Erwartungen an den Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003

Der jüdische Gelehrte Martin Buber entwickelte kurz nach dem furchtbaren Ersten Weltkrieg eine Philosophie des Dialogs und der Begegnung. Er entdeckte die zentrale Bedeutung der Beziehung zwischen dem Ich und dem Du, eine gegenseitige Beziehung. Dabei fiel ihm auf, welche Kraft aus der Begegnung mit Gott der Beziehung zwischen den Menschen zuwachsen kann. Darum war es für ihn nur konsequent, die ganze hebräische Bibel neu ins Deutsche zu übersetzen. Beim Besuch eines guten Freundes ging ihm die absolute unverfügbare und doch immer neu sich schenkende Nähe des Gottesnamens auf. In seiner unnachahmlichen Weise berichtet er, wie er beim Besuch eines Freundes schon früh morgens vor dem Frühstück in der Bibel liest und wie sein Freund ihn dabei überrascht. Als dieser dann bemerkt, dass es sich nicht lohne in der Bibel zu lesen, weil die Menschen doch den Namen Gottes besudelt hätten, lässt sich Buber auf dessen Frage ein. Dann antwortet er mit Leidenschaft, dass wir Menschen auf Gott nicht verzichten können, weil wir ihn brauchen. Der Name Gottes müsse neu ins Licht gehoben werden.

Diese Geschichte vom besudelten Namen Gottes, dessen Name aber dennoch immer neu ans Licht gehoben werden muss, ist auch heute hoch aktuell. Wir Christen, ganz gleich ob katholisch oder evangelisch oder auch orthodox, haben tatsächlich den Namen Gottes besudelt. Wir haben ihn nicht nur in der Vergangenheit verraten, wir tun es auch heute. Ich denke an die Schoah, in der vor den Augen von Christinnen und Christen in Deutschland jüdische Mitbürger aus unseren Städten vertrieben und in die Vernichtung verbracht wurden. Ich denke an die schrecklichen Gräuel, die sich Katholiken und Protestanten während des 30-jährigen Krieges gegenseitig angetan haben. Ich denke auch an die furchtbaren Nachrichten unserer Tage, angefangen von Priestern, die Kinder missbraucht haben, bis hin zu der Tatsache, dass wir auch in unserem Land immer neu zu „unserer“ Tagesordnung übergehen. Dabei übersehen wir das ungeheure Leid von Menschen im aidsverseuchten Afrika oder in vom Hunger bedrohten Ländern Asiens und Lateinamerikas, wo Hunderte von Millionen unter dem Existenzminimum leben müssen. Wir sind oft abgstumpft, so dass wir dieses einfach nicht mehr in den Blick nehmen. Schauen wir nicht auch oft weg, wenn Menschen in Deutschland bitteres Unrecht und bittere Not lei¬den? Alleinerziehende, Frauen, die ein Kind er¬warten und zur Abtreibung gedrängt werden, Familien mit behinderten Kindern, Ausländer, die keine Arbeit bekommen und doch bei uns wohnen und immer wieder Diskriminierung erleiden müssen – sind diese Menschen im Blick? Treten wir für sie ein – immer neu und öffentlich? Besudelt dies alles nicht auch heute den Namen Gottes? Wie können wir in unserer Welt und in unserer Gesellschaft Gott den Barmherzigen und Allmächtigen neu ins Licht heben?

Genau für diese Aufgabe, Gott ans Licht zu heben in unserer Gesellschaft und in unserer Welt kann meines Erachtens der Ökumenische Kirchentag von Berlin einen wichtigen Beitrag leisten.

Ich erwarte mir vom Kirchentag, dass wir als katholische und evangelische Christen, gemeinsam Buße tun und den Schuldzusammenhang nicht verleugnen, sondern bekennen, in dem wir stehen.

Weiterhin wünsche ich mir, dass wir auf dem Ökumenischen Kirchentag miteinander neu lernen, von Gott zu sprechen, dem Vater Jesu Christi.

Ich wünsche mir, dass wir den Faden der Verkündigung Jesu in unserem Land neu aufnehmen und die Menschen mit der Botschaft, die dieser Jesus so faszinierend und anziehend bezeugt hat, neu vertraut machen.

Ich hoffe, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Kirchentages einer neuen christlichen Dynamik begegnen, die die eigene persönliche Erfahrung mit dem Gott und Vater Jesu Christi freisetzt und mitteilbar macht. Je mehr Menschen lernen, von Gott zu sprechen, desto eher kann verhindert werden, den Mitbürgern in unserem Land den Gott und Vater Jesu Christi vorzuenthalten. Wir dürfen unsere Mitmenschen nicht um Gott betrügen.

Ich erwarte mir vom Ökumenischen Kirchentag darüber hinaus einen echten dialogischen Schub. Wir können nicht großsprecherisch, wie manche Wahlkämpfer, daherkommen und triumphalistisch von Gott reden. Leise Töne sind gefragt. Wer von Gott heute neu reden will, braucht eine neue Glaubwürdigkeit, die aus Bescheidenheit, aus Bußfertigkeit und aus dem Bewusstsein für das persönliche Versagen und die eigene Angewiesenheit auf die Barmherzigkeit erwachsen wird. Es braucht nicht nur das Zeugnis von Gott, es braucht auch Menschen, die diesen Gott glaubwürdig bezeugen können. Zur Glaubwürdigkeit gehört nicht nur eine neue Sprache und eine neue Bescheidenheit, zur Glaubwürdigkeit gehört heute auch das gemeinsame Zeugnis von Christen.

Ich erwarte mir vom Ökumenischen Kirchentag, dass Katholiken, Protestanten und Orthodoxe sich noch tiefer im Glauben als Brüder und Schwestern erkennen. Wir dürfen uns nicht lassen. Die vielen Fragen und Forderungen um das Thema Abendmahlsgemeinschaft und Kommuniongemeinschaft haben Verletzungen hervorgerufen, die deutlich noch nachwirken. Es kommt alles darauf an, dass Christen aller Konfessionen sich neu in den Blick nehmen und neu aufeinander zugehen. Sie müssen auch lernen, das Denken des Anderen und dessen Position, so unverständlich sie vielleicht auch sein mag, ernst zu nehmen. Den Auseinandersetzungen im Weltrat der Kirchen, die das Verhältnis zwischen Protestanten und Orthodoxen besonders stark belasten, entsprechen die Probleme um die unierten Kirchen und um die neu errichteten katholischen Diözesen in Russland, was das katholisch-orthodoxe Verhältnis immer noch stört.

Ich erwarte mir vom gemeinsamen Kirchentag, dass die Begegnung mit dem Evangelium uns neu füreinander aufschließt und geduldiger miteinander werden lässt. Das Evangelium Jesu Christi muss auch zwischen den Kirchen gelebt werden. Dann kann das Hauptgebot der Liebe, wie es Jesus so eindringlich und unverwechselbar formuliert, zwischen den Kirchen wirksam seine Kräfte entfalten. Wenn zwischen den Kirchen und ihren Gliedern die Liebe wächst, kann es passieren, dass wir tatsächlich gemeinsam den lebendigen Christus heute bezeugen können.

Zum gemeinsamen Zeugnis muss noch ein Drittes hinzukommen. In unserer multikulturellen Gesellschaft können wir als Christinnen und Christen nur glaubwürdig von Gott sprechen, wenn wir auch den Dialog mit den Weltreligionen suchen, hier besonders mit dem Judentum und mit dem Islam. Dabei brauchen wir keineswegs die Unterschiede zu leugnen, die auch weiterhin bestehen und bestehen werden. Dennoch gilt es, eine Sensibilität für den lebendigen und einen Gott gemeinsam zu entwickeln. Hier können die Kirchen Vorreiter für den Frieden in unserer Zivilgesellschaft und in der Welt werden.

Ich erwarte mir von diesem Ökumenischen Kirchentag, dass er die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zutiefst angeregt und befähigt, in einen solchen Dialog einzutreten. Dieses christliche Großereignis kann eine neue Leidenschaft für den Menschen und für Gott auslösen. Dann werden Christinnen und Christen zum Segen für dieses Land, weil sie gemeinsam ihre große Hoffnung bezeugen, wie es schon der Erste Petrusbrief tut: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: Er hat uns in seinem großen Erbarmen neu geboren, damit wir durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten eine lebendige Hoffnung haben“ (1 Petr 1,3-4)

Aus: Salzkörner, ZdK, 2002

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