Wen(n) Gott ruft

RINGEN UM KLARHEIT

Dass ich Priester sein darf in der katholischen Kirche, macht mich richtig froh. Ich lebe sehr gerne in dieser Berufung, die mich in unverwechselbarer persönlicher Weise vor Gott stellt und mich durch diesen Gott mit einer großen Zahl unterschiedlichster Menschen in Verbindung bringt. Oft werde ich einfach angesprochen, von mir bis dahin unbekannten Leuten, in der Bahn, im Flugzeug, auf der Straße oder auch in einer Kirche. Scheinbar harmlose Gespräche entwickeln sich zu tiefen persönlichen Begegnungen, häufig gerade dann, wenn das Gegenüber merkt, dass ich Priester bin. Solche Begegnungen klingen lange in mir nach, so etwa auch jene, als mich im Jahr 1965 mitten im Getriebe eines römischen Stadtbusses der Linie 62 eine junge deutsche Dame ansprach mit der erstaunlichen Bitte, ob sie mich zu einem Beichtgespräch aufsuchen dürfe. Als sie dann ein paar Tage später in das Kolleg kam, wo ich als junger weiterstudierender Priester wohnte, konnte ich sie auch fragen, warum sie mich angesprochen habe. Die Antwort, „weil Sie sich mit Ihrem Mitbruder so froh über Gott unterhalten haben“, verblüffte mich, zeigte mir aber auch, dass mein damaliger Entschluss, den Glauben nicht allein für mich zu leben, sondern in Gemeinschaft den Weg des Glaubens zu wagen, auch für andere wertvoll und anziehend sein konnte. So kam es, dass ich diese junge Frau auf ihrem persönlichen Glaubensweg und auf ihrem Weg zur Ehe mit einem Italiener begleiten durfte. Beide - auch weil sich beider Eltern von ihnen wegen dieser Beziehung zurückgezogen hatten - waren so arm, dass die kirchliche Trauung im kleinsten Kreise stattfand; mir machte es nichts aus, sie in einem von mir angemieteten Auto zur Kirche zu fahren und das feierliche Mittagessen für sieben Personen auszurichten. Heute sind die beiden wohl situiert, haben drei Kinder und sind Säulen der Kirche in den Castelli Romani.

Bei einer Kur, etwa 25 Jahre später, die aufgrund einer mir in den Tropen „zugeflogenen“ Krankheit beim Besuch eines befreundeten Missionars am Amazonas nötig war, wollte ich Mensch sein unter den Menschen, aber auch nicht verleugnen, Priester zu sein. Bei den gymnastischen Übungen auf der Matte und im Schwimmbecken entwickelten sich viele Gespräche, aber auch gegenseitige Hilfen und echtes Vertrauen. Wie von selbst gingen meine „Mattennachbarn“, die bosnische Speisesaalaufsicht, die Abteilungsleiterin der Badeabteilung und der behandelnde Arzt mit in einen Gottesdienst, den ich jeden Abend in einem nahen Frauenkloster feierte. Meine kleine Anfrage bei den Klarissen-Eremitinnen, ob sie sich über eine sonst bei ihnen wegen des Priestermangels dort nicht mögliche tägliche Eucharistiefeier freuen würden, fand ein positives Echo. Binnen weniger Tage versammelte sich dort eine täglich wachsende Schar von Christinnen und Christen, von den Bauernhöfen der Nachbarschaft, aus der nahen Stadt und eben auch aus der Klinik. Der Gottesdienst und das darin eingebettete kleine Wort zum Evangelium brachte eine ganz lebendige Gemeinschaft hervor, die sich viel zu erzählen hatte und wie von selbst anfing, ganz konkret miteinander zu teilen.

Gott, für den zu leben ich mich entschlossen hatte, brachte und bringt mich immer neu, oft ganz unerwartet und überraschend mit unterschiedlichsten Menschen in Verbindung. Wiederholt durfte es mein Beitrag sein, diese Menschen zu Gott zu führen und mit ihnen Gemeinde zu werden.

Wie ist es dazu gekommen, dass ich diesen Weg, den Weg zum Priestertum eingeschlagen habe?

Ich hatte schon früh den Gedanken verspürt, Priester zu werden - so würde ich heute sagen. Aber ich hatte lange Zeit einfach Angst, ich traute es mir nicht zu. Ich war zu schüchtern. Ich wurde rot, wenn ich in der Schule aufgerufen wurde. Ich war unsicher, tollpatschig, verstand viele Zusammenhänge des Lebens nicht. Aber in meinem Inneren war eine Offenheit da für Gott, auch eine Freude über ihn. Wenn der Kaplan zu uns nach Hause kam, merkte ich, wie froh er war. Das zog mich immer an. Das gleiche fiel mir an meinem Onkel Anton auf, dem Bruder meiner Mutter, der Priester war. Wenn er im letzten Krieg als Sanitätssoldat auf Heimaturlaub war, strahlte er eine solche Freude aus, dass ich sehr beeindruckte war auch als Kind, das ich damals war. Als ich ihn später in seiner Diasporagemeinde in Schleswig-Holstein besuchte, erschütterte mich das harte Schicksal eines relativ einsamen Diasporapastors mit seinen weiten Wegen von Gottesdienstort zu Gottesdienstort oder mit der kleinen Schar der sich zum Gottesdienst Versammelnden keineswegs. Vielmehr beeindruckte mich seine Art, immer neu aus der Kraft des Glaubens für andere da zu sein und darin eine besondere Freude zu finden. Die gleiche Kraft des Glaubens entdeckte ich auch bei meinen Eltern, die ihrem Leben als Christen eine persönliche Ausrichtung gaben und keine falschen Kompromisse machten. Was sie uns Kindern von ihren Leiden in der Nazizeit erzählten, den heimlichen Hilfen für jüdische Mitbürger oder polnische Zwangsarbeiter oder auch über die Verbreitung der gefährlichen Predigten des Bischofs von Münster, dem späteren Kardinal von Galen, hat mich tief berührt, aber auch veranlasst, wenn es darauf ankommt, alles für Gott einzusetzen.

Was für ein Drama kam auf meine Eltern zu, als unsere Familie, Vater und Mutter und fünf Kinder, sechs Jahre bis einen Monat alt, innerhalb weniger Stunden am Tag des Einmarsches der amerikanischen Truppen aus der Wohnung vertrieben wurde und schließlich noch am selben Tag, dem 10. April 1945, eine Notunterkunft in der Klausur des Ursulinenklosters fand. Meine Eltern aber nutzten diese Situation, die Schwestern zu bitten, ihren Ältesten auf die Frühkommunion vorzubereiten. Am Sonntag, dem 10. Juni, war es dann soweit. Einfach, ohne besondere festliche Umrahmung, in der Gemeindemesse, an der Seite der Eltern und Großeltern ging ich zur ersten heiligen Kommunion. Meine Großmutter begleitete mich am Tag zuvor zur ersten heiligen Beichte und gab dem Propst im Beichtstuhl bei ihrer Beichte vor mir hilfreiche Hinweise, wie er mich ansprechen solle. Drei Monate später, - ich ging in Ermangelung geeigneter Schuhe barfuss sonntags zur Kirche und zur Kommunion - , schenkte mir eine mir unbekannte Frau Schuhe, die mir zunächst passten und die ich dann drei Jahre lang trug, was man meinen etwas gekrümmten Zehen noch heute ansieht. Diese Frau konnte es einfach nicht mit ansehen, dass da jemand barfuss an die Kommunionbank kam, wo sie doch zu Hause noch Schuhe von ihrem älteren Sohn hatte.

Die rechtzeitige Hinführung zur ersten heiligen Kommunion weckte in mir ein starkes Interesse an der Eu-charistie und gab mir die Chance, sehr früh in Kontakt mit der Kirche und ihren Sakramenten zu kommen. Dies wurde verstärkt, als mir meine Eltern ein lateinisch deutsches vollständiges Messbuch schenkten, der erste nach dem Krieg erschienene „Schott“.

Mein Mitleben mit der Kirche und der Gemeinde bekam einen weiteren Schub, als unsere Familie 1952 von Duderstadt nach Wilhelmshaven zog, weil mein Vater sich beruflich veränderte. Ich weiß noch wie heute, was das für ein Schock war. Ich kam von einer Kleinstadt in eine vom Krieg völlig zerstörte Großstadt, aus dem katholisch geprägten Eichsfeld in die Diaspora, wo etwa 10 % katholisch, etwa 60 % evangelisch und viele ohne Religion waren. Ich hatte die gewohnte Umgebung und alle Freunde verloren. Ich fand mich in einer Schulklasse wieder, in der ein raues Klima vorherrschte, in der von 26 Schülern außer mir noch zwei Schüler katholisch waren, und sieben, die echten Kontakt zur evangelischen Kirche hatten, aber auch zwei, die nicht getauft waren. Von meinen Lehrern hatten vielleicht zwei ein Verhältnis zu ihrer evangelischen Kirche. Zum katholischen Religionsunterricht kamen wir aus zwei Jahrgängen und sechs Klassen zusammen. In dieser Situation erlebte ich den Glauben an Gott als starke Kraft und die Kirche, auch wenn der Gottesdienst in einer Baracke stattfand, als ein echtes Stück Heimat. Mir wuchsen irgendwie neue Kräfte zu.

In der Schulklasse traf ich in den ersten Monaten auf erbitterten Widerstand, teils wegen des Glaubens, mehr noch wegen einer Grundhaltung, von der ich heute sagen würde, dass sie grundehrlich war und die mich einfach dazu brachte, auch den Lehrern unbedingt offen und kooperativ zu begegnen. Das legte sich erst, als die Klassenkameraden begriffen, dass ich mich auch für sie wirklich einsetzen wollte. Ich ergriff die Initiative, zusammen mit einem älteren Schulkameraden, den ich im Religionsunterricht getroffen hatte, eine katholische Jugendgruppe an der Schule zu gründen, eine Schülergruppe im Bund Neudeutschland, die ich bis zu meinem Abitur weiterführte und in die ich viel Kraft investiert habe.

In den Jahren an der Schule in Wilhelmshaven setzte ein starkes Ringen ein. Mich beunruhigte, dass ich so viele gute, echte Leute unter meinen Klassenkameraden und unter meinen Lehrern erlebte, die nicht an Gott glaubten, denen die Kirche wenig oder nichts bedeutete oder, die die Kirche, wie es etwa im Geschichtsunterricht der Geschichtslehrer tat, negativ darstellten. Manche Schulbücher von damals tragen das Christuszeichen, weil ich mir in vielen Gebeten und heimlichen Besuchen in der katholischen Kirche im Gebet ein neues Ja zu Gott, zu Jesus Christus und zu seiner Kirche erkämpft habe. Immer wieder musste ich erleben, wie dann die Fragen neu aufbrachen. Besonders litt ich unter der Kirchenspaltung, die sich damals noch in einer fast hermetischen Abriegelung der beiden christlichen Konfessionen auswirkte. Das Wort Ökumene kannten wir noch nicht, wohl begeisterte mich ein Kaplan, der beiläufig erwähnte, dass er, als die Hostien für die Messe ausgegangen seien, diese sich beim evangelischen Pfarrer geholt habe. Mich beeindruckte, wenn evangelische Klassenkameraden bei Schullandaufenthalten morgens im Bett über mir die Bibel lasen, während sie sich wunderten, dass ich am Sonntag unbedingt zur Messe gehen wollte.

In diesem Ringen, in diesem Hin und Her entwickelte sich in mir langsam die Ahnung, dass ich vielleicht Priester werden könnte, ein Gedanke, den ich wirklich gut fand, dem zu folgen ich mich allerdings nicht traute, weil ich einfach unsicher war und mich für eine solch hohe Aufgabe für ungeeignet hielt. Da erreichte mich eines Tages, als ich schon in Klasse 11 war, ein Telefonanruf. Ich solle ins Pfarrhaus kommen, weil der Vikar versetzt würde. Im Pfarrhaus herrschte eine Aufregung, weil, wie damals 1955 üblich, die Versetzung eines Vikars oder Kaplans innerhalb von fünf Tagen über die Bühne ging. Mitten in die Vorbereitung des Umzugs hatte der Vikar noch einige Jugendliche, Jungen und Mädchen, zu sich eingeladen, um mit ihnen ein kurzes Einzelgespräch zu führen. Er kam direkt mit der Sprache heraus und sagte mir, dass er sich vorstellen könne, dass ich die Berufung zum Priester hätte. Wir hätten zwar nie darüber gesprochen, aber er habe mich im Gottesdienst, in der Jugendrunde und im Religionsunterricht erlebt und kennen gelernt. Er fühle sich gedrängt, mir das zu sagen, weil er mich ermutigen wolle. Er spreche erst jetzt beim Abschied davon, weil er so sicher sei, dass ich frei bliebe, wie ich mich entscheiden würde. Er ginge jetzt weg, und sonst wisse niemand etwas von diesem Gespräch.

Mich hat dieses kurze Gespräch sehr getroffen und froh gemacht. Ich fühlte mich zwar vor den Kopf gestoßen, aber auch irgendwie wach gemacht. Ich verließ sofort das Pfarrhaus und konnte zunächst mit niemandem darüber sprechen. So weiß ich auch nicht, was der Vikar mit den anderen besprochen hat. Aber jetzt war das Thema Priester und das Thema Berufung auf dem Tisch und ich merkte, dass mich das alles interessiert und dass der Gedanke daran mich froh gemacht hat. Der Wunsch, mit Gott ganze Sache zu machen, verstärkte sich mehr und mehr, bis ich dann eines Tages den Mut fand, meine Mutter und meinen Vater davon in Kenntnis zu setzen. Beide hatten uns Kindern immer wieder gesagt, dass sie uns bei der Berufswahl freie Hand lassen möchten, wohl auch deswegen, weil sie ihrerseits bei ihrem Abitur zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929/30 keineswegs frei waren, sondern an ihren eigenen Interessen vorbei das wählen mussten, was gerade möglich war. Wir Kinder haben dann erlebt, wie unsere Eltern ihren erst aufgedrängten Beruf geliebt haben, ihn aber auch nutzten, um darin sich vom Glauben und vom Christsein her ganz zu entfalten. Meine Mutter freute sich sehr, als ich ihr einmal spätabends, nachdem das Abwaschen in der Küche und das Decken des Frühstückstisches beendet war und die jüngeren Geschwister schon zu Bett gegangen waren, von den Fragen, Plänen und Wünschen erzählte, die mich innerlich umtrieben und in Richtung Theologie und Priestertum gingen. Als ich einige Tage später mit meinem Vater darüber redete, merkte ich, dass er sich echt bemühte, mich zu verstehen und den sich abzeichnenden Weg zu unterstützen; ich merkte aber auch, dass es ihn etwas kostete, dass der älteste Sohn nicht in seine beruflichen Fußstapfen treten würde und somit auch nicht die von ihm ersehnte, gerade gegründete eigene Apotheke übernehmen würde.

Das erste Semester, in Münster, war eine Berg- und Talbahn. Mir wurde schnell bewusst, dass ich mich mit meiner Berufswahl auf eine ziemlich radikale Sache eingelassen hatte. Würde es mir gelingen, wirklich so zu glauben, dass ich mein ganzes Leben auf Gott setzen konnte? War ich für die Ehelosigkeit geeignet? Hatte ich die nötige Kontaktfähigkeit, um auf Menschen zuzugehen? War ich in der Lage, die Mühe und Last des priesterlichen Alltags, auch die massiven Enttäuschungen, die mit diesem Weg verbunden sind, auf mich zu nehmen und auszuhalten? Auf der anderen Seite waren die theologischen Vorlesungen eine richtige Wonne für mich, weil sie völlig neue Denkhorizonte erschlossen. Ich lernte Luther kennen als eine kontroverse, aber auch positive Gestalt. Ich verstand, dass die Kirchenspaltung von 1054 mit der orthodoxen Kirche und die Kirchenspaltung des 16. Jh. mit der evangelischen Kirche sich auch durch die Fehler der damals handelnden Personen, Papst und Bischöfe eingeschlossen, erklären lassen, was für mich als Konsequenz den Gedanken aufleuchten ließ, dass die Spaltungen heilbar und überwindbar sind - Gedanken, die frühere persönliche Fragen klärten und mir neue Freude brachten am Leben mit der Kirche. Unvergesslich ist mir auch die Vorlesung des Missionswissenschaftlers, der durch seine Vorlesung über die Liebe zu Gott in den nichtchristlichen Religionen, besonders im Islam, Perspektiven eröffnete, die mich bis heute bewegen.

Dass mir am Ende dieses ersten Semesters das Angebot gemacht wurde, in Rom die Studien fortzusetzen, war für mich eine ziemlich große Überraschung. Durch das Leben im deutsch ungarischen Kolleg und das Studium an der von Jesuiten geleiteten päpstlichen Universität Gregoriana, unter den Päpsten Pius XII., Johannes XXIII. und Paul VI., in der unglaublichen Umbruchszeit des II. Vatikanischen Konzils, das ich von seiner Ankündigung, seiner Einberufung bis zur Vollendung in unmittelbarer Nähe miterleben durfte, wurde ich Zeuge, was in diesen Jahren theologisch, kirchlich und ökumenisch in Rom bewegt wurde.

Aber auch diese Jahre verliefen nicht einfach für mich. Die Fragen, die sich in Münster stellten, holten mich in Rom mit voller Wucht ein. Zuerst gab es massive gesundheitliche Probleme, die nach einer asiatischen Grippe, deren hohes Fieber mich in Lebensgefahr brachte, einer plötzlichen Blinddarmoperation und einem unerwarteten Blutsturz zu einem neunmonatigen Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz führten. Aus der heutigen Perspektive weiß ich, dass es eine schwere Zeit der Prüfung war. Mein Lebensentwurf, meine Pläne und meine Zukunft wurden radikal in Frage gestellt. Ich konnte mich nicht mehr auf meine eigenen Kräfte verlassen, um mein Leben aufzubauen, sondern ich musste warten, ob die Krankheit besiegt und die Gesundheit wiederhergestellt wurde. Für mich waren diese Monate geprägt von innerer Einsamkeit, von Alleingelassensein, von vielen, vielen Fragen, die immer wieder darin mündeten, was Gott wohl von mir wolle, ohne eine echte Antwort zu erhalten. Die einzige Antwort, die mich selbst zufrieden stellte, war jene, wenn ich mich - allen Schwierigkeiten zum Trotz - Gott neu zur Verfügung stellte, mich also selbst aus der Hand gab, um den Weg zum Priestertum weiterzugehen, wenn Gott es denn wolle und mir die Gesundheit neu schenkte und wenn die Kirche mich annähme. Wenn ich alles losließ und mich neu anbot, fand ich inneren Frieden. Dann kam der Tag, an dem der Arzt feststellte, dass die Krankheit ausgeheilt war und dass ich, aus ärztlicher Sicht, den Weg zum Priestertum fortsetzen dürfte. Ich entschied mich, wieder nach Rom zu gehen.

Mit Zagen und Zittern kehrte ich ein Jahr später nach Rom zurück, um dort meine Studien fortzusetzen. Und als ob es noch nicht genug gewesen wäre, kam nun eine neue Prüfung auf mich zu, diesmal von innen. Die Frage, die schon so viele Menschen bewegt hat, überfiel mich mit voller Wucht: Gibt es diesen Gott überhaupt, an den wir glauben, dessen Worte wir in der Theologie studieren? Sind die Worte der Bibel, sind die Worte Jesu verlässlich, sicher, echt? Es bedeutete mir schon etwas, dass ich theologisch, philosophisch und rational verantwortbare Antworten fand, aber das Herz blieb unruhig, fragend, unsicher, traurig und zweifelnd. Gerade wenn ich betete, wenn ich die Meditation hielt, wenn ich nach der Kommunion ins Zwiegespräch mit Jesus Christus eintreten wollte, gerade dann setzten die Fragen ein und zerstörten das, was ich gerade tun wollte.

In diesen Monaten erlebte ich, wie wertvoll geistliche Begleitung ist. Ich konnte mich öffnen. Ich konnte mit einem alten Pater, der bei uns Spiritual war, und mit einem zwei Jahre älteren Mitstudenten über meine Fragen sprechen. Ich merkte, dass ich lernen musste, mich auch in meinen Fragen loszulassen und zuzulassen, dass ich den Glauben nicht „machen“ kann. Ich lernte in neuer Weise zu beten, vielleicht stammelnd, vielleicht hoffend, vielleicht auch geduldiger mit mir. Ein Psalmvers begleitete mich durch diese Zeit, er drückte den inneren Schrei aus: „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen?“ (Ps 42,3).

Mir wurde bewusst, dass der Glaube ein existentieller Akt ist, den ich mit ganzem Bewusstsein vollziehen muss - und dass ich genau davor Angst hatte. Mir half dann sehr, dass in einer Vorlesung ausführlich der Glaubensakt behandelt wurde, zu dessen Wesen es gehöre, dass er ein Sprung sei, ein Sprung ins Ungewisse, ein Sprung ins Dunkel. In dieser Vorlesung wurde mir klar, dass eine existentielle Angst Teil des christlichen Glaubensaktes sein kann, dass aber dann, wenn einer den Sprung wagt, und sich mit seiner Angst Gott anvertraut, diese Angst einer neuen Sicherheit und Glaubenskraft weicht und dass dann der Glaube ein neues Sehen Gottes, eine neue Gotteserkenntnis mit sich bringt. Ich muss sagen, dass mich diese Vorlesung bewogen hat, meine eigene existentielle Situation anzunehmen und den Sprung auf Gott hin zu wagen. Später merkte ich dann, dass dieser Sprung auf Gott zu, zugleich auch ein Sprung auf die Menschen zu und auf die Kirche hin ist.

Heute kann ich sagen, dass diese über Jahre hingehende Prüfung mein Herz, meine Seele, ja meine Existenz auf Gott hin öffnete und mir jene Erfahrung schenkte, die es mir dann später möglich machte, ein klares Ja zur Ehelosigkeit und zum Priestertum zu sagen. Auf einem solchen Weg habe ich persönlich gelernt, Gott an die erste Stelle meines Lebens zu setzen und auf seine Liebe mit meinem Sein zu antworten.

Ich hätte nicht gedacht, dass sich nach der Priesterweihe noch weitere Horizonte auftun sollten. Nicht nur die unterschiedlichen Aufgabenbereiche, die mir die Kirche zuwies, haben das bewirkt. Dieser Gott, der mich in meiner Jugend angesprochen und begeistert hat, sprach mich auch weiterhin an und, wie ich es für mich heute formulieren würde, führte mich einfach weiter. Dabei gibt es Höhen und Tiefen, bis heute

Dieses Angesprochenwerden von Gott erlebte ich auch, als ich der Fokolar-Bewegung und deren Charisma der Einheit begegnete. Mitten in den Studien zum Doktorat stieß ich durch eine Vorlesung „über die Evangelischen Räte und die Liebe“ auf eine Form des Christseins, die mich sehr interessierte. Ich lernte Menschen kennen, die etwas ganz Normales taten, das, was allen Christen aufgetragen und geschenkt ist. Was mich erschütterte, war, dass diese Personen Wege suchten, den Glauben intensiv gemeinsam zu leben und heute, mitten im ausgehenden 20. Jahrhundert, Kirche zu sein, ein Ort, wo der auferstandene Christus lebt. Der auferstandene Christus, an den ich natürlich auch vorher geglaubt hatte, kam mir in neuer Weise entgegen. Ich lernte für mich Entscheidendes über die Gegenwart und Nähe Jesu Christi nicht nur in der Eucharistie, sondern ebenso in der Bibel, in der Versammlung der Kirche, im kirchlichen Amt, aber auch im Schmerz, im Leid, im Dunkel des Menschen, ja, was mich besonders ansprach, in jedem Mitmenschen, eben dem Nächsten, der durch diese Gegenwart Jesu mir zum Bruder und zur Schwester wird. Je mehr ich nachfragte und die mir so nicht geläufigen Weisen der Gegenwart Jesu für mein Leben entdeckte, desto mehr verstand ich, dass hier die Menschwerdung Christi, sein Tod am Kreuz und seine Auferstehung in originaler Weise ernst genommen wurden. Viel deutlicher als bisher in meinem Leben wurde mir klar, dass Gott in Jesus Christus auf jeden Menschen mit unendlicher Liebe zugeht, dass das Evangelium in Jesus Christus gerade diese unendliche Liebe Gottes erschließt und schenkt und dass der Mensch berufen ist, auf diese Liebe an seinem Platz, wo er steht, zu antworten. Wer sich von dieser Liebe Gottes in Jesus Christus treffen lässt, bekommt Anteil am Leben Gottes selbst und fängt an, genau das zu tun, was Gott am Herzen liegt. Er fängt an zu lieben und für andere zum Bruder und zur Schwester zu werden.

Ich verstand immer mehr, dass in dieser Spiritualität ein Weg gegeben ist, in unserer Zeit überzeugend Priester zu sein. Heute lebe ich in einer Gruppe von fünf Priestern unterschiedlichen Alters. Jeder arbeitet in einer anderen Stadt. Aber einmal in der Woche kommen wir als Priesterfokolar zusammen, um uns gemeinsam neu vor Gott zu stellen. Wir tun das, indem wir miteinander beten und die Schrift lesen, austauschen und Fragen besprechen, aber auch gemeinsam essen und Erholung suchen. An diesem Tag kann alles zur Sprache kommen, was die Seele bewegt, was in der praktischen Arbeit gerade vor sich geht, aber auch was einem Sorge macht, was einem schwer ist und darüber hinaus, was in der Kirche und in der Welt vor sich geht. An solchen Tagen lerne ich mich verstehen und die anderen, aber auch meine Kirche und die Welt. In diesem Kreis werde ich wie die anderen hinterfragt und korrigiert, finde aber auch Unterstützung und Hilfe. Ich mache dabei die Erfahrung, dass das gemeinsame alltägliche Leben und das immer neue Hinblicken auf das Evangelium mich in die Nähe Christi führt und mich in die Gegenwart des Auferstandenen stellt. Jedes kleine Treffen hat dieses Ziel.

Das einfache Leben nach dem Evangelium, auf das wir Priester uns auf diese Weise eingelassen haben, gibt dann auch der pastoralen Arbeit Schwung und Freude und verbindet uns mit vielen anderen, die nicht Priester sind, aber mit gleichem Engagement für das Reich Gottes ihr Leben einsetzen.

Jeder Mensch, ganz gleich, wo er steht und was er macht, hat diese Berufung, auf Gottes Liebe zu antworten. Ich stehe als Priester mit meiner Berufung neben vielen anderen Menschen, die ebenfalls von diesem Gott berufen sind und ihre Geschichte mit Gott leben. Die Begegnung mit dem Fokolar hat mir neue Möglichkeiten eröffnet, mein Christsein als Priester mit anderen zu leben, die ihrerseits in ihrer Weise berufen sind als Christen zu leben. Dadurch habe ich mich in einer neuen Weise vorgefunden als Bruder unter vielen Brüdern und Schwestern, mitten im Volk Gottes, in jenem Volk, das Gott sich aus allen Völkern, Religionen und Konfessionen beruft. Dies zu bedenken und zu erleben weckt in mir immer wieder die Freude darüber, dass ich als Christ und Priester für Gott und für die Menschen leben darf.

Aus: Wen(n) Gott ruft.... 23 Berufungsgeschichten
Michael Müller (Hrsg), Aachen 1997, Seite 391 f.