Kirche und Gemeinschaft - die theologischen Grundlagen

1. Konkrete Erfahrungen von Kirche und Gemeinschaft (église-communion)

Ich habe mich gefragt, wo ich Kirche als Gemeinschaft erfahren habe. Ich möchte dies an vier Beispielen exemplifizieren.

Die Beispiele zeigen mir einige der Grundlagen, von denen aus wir die Kirche als Gemeinschaft bezeichnen können.

2. Kirche – was ist das?

Das Wort Kirche hängt mit Jesus Christus zusammen. Kirche kommt von dem griechischen Wort "kyrios" und bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die auf den Kyrios Jesus Christus ausgerichtet sind. Im Hintergrund steht die Tatsache, dass der auferstangene Christus Menschen, auch die Apostel, neu gesammelt und versammelt hat. Kirche, das sind Menschen, die auf den Herrn ausgerichtet sind, es ist eine "Herren-Versammlung". Dahinter stehen die beiden griechischen Worte „ekklesia" und "kyriake“. Die Wirklichkeit von Kirche spiegelt sich auch in den Worten bei Mt 28,20: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ oder in dem schon erwähnten Wort aus dem Mt 18,20: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, dann bin ich mitten unter ihnen“. Die Kirche ist eine Gemeinschaft, in deren Mitte Jesus Christus steht. Dieser Christus ist auferstanden, er ist voller Energie und Liebe, er ist nicht untätig unter uns, sondern er verwandelt diese Gruppe und haucht ihr sein eigenes göttliches Leben ein. Die erste Wirkung des göttlichen Lebens in dieser Gruppe von Kirche ist das Erlebnis der Geschwisterlichkeit. Wir erfahren, dass wir zusammengehören, dass wir Bruder und Schwester sind, dass wir Geschwister sind, weil wir nur einen Vater haben, weil wir eben von Gott herkommen. Diese Geschwisterlichkeit ist grundsätzlich offen auf jeden Menschen hin. Und das führt immer wieder zu einem Dialog, zur Nächstenliebe, zur karitativen und sozialen Tat. Fast von selbst verändert sich um aufrichtige Christen herum das Klima, das Ambiente, die Menschen. So wird eine kleine Kirche erlebt, die neue Gemeinschaft stiftet. Johannes Paul II. sprach ganz ausdrücklich davon, dass die Kirche eine Schule der Gemeinschaft sein soll. In seinem Schreiben „Novo millenio ineunte“ beschreibt er in großartiger Weise die einzelnen Fassetten dieser Art von Gemeinschaft, die unsere Mitmenschen in der Kirche lernen und aufnehmen können:

"Die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen, darin liegt die große Herausforderung, die in dem beginnenden Jahrtausend vor uns steht, wenn wir dem Plan Gottes treu sein und auch den tiefgreifenden Erwartungen der Welt entsprechen wollen. Was bedeutet das konkret? Auch hier könnte die Rede sofort praktisch werden, doch es wäre falsch, einem solchen Anstoß nachzugeben. Vor der Planung konkreter Initiativen gilt es, eine Spiritualität der Gemeinschaft zu fördern, indem man sie überall dort als Erziehungsprinzip herausstellt, wo man den Menschen und Christen formt, wo man die geweihten Amtsträger, die Ordensleute und die Mitarbeiter in der Seelsorge ausbildet, wo man die Familien und Gemeinden aufbaut. Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet vor allem, den Blick des Herzens auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu lenken, das in uns wohnt und dessen Licht auch auf dem Angesicht der Brüder und Schwestern neben uns wahrgenommen werden muss. Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet zudem die Fähigkeit, den Bruder und die Schwester im Glauben in der tiefen Einheit des mystischen Leibes zu erkennen, d. h. es geht um „einen, der zu mir gehört“, damit ich seine Freuden und seine Leiden teilen, seine Wünsche erahnen und mich seiner Bedürfnisse annehmen und ihm schließlich echte, tiefe Freundschaft anbieten kann. Spiritualität der Gemeinschaft ist auch die Fähigkeit, vor allem das Positive im anderen zu sehen, um es als Gottesgeschenk anzunehmen und zu schätzen: nicht nur ein Geschenk für den anderen, der es direkt empfangen hat, sondern auch ein „Geschenk für mich“. Spiritualität der Gemeinschaft heißt schließlich, dem Bruder „Platz machen“ können, indem „einer des anderen Last trägt“ (Gal 6,2) und den egoistischen Versuchungen widersteht, die uns dauernd bedrohen und Rivalität, Karrierismus, Misstrauen und Eifersüchteleien erzeugen. Machen wir uns keine Illusionen: Ohne diesen geistlichen Weg würden die äußeren Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden zu seelenlosen Apparaten werden, eher Masken der Gemeinschaft als Möglichkeiten, dass diese sich ausdrücken und wachsen kann."

3. Die unterschiedlichen Ebenen von Gemeinschaft in der Kirche

Theologisch möchte ich bei dem Stichwort Gemeinschaft mehrere Ebenen unterscheiden.

Die Ebene 1 ist die Gemeinschaft in Gott selbst. Wir Christen glauben an den einen Gott in drei Personen. Diese göttlichen Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist, sind in tiefster Weise aufeinander bezogen, so dass man sagen kann, die eine göttliche Person ist für die andere ganz da und umgekehrt. Der Vater liebt den Sohn, der Sohn liebt den Vater und aus dieser gegenseitigen Liebe entspringt als Frucht der Heilige Geist. Die Beziehungen in Gott sind Beziehungen des Gebens, des Empfangenes und des Schenkens. Mit diesen drei Worten könnte man die Person des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes beschreiben. Durch den Geist Gottes entspringt diese Gemeinschaft, die wir in Gott finden, auf die Menschen über. Dies geschieht in der Menschwerdung Jesu Christi.

Die Menschwerdung Jesus, Jesus, der Sohn Gottes, das ist die Ebene 2 der kirchlichen Gemeinschaft. In Jesus sehen wir fast buchstäblich seine Beziehung zum Vater, sein immer neues Sich-Empfangen vom Vater, bis zu seiner Verlassenheit am Kreuz in seinem Tod. Die Ebene 2 dieser Gemeinschaft reicht bis in das Nichts, bis in die tiefsten Tiefen des Menschseins, bis in den Schmerz. Von dieser zweiten Ebene der Gemeinschaft führt ein direkter Weg zur Ebene 3: Das sind die Jünger, die Apostel, die Christen, die Jesus der Auferstandene durch seinen Tod und nach seinem Tod gesammelt hat. In dieser Ebene 3 gibt es eine Gemeinschaft von Menschen, in deren Mitte der Auferstandene lebt. In dieser Tiefe dürfen wir Kirche und Gemeinschaft verstehen. Sie ist geprägt von einem inneren Feuer, von einer abgrundtiefen Liebe, die von Gott her in die Mitte von Menschen strömt.

Wo diese Liebe echt gelebt wird, entwickelt sich die Ebene 4, es ist die Ebene des Dialogs, des Sauerteigs und der Freundschaft. So entwickelt sich aus der Kirche heraus eine Tür, ein Tor, das offen ist für jeden Menschen, der eintreten würde. Diesem Dialog kommt heute eine ungeheure Bedeutung zu.

4. Die Kirche - eine Gemeinschaft, die offen ist für alle

Dieser Dialog ist mehr als reines Sprechen. Er ist Begegnung, er meint ein grundsätzliches füreinander Dasein, er teilt selbst das Innerste Gottes (Joh 17,10) mit und empfängt vom Anderen ebenfalls das Innerste. So können wir auch mit Nicht-Glaubenden in ein positives Gespräch eintreten, weil auch die Nicht-Glaubenden uns sehr viel zu geben haben. Kirche, die Gemeinschaft ist, wird in diesen vier Ebenen ihr theologisches Fundament und ihren Auftrag offenlegen. Von daher arbeitet die Kirche immer in mehrere Richtungen. Sie beginnt zunächst damit, unter den Christen selbst, untereinander, ein Klima tiefer Einheit zu schaffen. Dabei geht es darum, sich gegenseitig anzunehmen, wenn nötig einander zu verzeihen und so zu einer neuen offenen Liebe zum Nächsten zu finden, die dem Anderen einfach gut sein will. Dieses Klima tiefer Einheit kann nur aufrechterhalten werden, wenn die Christen ihre Verbindung mit Jesus finden. Auch daran arbeitet die Kirche durch die Feier der Liturgie, aber auch durch die Verkündigung des Wortes und indem sie die Menschen auffordert, ihres eigenes Kreuz zu tragen, so dass sie neu empfänglich werden für den gekreuzigten und auferstandenen Herrn.

Ein Religionslehrer aus Süddeutschland, den ich bei einer Kur kennen lernte, hat dies in einer sehr entscheidenden Weise verstanden und begriffen. Er war tätig an einer Sonderschule für Menschen mit minderer Begabung. In den Pausen, auf dem Pausenhof kam es oft zu äußerst aggressiven Handlungen unter den Schülern und Schülerinnen. Oftmals musste die Polizei geholt werden und auf diesem Schulhof eingreifen. Eines Tages sprach dieser katholische Lehrer seine evangelische Kollegin an und fragte sie, wie sie zu ihrem Glauben stünde. Es ist entwickelte sich schnell ein fruchtbares Gespräch, an dessen Ende ein Pakt stand. Sie hatten auch ein konkretes Ergebnis, nämlich sich gemeinsam jeden Tag zu treffen, damit Jesus unter ihnen sei, wie es in Mt 18,20 verheißen ist. Bei den kurzen Gebeten, die die beiden am Beginn eines Schultages sprachen, entwickelte sich schnell die Erkenntnis, dass sie sich in der großen Pause auf dem Schulhof aufhalten sollten, auch wenn sie keine Aufsicht hätten. Immer wenn sich ein Streit anbahnte, waren sie zur Stelle und halfen den Schülern, den Konflikt ohne Gewalt auszutragen. Je länger sie so auf dem Schulhof ausharrten, desto mehr fanden sie das Vertrauen der Schüler und Schülerinnen und so geschah das Besondere, dass sich die gelebte Gegenwart Jesu Christie positiv für die Schule auswirken konnte. Am Ende des betreffenden Schuljahres stellte der Rektor der Schule fest, dass sie in keinem einzigen Fall die Polizei hätten rufen müssen. Er kenne die Ursache nicht, aber er wollte positiv vermerken, dass in der Schule ein Wandel stattgefunden hätte. Meine beiden Freunde verrieten nicht, dass sie ursächlich daran beteiligt waren. Aber sie freuten sich, dass ihr Pakt eine soziale positive Auswirkung auf die Schule hatte. Wo Christen bewusst Gemeinschaft leben miteinander und auf Jesus Christus hin, da ereignet sich Kirche schon im Alltag, schon im Beruf, schon dort, wo die Menschen leben.

Es gibt geistliche Gemeinschaften, die ein solches Leben ganz bewusst bei ihren Mitgliedern ausprägen wollen Ich denke an die Gemeinschaft St. Egidio, die ihre Mitglieder jeden Tag zu einem kurzen Gebet in Rom und anderswo zum Gottesdienst versammeln und dann diese Personen bittet, sich jeweils eines einzelnen Armen anzunehmen. Gebet und Dasein für die Armen charakterisiert diese Gemeinschaft. Anders, aber im gleichen christlichen Geist, arbeitet die Bewegung der Fokolare. Sie trainiert Christen und Christinnen, so aus dem Wort Gottes zu leben, dass das göttliche Wort der Bibel sie von innen her gleichsam sammelt und öffnet. Wo Menschen dieses gemeinsam an sich geschehen lassen, ja sich darin gegenseitig unterstützen, machen sie die Erfahrung und lernen sie, dass sich unter ihnen eine spezifische Gegenwart Jesu schenken und entwickeln wird. In der Gemeinschaft der Fokolare lernen die Christen und Christinnen, die Gemeinschaft mit Jesus Christus und untereinander zu lieben. Deren „wichtiges Arbeitsmittel“ ist für sie das Wort Gottes, die häufige Mitfeier der Eucharistie, auch unter der Woche, und regelmäßige Treffen im kleinen Kreis, wo man sich über die Erfahrung mit Gott und über die Erfahrung mit der Geschwisterlichkeit austauscht und hilft.

Genau in diese Kirche-Gemeinschaft möchte das II. Vatikanische Konzil die Kirche von heute führen. Darum schließe ich mit zwei kleinen Sätzen aus dessen Konstitution über die Kirche

„Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit (LG 1)“.

„So erscheint die ganze Kirche als „das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk“ (LG 4)“.

Vortrag beim Gemeinschaftstag der Gemeinde Notre Dame in Paris-Malakoff, Januar 2008

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