Editorial 1_2015

Der verborgene Gott

Für viele Menschen in unserer Gesellschaft ist Gott nicht mehr greifbar, nicht fassbar, trotz religiöser Riten und täglicher Vollzüge. Viele in der jüngeren Generation meinen, diesem Gott noch nie begegnet zu sein. Die Frage nach Gott ist für sie kein Thema. Das Hoffnungspotenzial des Glaubens wurde ihnen nicht erschlossen. Dieses Prisma-Heft ist eine Spurensuche und eine Verheißung. Was weckt in Menschen heute die Frage nach Gott? Wie gelingt es, heute Gott zu erfahren? Es geht um den Gott, dessen Größe sich erst erschließt, wenn sich der Mensch auf seine Verborgenheit einlässt. Dieser Gott, so glauben wir Christen, ist mitten unter uns präsent. In dieser Erfahrung meldet sich Gott nicht direkt. Die Beziehung zu ihm läuft über Zeugen. Verschiedene Menschen legen in dieser Ausgabe frei, dass dieser unbekannte Gott ihr Leben berührte und in ihr Leben eintrat.

Der frühere, verstorbene Bischof von Aachen, Klaus Hemmerle zeigt in einem kurzen Text auf, dass der innere Anfang des Glaubens bei Gott selbst liegt, bei ihm, der den Menschen unterfängt, ja aushält. Ein solcher radikaler Glaube ist wie ein Nadelöhr, durch das die Hoffnung beim Menschen eingefädelt wird.

Der Augsburger Alttestamentler, Prof. Dr. Franz Sedlmeier, nimmt die Leserinnen und Leser mit in die im Buch Exodus überlieferte Gotteserfahrung des Mose (Ex 3f.). Plötzlich und unerwartet kann Gott einbrechen in menschliches Leben, kann der Alltag mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Brüchen und Rissen zum heiligen Boden werden, auf dem der „Ich-bin-da“ (Ex 3,14) gegenwärtig wird und in seine Gegenwart ruft. Es bleiben Spuren – Spuren einer Begegnung, die vom Leben erzählen und in die Zukunft weisen.

Magister Franz Kronreif, Architekt, Theologe und Fokolar, hat sich über Jahrzehnte hin auf den Weg gemacht zu Menschen hin, die einer religiösen Erfahrung fremd gegenüberstehen und ihr nichts abgewinnen können. Sein Beitrag zeigt, wieviel der glaubende Mensch von „religionsfreien“ Menschen lernen kann und wie der neutestamentliche Topos der Verlassenheit Jesu einen neuen Zugang zum Glauben und Nicht-Glauben(!) freilegt.

Wolfgang Bader, langjähriger Chef- Lektor des Verlags Neue Stadt, zeichnet nach, wie Paul Klee – als Maler des „Horchens“ – in Bescheidenheit, Demut und Wartenkönnen eine verborgene Nähe Gottes langsam erspürt, die, gerade in seinen späteren Bildern, immer mehr zum Vorschein kommt.

In Dietrich Bonhoeffer, dessen Hinrichtung 1945 in Flossenbürg gerade 70 Jahre zurückliegt, begegnen wir einem Christen, der mit Leidenschaft mitten in der Welt, in einer ihm besonders eigenen Diesseitigkeit und Weltbeziehung lebte. Der Theologe und Prisma-Redakteur Bernd Aretz arbeitet heraus, wie gerade die Begegnung mit dem ohnmächtigen Gott falsche Gottesvorstellungen aufbricht und zu einem neuen Stehen vor der Unbegreiflichkeit Gottes einlädt.

Der Schweizer Liturgiewissenschaftler Josef-Anton Willa schaut mit neuer Perspektive auf den liturgischen Raum als einem echten Ort der Gotteserfahrung. Er spricht von einer „Ritendiakonie“, die dem Menschen in existenzieller Not eine Perspektive der Gegenwart Gottes ermöglicht. Als Folie für diese Sichtweise der Liturgie nimmt Willa jene Legende, die erzählt, wie die Abgesandten des Kiewer Fürsten Vladimir in der großen Kirche von Konstantinopel, der Hagia Sophia, in der Schönheit der Göttlichen Liturgie die verborgene Gegenwart Gottes erkannten.

Kostbar sind die sich anschließenden Berichte aus dem Leben. Der Erfurter Pfarrer Marcellus Klaus ruft die durch die Stasi und ihre Bespitzelung verursachte menschenverachtende Atmosphäre seiner Jugendzeit in Erinnerung. Die bei einer Pfarrerfortbildung erlebte Versöhnung eines Opfers mit dem Täter bringt ihm mitten in der Welt die Nähe Gottes zu Bewusstsein.

Der Berliner Literaturwissenschaftler und Journalist Peter Lichtenberg beschreibt die Suche einer Frau, die von ihrer Freiheit Gebrauch macht und sich zunächst bewusst gegen Gott entscheidet, wie diese weitersucht und ringt. Schließlich schenkt ihr ein altes Gebet den Durchbruch zu einer persönlichen Gotteserfahrung. In radikaler Weise schenkt sie Gott ihr Leben.

Eine ebenfalls anonym bleibende Frau gewährt einen Einblick in ihre Ehe mit einem Nichtglaubenden. In innerer Diaspora zu leben, in einer Familie mit Mann und vier Kindern, denen die Religion nur Spott entlockt, gelingt es ihr, Respekt für ihr Leben als Christin zu bekommen, immer tiefer in diese Ehe und gerade so in ihren Glauben hineinzuwachsen. Diese Ehe wird für sie zum heiligen Boden.

Der gerade pensionierte Pfarrer Otmar Scherrer geriet als junger Theologiestudent durch das Studium in ein schmerzhaftes und verwirrendes Dunkel, in Zweifel und Ratlosigkeit. Auch das in jugendlichem Eifer Gott gestellte Ultimatum führte nicht weiter. Die Wende kommt in einer guten Begegnung mit Freunden, durch die er einen Raum betreten konnte, in dem er die Gemeinschaft mit Gott neu findet.

Mein persönlicher Beitrag in diesem Heft schildert meinen eigenen Weg, der von einer quasi absoluten Aporie des Nichtverstehens zu einer inneren Wahrnehmung jenes Lichtes führt, in dem der unbekannte Gott gefunden werden kann. Dass erfahrenes Dunkel und Nichtverstehen den persönlichen Glauben freisetzen kann, wenn man sich der inneren Leere stellt und sie mit anderen lebt, war das Kostbare an dieser Erfahrung.

Wilfried Hagemann

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