Im Fadenkreuz

ZUR DISKUSSION

Eine ganze Reihe von Fällen pädophiler Übergriffe durch Priester erschüttert die katholische Kirche. Die Skandale werfen - wie der Papst sagt – einen dunklen Schatten auf alle Geistlichen. Wilfried Hagemann (63) ist als Regens im Priesterseminar von Münster verantwortlich für den Priesternachwuchs. Er sieht in der Krise die Chance für einen umfassenden Selbstreinigungsprozess.

Der Gründonnerstag gilt in der katholischen Kirche traditionell als Tag der Priester. Die Liturgie dieses Tages richtet den Blick auf eine ganze Reihe von zentralen Aspekten des christlichen Glaubens, insbesondere auf die Einsetzung der Eucharistie und damit – nach katholischem Verständnis – die Begründung des Priesteramts.

Meine Wahrnehmung dieses Festes war in diesem Jahr durch zwei Briefe geprägt. Der eine war das traditionelle Gründonnerstagsschreiben des Papstes an alle Priester. Während jedoch die Schreiben der letzten Jahre oft noch nicht einmal in der kirchlichen Öffentlichkeit ein Echo gefunden haben, war der Papstbrief in diesem Jahr in aller Munde.

Grund dafür war nicht die ausführliche und tiefe Abhandlung des Papstes über den Priester als Spender des Sakraments der Versöhnung. Für öffentliches Aufsehen gesorgt haben vielmehr ganze 13 Zeilen in dem neunseitigen Schreiben, die es jedoch in sich haben. In ungewohnt deutlicher, ja scharfer Form spricht Johannes Paul II. von einigen Mitbrüdern im Priesteramt, die „den schlimmsten Ausformungen des mysterium iniquitatis (der Macht des Bösen) in der Welt nachgegeben haben.“ Die daraus folgenden „schwerwiegenden Skandale“ hätten dazu geführt, dass „ein dunkler Schatten des Verdachts auf alle anderen verdienstvollen Priester fällt, die ihren Dienst ehrlich, konsequent und bisweilen mit heroischer Liebe ausüben.“

Der Papst legte damit den Finger in eine zutiefst schmerzende Wunde, die in den Augen mancher Beobachter die Kirche nachhaltig erschüttert: die in vielen Ländern öffentlich gewordenen Anklagen gegen Priester wegen pädophiler Übergriffe.

Geradezu wohltuend vor diesem Hintergrund war der zweite Brief, der mich in der Karwoche erreichte: Chiara Lubich, die Gründerin und Präsidentin der Fokolar-Bewegung, hatte allen Angehörigen ihrer Bewegung mitgeteilt, wie sie persönlich diese Tage zu leben gedachte. Und zum Gründonnerstag schrieb sie unter Bezugnahme auf den erwähnten Papstbrief: „Dieser Brief wird uns Laien dabei helfen, das große Geschenk des Priestertums immer besser zu begreifen. Den Priestern wird er darin behilflich sein, dieses Geschenk im Dank an Gott noch mehr schätzen zu lernen.“

Beide Briefe, der des Papstes, der insgesamt ein durchaus positives Bild des Priestertums zeichnet, aber eben auch entschieden auf manche Verfehlung hinweist, und die mit großer weiblicher Intuition geschriebenen und hohe Wertschätzung zum Ausdruck bringenden Zeilen von Chiara Lubich spannen meines Erachtens den Bogen über die Problematik, die derzeit die Kirche und die Weltöffentlichkeit so schockiert.

Es geht – um zunächst einmal die Fakten zu betrachten – um den sexuellen Missbrauch von Kindern durch katholische Geistliche. Ganz besonders betroffen ist die katholische Kirche in den USA, aber auch in Frankreich, Irland und Großbritannien sind im Gefolge der ersten Veröffentlichungen solche Fälle bekannt geworden.

In der Kritik sind nicht nur die Täter, sondern ihre Verantwortlichen, also die Bischöfe. Ihnen wirft man zum Teil vor, den Ruf der Kirche und damit den Schutz der Täter höher bewertet zu haben, als den Schutz der Opfer. Eine Reihe von Priestern, deren sexuelle Übergriffe den Vorgesetzten bekannt waren, wurden wohl einfach nur immer wieder versetzt, wenn wieder einmal „etwas vorgefallen war“.

Dass die Fälle pädophil veranlagter, katholischer Priester derzeit gerade in den Vereinigten Staaten gehäuft bekannt werden, hat einen einfachen Grund: Er liegt in den – wie es die Süddeutsche Zeitung formuliert hat – „geldwerten Vorzügen des amerikanischen Justizwesens“, das in den fälligen Zivilprozessen hohe Schadensersatzsummen in Aussicht stellt. Da die US-Anwälte daran prozentual beteiligt werden, ist es verständlich, dass sie besonders eifrig nachforschen.

Dessen ungeachtet gilt: Sexuelle Nötigung und Missbrauch von Kindern ist ein durch nichts zu entschuldigendes Verbrechen. Es verletzt schutzlose Wesen im innersten Kern. Solche Vergehen sind um so schlimmer, wenn sie von Vertrauenspersonen verübt werden. Bei Priestern kommt hinzu, dass sie neben der menschlichen Zuwendung, die sie als Seelsorger aufzubringen haben, auch noch Zeugen der Liebe Gottes sein sollen.

Wie ist – aus Sicht der Kirche – mit solchen Fällen umzugehen? Viele Verantwortungsträger lernen zur Zeit auf schmerzliche Weise, dass Vertuschen und Verheimlichen der falscheste aller Wege ist. Hier hat der Papst mit seinen deutlichen Worten am Gründonnerstag ein klares Signal gesetzt. Und auch der wenige Monate alte päpstliche Erlass, nach dem pädophile Vergehen von Priestern nach Rom gemeldet werden müssen, weist in die gleiche Richtung. Wo sich Priester an Kindern vergehen, ist vor allem anderen das Gespräch mit den Opfern zu suchen. Opferschutz geht vor Täterschutz. Es muss offen gesprochen werden mit den Betroffenen und ihren Familien, aber auch mit der Gemeinde. Und es ist die Pflicht der Kirche, den Einzelnen und der Gemeinde Hilfen für die Aufarbeitung solcher Tragödien anzubieten. Selbstverständlich ist jedes Vergehen auch zur Anzeige zu bringen.

Ein zweiter Punkt ist unabdingbar: Pädophilie ist – im Gegensatz zur Homosexualität - eine krankhafte Störung. Sie bedarf einer Behandlung, auch wenn sich die Experten über die erfolgreiche Therapierbarkeit streiten. In jedem Fall gilt: Ein pädophil veranlagter Priester muss für immer aus der Seelsorge ausscheiden. Es gibt in der Kirche auch andere Einsatzmöglichkeiten, zum Beispiel in Bereichen, in denen ein so veranlagter Mensch nicht mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt kommt.

Die bekannt gewordenen Skandale werfen jedoch auch Fragen hinsichtlich der Auswahl und der Ausbildung der Priesteramtskandidaten auf. In Zeiten, in denen der Priestermangel immer spürbarer wird, müssen wir energisch der Versuchung widerstehen, bei der Auswahl nicht so genau hinzuschauen. Auch hier setzt Rom Signale. Derzeit ist ein vatikanisches Dokument in Vorbereitung, das für Priesteramtsanwärter einen psychologischen Eignungstest vorsieht. Das ist vielerorts nichts Neues. Im Bistum Münster beispielsweise gibt es seit 20 Jahren für Priesteramtskandidaten einen pastoralpsychologischen Kurs von acht Studienwochen, die sich über vier Jahre verteilen. Es geht darin unter anderem um die Arbeit an der eigenen Biographie, um sexuelle Reifung, Konfliktfähigkeit, um das Verhältnis zu Frauen, um die Fähigkeit zu Nähe und Distanz; dazu gehört auch eine regelmäßige Supervision bis in die ersten Priesterjahre hinein. Ähnliche Angebote gibt es im Übrigen auch für andere zölibatäre Lebensformen. Natürlich sind solche Kurse nicht auf die Diagnose sexueller Störungen angelegt. Sie zeigen aber, dass die „Sexualität“ zölibatär lebender Menschen in der Kirche längst kein Tabuthema mehr ist.

Eines ist mir dabei sehr wichtig: Ich halte es für völlig verkehrt, an den Pädophilie-Fällen eine neue Zölibatsdebatte aufzuhängen. Die krankhafte sexuelle Fixierung auf Kinder wird nicht durch den Zölibat ausgelöst und kann andererseits auch nicht durch die „normale“ Sexualität in der Ehe geheilt werden. Die Ehe würde sonst – so der bereits zitierte Artikel in der Süddeutschen – „zu einem Institut der Triebbewältigung herabgestuft, wenn man von ihr die Heilung gestörter Persönlichkeiten erwartet“. Es mag sein, dass pädophil Veranlagte hoffen, ein zölibatäres Leben könne den Durchbruch ihrer Neigung verhindern. Genauso gibt es aber wohl jene, die sich diesen Effekt von einer Ehe erhoffen.

So sehr ich es ablehne, auf Grund der Pädophilie-Fälle eine Diskussion um den Priesterzölibat zu führen, so sehr begrüße ich es, dass diese Krise den dienst und das Leben der Priester ins Blickfeld rückt. Der Schatten, der – wie es der Papst schreibt – auf die Priester fällt, hat dann vielleicht sein Gutes. Im Fadenkreuz der Öffentlichkeit zu stehen, könnte uns Priestern helfen, etwas zu tun, was dringend erforderlich ist: unser Profil zu schärfen oder, wie Chiara Lubich es ausdrücken würde: „das große Geschenk des Priestertums“ sichtbar zu machen.

Wir sollten uns in der Tat fragen, wie es ganz allgemein um unsere Glaubwürdigkeit und unsere Ausstrahlung bestellt ist. Wir stehen im Dienst am Volk Gottes, und dieser Dienst umfasst unser ganzes Leben. Um dem gerecht werden zu können, braucht es unter den Priestern eine verstärkte „Comunio“, also ein Leben in Gemeinschaft. Das kann das gemeinschaftliche Wohnen bedeuten, aber auch die eine oder andere Form praktizierter Gemeinschaft: bei Mahlzeiten, Gebetszeiten, Einkehrtagen oder in der Freizeit. Wir brauchen „Räume“ der Begegnung, in denen wir anderen Einblick in unsere Seele geben können, in denen wir aber auch die Nähe Gottes und die Freude am Evangelium ganz neu für uns erfahren können.

In diesem Zusammenhang spielt sicher auch ein gutes geistliches Einvernehmen mit den hauptamtlichen PastoralreferentInnen und den ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eine wichtige Rolle. Eine größere Sensibilität für ihre Priester ist auch in den Gemeinden nötig, weil diese manchmal sehr hohe zeitliche Ansprüche an die Priester stellen. Es sollte jeder Gemeinde daran gelegen sein, alles daran zu setzen, dass die Priester ihre „priesterliche Existenz“ gut leben können, also sich Zeit und Raum für ihr persönliches geistliches Leben und für die Gemeinschaft mit anderen Priestern nehmen dürfen; dies kommt dann auch der Gemeinde zugute.

Möglicherweise stecken wir als Priester schon mitten in einem Selbstreinigungsprozess, besonders im Hinblick auf unseren Umgang mit Sexualität, Partnerschaft, Dienst am Leben. Dieser Prozess kann der Kirche nur in jeder Hinsicht zu Gute kommen. Vielleicht – so hoffe ich – hat er auch Auswirkungen auf die Gesellschaft, in der und für die wir leben. Dann wäre auch die derzeitige Krise, die wir erleben, ein wahrhaft priesterlicher Dienst.

Aus: Monatsmagazin NEUE STADT, Mai 2002

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