GOTTES WORT IST MEHR ALS DIE BIBEL
Das Wort Gottes im Leben und in der Lehre der Kirche
Hieronymus vergleicht die heilige Schrift mit der Kammer des Bräutigams im Hohenlied, wo es heißt: Der König führt mich in seine Kammer (Hl 1,3).
Hieronymus wagt es sehr deutlich zu sagen, dass die Gegenwart Jesu in der Bibel mit der Gegenwart Jesu in der Eucharistie vergleichbar und gleiche Ehrfurcht nötig macht.
An anderer Stelle sagt er:
Wenn ich hier darstelle, wie die katholische Kirche das Wort Gottes in ihrem Leben und in ihrer Lehre versteht, muss ich mit Ihnen einen weiten Horizont betreten. Vor dem letzten Konzil wurde dieses Thema abgehandelt im Gegenüber und in Absetzung von der evangelischen Theologie, in der das Wort Gottes eine ganz große Rolle spielt. Damals ging es um die Frage, ob es nicht zwei Quellen gäbe, das Wort Gottes und die in der Kirche mündlich bewahrte Tradition. Diese Frage hat sich durch die Theologiegeschichte wie von selbst erledigt. Denn je mehr sich Theologen und Exegeten mit der Entwicklung des Textes der Heiligen Schrift beschäftigt haben, umso mehr wurde ihnen klar, dass wir die Bibel nur „haben“, weil sie immer wieder vorgelesen und auch abgeschrieben wurde und dass die 27 neutestamentlichen Schriften im Verlauf einer Entwicklung von vielen Jahren erst zum endgültigen Kanon der Hl. Schrift durch die Kirche zusammengeführt wurden. Es waren zum Beispiel in der frühen Kirche viele Evangelien im Umlauf, aber nur vier wurden in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen.
Der Ort der Hl. Schrift ist die Gemeinde der Glaubenden. Sie empfing von den Aposteln und den ersten Zeugen des Auferstandenen, deren Namen die Evangelien überliefern, die Kunde, dass Gott in Jesus von Nazareth gesprochen hat, in dessen Taten und Worten, ja dass er sich in unüberbietbarer Weise im Tod und in der Auferstehung Jesu endgültig als der gezeigt, offenbart hat, der allen Menschen seine Liebe, seine Wahrheit, sein Licht, seine Barmherzigkeit, sein Reich, sein Heil allein aus Gnade schenken will. Der Auferstandene Jesus selbst ist es, der seinen Jüngern den Auftrag gibt, die Kunde von Jesus weiterzutragen:
Da trat Jesus auf sie zu und sagte zu ihnen: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt. (Mt 28, 19-20)
Bei Paulus im 1. Korintherbrief können wir direkt sehen, wie die Botschaft und was von ihr weitergegeben wird:
15 1 Ich erinnere euch, Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündet habe. Ihr habt es angenommen; es ist der Grund, auf dem ihr steht. 2 Durch dieses Evangelium werdet ihr gerettet, wenn ihr an dem Wortlaut festhaltet, den ich euch verkündet habe. Oder habt ihr den Glauben vielleicht unüberlegt angenommen? 3 Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, 4 und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, 5 und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. 6 Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. 7 Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. 8 Als letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der "Mißgeburt".9 Denn ich bin der geringste von den Aposteln; ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe. 10 Doch durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir ist nicht ohne Wirkung geblieben. Mehr als sie alle habe ich mich abgemüht - nicht ich, sondern die Gnade Gottes zusammen mit mir. 11 Ob nun ich verkündige oder die anderen: das ist unsere Botschaft, und das ist der Glaube, den ihr angenommen habt. (1 Kor 15, 1-11)
Das, was die ersten Christen, allen voran die Apostel und die großartigen Frauen, die mit Jesus gelebt haben, erfasst haben und weitergaben, war, dass hier jemand spricht, der aus dem Raum Gottes kommt, der aus der Beziehung zum Vater spricht, der etwas weiter gibt, was er empfangen hat: Jesus Christus, seine Worte und seine Taten bezeugen die unendliche Liebe des Vaters. Dies hat sich noch einmal verdichtet im Sterben Jesu, in seiner äußersten Verlassenheit am Kreuz und in seiner Auferstehung, in der lebendigen fast nicht fassbaren Begegnung Jesu mit den ersten Zeugen, Maria Magdalena und andere Frauen und die Apostel. Davon wollten und mussten sie reden, im kleinen Kreis und in der Öffentlichkeit.
Wenn wir den Bibeltext des Neuen Testamentes anschauen, dann müssen wir sagen, dass der heutige Text, den wir jetzt in der deutschen Übersetzung, etwa in der Luther- oder in der Einheitsübersetzung, in der Hand haben, auf dem Griechischen beruht, das in Tausenden von Handschriften bis heute zu uns gekommen ist. Das ist eine echte spannende Wissenschaft, der es darum geht, die gegenseitige Abhängigkeit unterschiedlichster Textabschriften zu vergleichen, zu behandeln und so auch in etwa an die ursprüngliche Textgestalt des Neuen Testamentes heran zu kommen. Textsicherung, Textgeschichte, Handschriftenkunde sind dabei sehr hilfreich.
Dieses Wissen nützt jedoch wenig, wenn diese Texte nicht als Dokument des Glaubens verstanden werden. Denn diese Texte wurden weitergegeben von Menschen, die in diesen Texten Christus begegnet sind, weil sie in ihnen den Glauben gefunden haben. Also auch der Text des Neuen Testamentes ist eingebettet in die Kirche und in die Kirchen bis heute.
Ich gehe von drei jüngeren Dokumenten aus:
Die dogmatische Konstitution über die Offenbarung, die das Konzil 1965 verabschiedet hat, war ein Durchbruch in der Kirche zugunsten des Wortes Gottes in der Bibel. In diesem Konzil hat sich die katholische Kirche zum ersten Mal ausdrücklich mit der Bibel beschäftigt und dazu ein bewundernswertes Dokument veröffentlicht. Solches hat in dieser Weise bis dahin noch kein Konzil getan. Es steht in unmittelbarem Zusammenhang auch mit seinem Dekret über den Ökumenismus, über die Ökumene, die bei diesem Konzil als drängende, neue Aufgabe für die Kirche entdeckt und bekräftigt wurde. Im Ökumenismusdekret heißt es:
„Die heilige Schrift ist gerade beim Dialog ein ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet (…).
Die Liebe und Großschätzung, ja fast kultische Verehrung der Heiligen Schrift führen unsere Brüder zu einem unablässigen und beharrlichen Studium dieses heiligen Buches. Unter der Anrufung des Heiligen Geistes suchen sie in der Heiligen Schrift Gott, wie er zu ihnen spricht in Christus, der von den Propheten vorherverkündigt wurde und der das für uns fleischgewordene Wort Gottes ist. In der Heiligen Schrift betrachten sie das Leben Christi und was der göttliche Meister zum Heil der Menschen gelehrt und getan hat, insbesondere die Geheimnisse seines Todes und seiner Auferstehung“
(Nr. 21)
Das Konzil legt mit der Konstitution über die Offenbarung eine klare Lehre über die Heilige Schrift vor, die von der Inspiration der Bibel ausgeht und in Gott den Urheber dieses Buches sieht, während seine Verfasser menschliche Autoren sind. Inhalt der Heiligen Schrift ist die Wahrheit, die Geschichte Gottes mit den Menschen und das Christusereignis als der absolute Höhepunkt der Heilgeschichte Gottes mit den Menschen. Weil es Menschen sind, die schreiben, ist es wichtig, die Aussageabsicht der Schreiber herauszuarbeiten und auch die gewählte literarische Gattung zu beachten. Das Konzil unterscheidet dichterische und poetische Gattungen sowie verschiedene Formen geschichtlicher Darstellung der Heilsereignisse. Es wird sogar von Fehlern gesprochen, die in der Bibel enthalten sind (man denke daran, dass die Sonne sich nicht um die Erde dreht, sondern dass es umgekehrt ist; man denke an den Schöpfungsbericht und die Erkenntnisse der Naturwissenschaften). Solche Texte, wenn sie außerhalb des Kontextes, in dem sie geschrieben und verfasst worden sind, gelesen werden, können zu Fehlern und Irrtümern in der Interpretation führen.
Hören wir einmal, was das Konzil in der Konstitution über die Offenbarung sagt:
Das von Gott Geoffenbarte, das in der Heiligen Schrift enthalten ist und vorliegt, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden; denn aufgrund apostolischen Glaubens gelten unserer Heiligen Mutter, der Kirche, die Bücher des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit, mit allen ihren Teilen, als heilig und kanonisch, weil sie, unter der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben, Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche übergeben sind. Zur Abfassung der Heiligen Bücher hat Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten, all das und nur das als echte Verfasser schriftlich zu überliefern, was er – in ihnen und durch sie wirksam – geschrieben haben wollte. (Nr. 11)
Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kund tun wollte. Um die Aussageabsicht zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird hier anders dargelegt und ausgedrückt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Verfasser den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend (…) hat ausdrücken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat. Will man wirklich verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muss man schließlich genau auf die vorgegebenen Umwelt-bedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auch die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren. (Nr. 12)
Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muss, indem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, dass man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens. (Nr. 12)
Denn Gottes Worte, durch Menschenzungen formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters Wort durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist. (Nr. 12)
Die biblischen Verfasser aber haben die vier Evangelien redigiert, indem sie einiges aus dem vielen auswählten, das mündlich oder auch schon schriftlich überliefert war, indem sie anderes zu Überblicken zusammenzogen oder im Hinblick auf die Lage in den Kirchen verdeutlichten, indem sie schließlich die Form der Verkündigung beibehielten, doch immer so, dass ihre Mitteilungen über Jesus wahr und ehrlich waren. (Nr. 19)
Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi, ohne Unterlass das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht. In ihnen zusammen mit der Heiligen Überlieferung war sie immer und sieht sie die höchste Richtschnur ihres Glaubens, weil sie, von Gott eingegeben und ein für alle Male niedergeschrieben, das Wort Gottes selbst unwandelbar vermitteln und in den Worten der Propheten und der Apostel die Stimme des Heiligen Geistes vernehmen lassen. (Nr. 21)
Der Zugang zur Heiligen Schrift muss für die an Christus Glaubenden weit offen stehen. (Nr. 22)
Das Konzil zitiert auch Hieronymus: „Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen“.
Diese Grundgedanken der Konstitution über die Offenbarung wurden vom gleichen Konzil selbst umgesetzt in der Erneuerung der Liturgie, der heiligen Messe, des Stundengebets, der Sakramentenspendung. In diesem Bereich kam es zu sehr starken Veränderungen.
Es wurde zunächst festgelegt, dass es bei jeder Lesung des Wortes Gottes eine vom Vorsteher vorzubereitende Auslegung gibt. Es soll wenigstens am Beginn des Gottesdienstes eine in diesem Sinn verfasste Einführung geben.
Sodann, damit das Wort Gottes einen ihm gebührenden Platz im Gottesdienst bekommt und damit beide Testamente wesentlich umfangreicher als bisher der Gemeinde vermittelt und vorgetragen werden, wurde vereinbart, die altkirchliche Leseordnung abzulösen.
Im Laufe der Reform der Liturgie wurde dann in den Jahren nach dem Konzil folgendes festgelegt: Im Laufe von drei Jahren sollen an den Sonntagen alle vier Evangelien verkündet werden. Darum gibt es jetzt das Matthäusjahr, das Markusjahr und das Lukasjahr. Johannes ist der Fasten- und Osterzeit zugeordnet. An jedem Sonntag soll es eine Lesung aus dem Alten Testament, eine Lesung aus den Briefen, der Apostelgeschichte und der Offenbarung des Johannes geben sowie eine Lesung aus einem der vier Evangelien.
An den Wochentagen wird die sogenannte Bahnlesung eingeführt. Damit ist gemeint, dass von Tag zu Tag fortlaufend ein Bibeltext weitergelesen wird und so in den Wochentagsmessen innerhalb einer oder zwei Wochen ein ganzes Buch, ein ganzer Brief vorgelesen wird. Auch an den Wochentagen wird dem Alten Testament ein großer Platz eingeräumt, fast jede zweite Woche sind in der ersten Lesung, also vor dem Evangelium, Texte aus dem Alten Testament ebenfalls in einer Bahnlesung vorgesehen. Auch beim Sakramentenempfang, der Taufe, der Firmung, der Krankensalbung und der Eheschließung, sollen jeweils der Spendung des Sakramentes ein Text aus der Bibel und eine Auslegung, also ein Predigtwort, vorangehen.
Durch die Liturgiereform hat das Wort Gottes in der katholischen Kirche, besonders in deren Liturgie, einen ganz neuen Platz bekommen. Das hat sich auch ausgewirkt in den dann erfolgten Übersetzungen der Bibel in zahlreiche Sprachen, um eben die Bibel möglichst vielen Menschen in der Muttersprache zugänglich zu machen.
Das zweite Dokument, auf das ich mich hier beziehe, ist das Nachsynodale Apostolische Schreiben Verbum Domini. Nach der Bischofssynode 2009, die sich dem Wort Gottes im Leben der Kirche widmete, hat Benedikt XVI. dieses Schreiben verfasst. Es trägt eben den bezeichnenden Titel „Verbum Domini - Das Wort des Herrn“. Es ist erstaunlich, was wir in diesem Dokument alles lesen können. Es greift in einer hervorragenden Weise die Anliegen des II. Vatikanischen Konzils auf und geht gleichzeitig noch einen Schritt weiter.
Überraschend ist die Auseinandersetzung mit der sogenannten fundamentalistischen Exegese, die an einer übertriebenen Wörtlichkeit der Bibelauslegung festhält und die in vielen Kreisen, auch innerhalb und außerhalb der Kirchen den Menschen zu schaffen macht. Ich möchte das ganze Zitat einbringen:
In diesem Zusammenhang möchte ich – so schreibt der Papst - die Aufmerksamkeit vor allem auf viele Lesarten richten, die das wahre Wesen des heiligen Textes missachten, indem sie subjektivistische und willkürliche Interpretationen unterstützen. Die von der fundamentalistischen Lesart befürwortete „Wörtlichkeit“ ist nämlich in Wirklichkeit ein Verrat, sowohl am wörtlichen als auch am geistigen Sinn, indem sie den Weg für Instrumentalisierungen verschiedener Art öffnet, z.B. durch die Verbreitung kirchenfeindlicher Auslegung des Schrift selbst. Der problematische Aspekt dieses fundamentalistischen Umgangs mit der Heiligen Schrift liegt darin, dass sie den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis … Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich zitiert worden wäre. Er sieht nicht, dass das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind. (Nr. 44)
Der Papst geht weiterhin in diesem Zusammenhang auf ein schwieriges Thema ein. Er setzt sich mit den sogenannten dunklen Stellen in der Heiligen Schrift auseinander, wo - scheinbar im Auftrag Gottes - von Mord und Totschlag die Rede ist, von heiligen Kriegen, auch von Bannfluchen, die für viele einfach nicht zu verstehen sind, weil sie im Widerspruch zu den Geboten Gottes zu stehen scheinen. Dazu lesen wir in Verbum Domini:
Im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament hat sich die Synode auch mit Thema der Bibelstellen auseinandergesetzt, die aufgrund der darin gelegentlich enthaltenen Gewalt und Unsittlichkeit dunkel und schwierig erscheinen. Diesbezüglich muss man sich vor Augen führen, dass die biblische Offenbarung tief in der Geschichte verwurzelt ist. Der Plan Gottes wird darin allmählich offenbar und wird erst langsam etappenweise umgesetzt, trotz des Wiederstandes der Menschen. Gott erwählt ein Volk und erzieht es mit Geduld. Die Offenbarung passt sich dem kulturellen und sittlichen im Niveau weit zurückliegender Zeiten an und berichtet daher von Tatsachen und Bräuchen, z. B. von Betrugsmanövern, Gewalttaten, Völkermord, ohne deren Unsittlichkeit ausdrücklich anzuprangern. Das lässt sich aus dem historischen Umfeld heraus erklären, kann jedoch den modernen Leser überraschen, vor allem dann, wenn man die vielen „dunklen“ menschlichen Verhaltens vergisst, die es in allen Jahrhunderten immer gegeben hat, auch in unseren Tagen. Im Alten Testament erheben die Propheten kraftvoll ihre Stimme gegen jede Art von kollektiver oder individueller Ungerechtigkeit und Gewalt. Dadurch erzieht Gott sein Volk in Vorbereitung auf das Evangelium. Es wäre daher falsch, jene Abschnitte der Schrift, die uns problematisch erscheinen, nicht zu berücksichtigen. Vielmehr muss man sich bewusst sein, dass die Auslegung dieser Stellen den Erwerb entsprechender Fachkenntnisse voraussetzt, mittels einer Ausbildung, die die Texte in ihrem literarischen und geschichtlichen Zusammenhang und in christlicher Perspektive liest.
Deren endgültiger hermeneutischer Schlüssel ist „das Evangelium und das neue Gebot Jesu Christi, das im Ostergeheimnis Erfüllung gefunden hat. Ich fordere daher die Theologen und die Seelsorger auf, allen Gläubigen zu helfen, auch an diese Stellen heranzugehen und zwar durch eine Lesart, die ihre Bedeutung im Licht des Geheimnisses Christi offenbar werden lässt“. (Nr. 42)
Das Wort Gottes wird in der lebendigen Überlieferung der Kirche weitergegeben. (…) Das macht deutlich, warum wir in der Kirche die Heilige Schrift hoch verehren, obgleich der christliche Glaube keine „Buchreligion“ ist: Das Christentum ist die „Religion des Wortes Gottes“, nicht „eines schriftlichen, stummen Wortes, sondern des menschgewordenen, lebendigen Wortes“. Daher muss die Schrift als Wort Gottes verkündigt, gehört, gelesen, aufgenommen und gelebt werden, und zwar in der Spur der apostolischen Überlieferung, mit der es untrennbar verknüpft ist. (Nr. 7)
In diesem Zusammenhang möchte ich das Verhältnis von Kirche und Wort Gottes kurz streifen. Das Konzil unterstreicht ausdrücklich, dass das Wort Gottes oberste Regel der Kirche ist (Suprema Regula) (Konstitution über die Offenbarung, Nr. 21). Bei dieser Stelle muss ich immer daran erinnern, dass sich Johannes XXIII. beim Beginn des Konzils zeichenhaft verhalten hat: Als er zur Eröffnung des Konzils mit den 2500 Bischöfen eingezogen ist, im Jahr 1962, hat er auf der letzten Wegstrecke in St. Peter eine aufgeschlagene Bibel auf seinem Kopf getragen. Er wollte deutlich machen, dass der Papst nicht über dem Wort Gottes und über der Schrift steht, sondern darunter.
Zum Verhältnis von Hl. Schrift und Kirche lehrt der Katechismus der katholischen Kirche zitieren: „Die Heilige Schrift muss mit Hilfe des Heiligen Geistes und unter Anleitung des Lehramtes der Kirche gemäß den folgenden drei Kriterien gelesen und ausgelegt werden:
1. Auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achten
2. Die Schrift in der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche lesen
3. Auf die Analogie des Glaubens achten, d.h. auf den Zusammenhang der Glaubenswahrheiten untereinander
Die Frage, was das Lehramt im Blick auf die Bibel leisten kann, ist unter den Konfessionen bis heute umstritten. Gemeinsam können wir sagen, dass es immer darauf ankommt, die Bibel auf dem Hintergrund der Gemeinschaft der ganzen Kirche zu lesen, im Fokolar würde man sagen, die Bibel in der lebendigen Erfahrung des Auferstandenen, also mit Jesus in der Mitte zu lesen. In diese Richtung verweisen die genannten drei Punkte.
Es sei noch erwähnt, dass auch das Dokument Verbum Domini ausdrücklich von der Sakramentalität der Heiligen Schrift spricht und dabei den von mir oben schon aufgeführten Hieronymustext zitiert.
Wichtig finde ich auch den Hinweis in Verbum Domini, dass es eine weitere Quelle gibt, dem Wort Gottes zu begegnen. Es sind die Heiligen, also jene Frauen und Männer der Kirche, die ganz aus dem Wort Gottes gelebt haben und in ihrem Leben ein bestimmtes Wort Gottes umgesetzt haben. So haben z.B. Franz von Assisi das Wort - "selig die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich" - oder Teresa von Kalkutta das Wort – "was ihr dem geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan" – buchstäblich gelebt und so vielen das WORT durch das gelebte Leben verkündigt und zugänglich gemacht.
Zusammenfassend möchte ich noch einmal feststellen: Noch nie hat ein Konzil oder überhaupt das höchste Lehramt der katholischen Kirche so intensiv und so ausführlich über das Wort Gottes und über die Heilige Schrift gesprochen. Die Konstitution über die göttliche Offenbarung lässt die Forschungsfreiheit der Exegeten bestehen und erkennt die Legitimität ihrer wissenschaftlichen Methoden an. (…) Sie unterbindet den ökumenischen Dialog über Schrift und Tradition nicht. Darüber hinaus entwirft sie ein Programm für das christliche Leben und für die Theologie, das auszuführen nicht wenig Mühe und Arbeit kosten wird. (2)
Ich möchte schließen mit einer Frage, die sich heute stellt: Kann Gott denn überhaupt sprechen? Und, wenn er spricht, können wir sein Wort vernehmen? Wieso geben wir dem Neuen Testament diesen Rang, dieses Gewicht, diese Bedeutung?
Wie schon aus der Traditionsgeschichte deutlich wird, steht hinter dem Wort des Neuen Testamentes das Zeugnis der Glaubenden, auch das Zeugnis der Urkirche. Der Glaube, der sich am Wort Gottes entzündet, ist gleichzeitig die zentrale Optik, in der diese Schrift verstanden werden kann. Und doch: bleiben wir bei dieser Frage. Menschen in der säkularisierten Welt haben das Empfinden, dass sie weit weg sind von Gott und dass sie auch seine Sprache nicht verstehen, ja nicht einmal aufnehmen können, ja sich sogar für unfähig halten, in diesen Raum Gottes vorzudringen. Wie kann Gott sprechen, wie ist auf sein Wort Verlass?
Da treffen sich unsere Fragen und unsere Erfahrungen auch mit den Erfahrungen des Judentums, des Volkes Israel und des Alten Testamentes. Von Abraham über Mose bis zu den Propheten, nennen wir nur einmal Jeremija, Jesaja und Ezechiel, hat sich etwas ganz tief eingegraben ins Bewusstsein des Bundesvolkes, nämlich dass Gott gesprochen hat und dass es Menschen gibt, die sein Wort aufgenommen und wahrgenommen haben. Aus diesem Bundesgedanken hat sich ein Volk entwickelt, eine Gemeinschaft der Glaubenden. In dieser Gemeinschaft der Glaubenden ist Gott zwar nicht verfügbar, aber erkennbar und auf eine gewisse Weise auch hörbar. Nur über solche Menschen kann die Kunde vom Wort Gottes andere Menschen erreichen. So geschah es bei Jesus von Nazareth, in dem seine Freunde das Wort Gottes entdeckten. So ist es auch heute, wenn Fragende auf Menschen stoßen, in denen das Wort Gottes lebendig ist.
Dieser Glaube, dieses Zeugnis gläubiger Menschen, er ist fassbar, er ist beschreibbar, er hat seinen Ort. Darum ist die Bibel bis heute eine Herausforderung, für manche sogar ein Ärgernis. Ich kann in der Bibel nur Gott finden, nur begegnen, wenn ich glaube, wenn ich mich auf ihn einlasse, wenn ich meine Fragen zunächst zurückstelle und mich treffen lasse von dem Zeugnis, das darinnen ist.
Es ist dringend erforderlich, dass wir mit fragenden und kritischen Menschen von heute ins Gespräch kommen. Dafür stehen auch Namen wie z.B. der Philosoph und militante Atheist Richard Dawkins oder der Philosoph Herbert Schnädelbach, Hamburg. Letzterer bekannte erst kürzlich seinen Atheismus und sagte für mich überraschend gleichzeitig: "Ein aufrichtiger Atheismus bleibt immer "im Bann des Monotheismus". (3)
Martin Walser, der bedeutende Literat und Schriftsteller sagte bei einer öffentlichen Diskussion, dass er Gott zwar nicht kenne, aber dass ihm Gott fehle.
Umso wichtiger ist es, dass wir unsere eigene, persönliche Erfahrung mit Gott und mit seinem Wort machen, dass wir selber heute mit vollem Bewusstsein sagen können: Gott ist nicht stumm, er spricht, er sagt nicht irgendetwas, er sagt sich, er teilt sich selbst mit in Jesus Christus und im Wort der Schrift. Und vergessen wir nicht: Wenn das Wort Gottes in unser Leben eindringt, kann es für andere Licht sein, Verkündigung.
______________________________________________________
(1) Vgl. Wilfried Hagemann, Wort als Begegnung mit Christus. Die christozentrische Schriftauslegung der Kirchenvaters Hieronymus, Trier 1970, S. 163 – 184
(2) K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg 1966, Kommentar zur Konstitution über die Offenbarung, S. 366
(3) Zu den dringlichsten Anfragen an den biblischen Gottesglauben zählt für den Philosophen das "Theodizee-Problem", also die Rechtfertigung Gottes angesichts der menschlichen Leidensgeschichte. Sämtliche theologische Antworten wirken angesichts etwa der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts "kläglich". Das Theodizee-Problem müsse vielmehr ernst genommen werden als "begründeter Zweifel an der Glaubwürdigkeit unserer religiösen Überlieferung" - diese Zweifel seien es auch, "die geeignet sind, nachdenkliche Menschen zu Atheisten zu machen, sei es im Sinn des Glaubens, dass Gott nicht existiert, oder des Nicht-glauben-Könnens, dass er existiert." (Kathpress 9.9. 2012)
Vortrag beim Studientag im Ökumenischen Begegnungszentrum in Ottmaring, 22. September 2012