
Christen stehen im Dialog:
Auf den Katholikentagen der letzten Jahrzehnte stach immer eine Einrichtung besonders hervor: das Jüdische Lehrhaus. Der Katholikentag lädt jüdische Theologen ein, die Christen im Jüdischen Lehrhaus den jüdischen Glauben erklären. So können Christen im Original hören, was die Zehn Gebote, was die Psalmen, was die Geschichte des Volkes Israel, was Abraham den Juden bedeutet und so als Christen die jüdischen Wurzeln des Christentums kennen lernen.
Ich denke an das Café International, das nach dem Brandanschlag in Solingen 1993 entstanden ist. Einmal im Monat treffen sich im Zentrum Frieden in Solingen etwa 40 Muslime und Christen, um miteinander ins Gespräch zu kommen, sich ihre Kultur „zu zeigen“ und dadurch einen Beitrag zur Verständigung und zum Dialog in ihrer Stadt zu geben. Diese Initiative hat über Deutschland hinaus Kreise gezogen.
Christen bringen sich ganz neu ein in die Gesellschaft:
Ich denke an neue Gemeindestrukturen wie die Citypastoral in Frankfurt oder wie die Schaffung pastoraler Räume im Bistum Münster.
Ich denke aber auch an eine italienische Gruppe von Politikern, die sich kürzlich in Neapel zusammengetan haben und Christen aus allen Parteien zusammenbrachten, um einen neuen Politikstil zu entwickeln, der den Kampf um die Sache kennt, aber den Respekt vor den Personen einhält und quer durch die Parteien hindurch entschiedener nach dem Gemeinwohl fragt.
Ich denke auch an Unternehmer, die der Fokolar-Bewegung nahe stehen, die sich um eine Wirtschaft in Gemeinschaft bemühen. Hier geht es einerseits darum, die Mitbestimmung in den Betrieben und die Beziehungen mit Kunden, Lieferanten und Konkurrenten zu verbessern. Andererseits werden die Gewinne nach eigenem Ermessen weitergeleitet zur direkten Hilfe für Noteleidende und für Betriebe in Ländern der Dritten oder Einen Welt. Im Hintergrund steht der Gedanke, dass es besser ist, Menschen Arbeit statt Almosen zu geben.
Was können Christen, was können Verbände in unserer Gesellschaft anbieten? Ist es die Erfahrung mit Versöhnung über alle Grenzen hinweg? Ist das der Wert der Einheit und des Dialogs, die Gemeinschaft im Leiden, der Sinn für Gütergemeinschaft und Gemeinwohl, das Vermitteln einer Hoffnung und einer Gotteserfahrung über den Tod hinaus?
Dazu noch einige Stimmen von dem Symposion in Berlin.
Ein Wort von Dr. Thomas Sternberg, Direktor der Sozialen Akademie des Bistums Münster, dem Franz-Hitze-Haus: Der wertvollste Beitrag der Kirche für die Kultur ist die Feier ihres Gottesdienstes. Die Feier der Liturgie selbst ist ein „Kunstwerk“ als Zeichen der Nähe Gottes und als Versammlung der Gläubigen. Er plädiert dafür, die Wortfixierung der 70er Jahre zu überwinden.
Ein Wort von Dr. Annette Schavan CDU: Von Thomas Bernhard stammt der Satz „Am Ende wird alles scheitern.“ Wenn ich gefragt werde, worin der Kern unserer kritischen Zeitgenossenschaft besteht, dann ist es für mich der Widerspruch gegenüber solcher Verurteilung des Menschen zum endgültigen Scheitern. Es ist die Botschaft von Karfreitag bis Ostern, die uns Christen und Christinnen in unserem Verhältnis Gott und dem Menschen prägt. Es ist die Hoffnung, aber auch Zusage der Erlösung, die uns die Welt ernst nehmen läßt und die uns die Kraft gibt, uns dieser Welt zuzuwenden. Wir müssen das gute Leben nicht jeden Tag neu erfinden. Wir schöpfen aus einer 2000 jährigen Geschichte Gottes mit dem Menschen. Es prägt uns weder hoffnungsloser Pessimismus noch vorschneller Optimismus. „Der Christ und die Christin sind Menschen, die an den Himmel glauben und die Erde lieben. In ihrer Existenz durchdringen sich Himmel und Erde. Ihre Liebe zur Welt ist ein Glaube an Gott und ihre Liebe zu Gott ist ein Glaube an die Welt. Er ist ein Standpunkt, der die Welt verändert.“ (Elmar Klinger) und dann fügt sie hinzu: Ist das nicht gut, dass uns das Christsein näher ist als unsere Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und Parteien? und fährt dann fort: Wir sind davon überzeugt, dass jedenfalls unser Profil als Christen und Christinnen ohne das Bemühen um Dialog ins Getto führt. Und da gehören wir nicht hin Wir sind nicht berufen zur kleinen Herde, die ihre Schätze für sich behält, wir sollen die Wege mutig gehen, die Menschen die Chance geben, in oft unerlöst wirkender Welt etwas zu ahnen von der großartigen Botschaft der Erlösung und der Befreiung des Menschen durch den Gott Jesu Christi.
Ein Wort von Wolfgang Thierse SPD, Bundestagspräsident: Das ZdK ist eine der alten Traditionen in Deutschland. Es ist von Anfang an ein demokratischer Aufbruch. Heute ist es die Dachorganisation katholischer Laienarbeit. Das ZdK hat eine Offenheit erarbeitet für die Ökumene und für die Pluralität der Gesellschaft, auch auf die verschiedenen politischen Parteien hin. Auf den Katholikentagen ist es gelungen, unterschiedliche politische Standpunkte zur Sprache zu bringen und zwar im Original. Man habe sachbezogen, zielführend und tolerant gelernt zu diskutieren. Das sei in der Kirche eine ganz wichtige Öffnung.
Ein Wort von Prof. Gesine Schwan, Präsidentin der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder: Ich habe die Kirche immer als Einflugsort für den Hl. Geist gesehen, der sich dann austeilt. Ich gehe nach Frankfurt an die Universität. Ich muss aktiv hoffen, Hoffnung weitergeben. Ich gehe das Wagnis der Aktivität ein und hoffe, dass ich weise bleibe, meine Grenzen zu erkennen.
Ich darf zum Schluss kommen. Nach dem bisher Gesagten ergibt sich für mich als klare Konsequenz, was auch im Diözesanforum Münster festgestellt wurde: „Die Kirche und die Verbände, Dienste und Einrichtungen sollen ihren Dienst in der Welt fortsetzen und sogar im Rahmen ihrer Möglichkeiten verstärken, weil es auch Anzeichen dafür gibt, dass nicht wenige Menschen, denen es an Orientierung fehlt und die Unterstützung brauchen, darauf warten. Die Identität der Botschaft Jesu Christi muss erhalten und überall dort zurückgewonnen werden, wo sie im allgemein Gesellschaftlichen zu verblassen droht.“
Darum beschließt das Diözesanforum:
„1. Die Verbände, Dienste und Einrichtungen werden aufgefordert, ihr gesellschaftliches Engagement mit allen ihnen verfügbaren Kräften fortzusetzen und nach Notwendigkeit und Möglichkeit auszuweiten.
2. Die Verbände, Dienste und Einrichtungen der Kirche werden ebenfalls aufgefordert, die eigene ideelle Unabhängigkeit zu betonen, um einen durch christliche Solidarität und soziales Engagement geprägten Lebensraum zu bieten, in dem sich die christliche Botschaft und der kirchliche Auftrag glaubwürdig verwirklichen können.
3. Die Verbände, Dienste und Einrichtungen werden weiterhin aufgefordert, das politische Engagement ihrer Mitglieder und ihrer ehren und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Bemühen um die Verwirklichung christlicher Grundsätze in der Welt zu fördern.“
Dazu erklärte Bischof Reinhard Lettmann: „Ich nehme den Beschluss an und gebe ihn zur Umsetzung an die in ihm genannten Adressaten weiter“ (Diözesanforum Münster, Kom. X, S. 28-29).
Wofür also steht die Kirche, wofür stehen katholische Verbände heute? Für mich sind es die Stichworte Diakonie – Dialog – Spiritualität (Gebet).
Katholiken verstecken sich nicht im Schatten des Kirchturms. Sie gehen ganz bewusst mitten in die Gesellschaft hinein.
Der Platz des Christen ist nicht die Nische, sondern er steht ein für den Menschen, besonders für den geschundenen und leidenden.
Papst Johannes Paul II. stellt fest: „Der Mensch ist der Weg der Kirche“ (Enzyklika Redemptor hominis, 1979). Bruder sein und Schwester sein ist heute topaktuell. Daraus erwächst Diakonie, Caritas, soziales Tun.
Katholiken tragen im Herzen eine Botschaft, das Evangelium, das Jesus Christus selbst ist. Jesus Christus hat alle Grenzen gesprengt und ist auf den Menschen zugegangen. Jesus Christus ist der Urimpuls für das Tun der Liebe, die den Christen/die Christin ausmacht.
Deswegen suchen Katholiken Kontakt zu evangelischen Christen und zu Vertretern der großen Weltreligionen. Ihr eigener Glaube drängt sie zum Dialog und zur Offenheit gegenüber den jüdischen Mitbürgern, aber auch den Muslimen und Buddhisten gegenüber. Vor allem aber sind aus dieser Tiefe Kontakte möglich und immer mehr nötig zu allen Menschen guten Willens, auch wenn diese nicht religiös sind. Es geht darum, gemeinsam, aus dem Dialog heraus, für andere ganz konkret zu leben.
Katholiken suchen das Gebet, leben aus der Gemeinschaft des Glaubens, aus der Liturgie. Ohne Kontakt zum lebendigen Gott, ohne Gebet wird der Glaube des einzelnen heute einfach morsch. Wer in unserer Welt als Christ und Christin einen Dienst übernimmt, braucht die Verantwortung im verlässlichen Miteinander eines Verbandes, einer geistlichen Gemeinschaft oder einer Projektgruppe – und dies alles im Raum der Gemeinden. Karl Rahner stellt mit Recht fest: „Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht sein“.
Drei Dimensionen sind es, die den Katholiken und den katholischen Verbänden im neuen Jahrtausend Profil geben:
Diakonie – Dialog – Spiritualität.
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(1) Diözesanforum Münster, Caritas und sozialpolitische Verantwortung – Kirche und Gesellschaft (Kom. X), hg. vom Bischöflichen Generalvikariat Münster, 1998
(2) Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover/-Bonn, 1997.
(3) Diözesanforum, ebd., S. 27
(4) Unter dem Titel „Kritische Zeitgenossenschaft – Standortbestimmung der katholischen Kirche in Deutsch-land“ wird das Zentralkomitee der deutschen Katholiken/Bonn für Dr. Friedrich Kronenberg im Laufe dieses Jahres eine Festschrift veröffentlichen.
(5) vgl. Neubert, E., „gründlich ausgetrieben.“ Eine Studie zum Profil und zur psychosozialen, kulturellen und religiösen Situation von Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland und den Voraussetzungen kirchlicher Arbeit (Mission) (Begegnungen; 13), Berlin 1996 (zu beziehen über: Studien und Begegnungsstätte Berlin, Augustusstr. 80, 10117 Berlin. Vgl. auch Tiefensee, E., Nach dem „religiösen Supergau“ auf dem Weg in eine neue, schwierige „Ökumene“ in: Mehr Himmel wagen – wieviel Religion brauchen wir? (hg. v. J. Röser/Festschrift M. Plate, Freiburg 1999, 43-47
Vortrag vor den katholischen Verbänden der Stadt Oldenburg, Februar 2000